Gibt es etwas Schöneres als einen Morgen?


Ein kurzer, aber konzentrierter Schlaf wird beendet, man muss mal. Soll man deshalb böse sein, auf wen? Ach einfach raus aus dem kuscheligen Warm. Nach der Brille gelangt – wie spät ist es jetzt?
Es dämmert, naja im Sommer mag es noch vor sechse sein, im Herbst halten Wolken die Sonne zurück, die sich im Winter erlaubt, sich schleppend aus ihrem Nest zu schieben. Nur im Frühjahr, da überrascht der Morgen mit immer freundlicher und früher aufgestecktem Licht.

Vergiss die Uhr, nach dem Gefühl ist es eigentlich noch recht früh, aber du bist munter. Verrichte das Dringende und putze dir die Zähne – für’s erste reicht’s. Du schleichst durch die Räume, unschlüssig, irgendetwas in Gang zu setzen. Wärst du in Ingolstadt, dann brauchst du nur zu warten auf St.Johann mit seinem Sechsuhr-Läuten. Oder hast Du, weil Winter und die Fenster geschlossen, dem sein dummes Gebimmel überhört?

Du verfällst in Melancholie. Wie viele schöne Morgen hast Du erlebt, genießen können?! Nicht jeder Morgen ist bemerkenswert, zumal ja da und dort oder fast ständig irgendeine „Pflicht“ zwingt, in die Puschen zu kommen und sich nicht an Nebensächlichkeiten zu vergehen. Aber es gibt eben solche Morgen, die Du einrahmen kannst.

1936 im Herbst. Wir waren aus Schöneweide umgezogen hinaus nach Eichwalde. Bis ins Dunkle hatten die Ziehleute mit ihren blauweißgestreiften Hemden und den blauen Schürzen alles aus dem Möbelwagen in das Haus geschleppt. Zum Installieren der Lampen hatte die Zeit nicht mehr gereicht, also ging es bei schwachem Kerzenlicht auf die auf dem Boden ausgebreiteten Matratzen. Schnell trat Ruhe ein. Aber dann, am frühen Morgen kam Unruhe auf, Neugierde, hinaus und sehen, wo der neue Tag da beginnt.
Ich tapste vorsichtig aus der „neu gewonnenen“ Veranda in den „neu zu vereinnahmenden“ Garten.
Die Sonne kam so sachte schräg von unten herauf, warf an allem Kräftigen lange Schatten auf die Erde und gegen die sich dem Licht entgegenstellenden Körper. Tau hatte sich verhangen an Schachtelhalm und Hirtentäscheln und an den Kannten der Blätter des Wegerichs. Spinngewebe waren ebenso Fänger von Tautropfen. Ein leichtes Dampfen lag über dem Garten. Sachte, kaum merklich schob sich die Sonne hoch und machte die Schatten kürzer und kleiner.

1941 im Sommer. Unser Handwagen durfte mit als Trossknecht zum Springsee südöstlich von Berlin. Er bugsierte die Tornister und Affen der Jungenschaft. Ein Zeltlager sollte aufgebaut werden. Wir sollten da nach der Pimpfen-Probe ins Jungvolk aufgenommen werden. Zuerst einmal musste man sich an das Zusammenkampieren gewöhnen. Und morgens raus in Turnhose, sonst frei. Bewegung. Wir liefen barfuß durch den Märkischen Sand. Über den See kam das neue Sonnenlicht zu uns herüber. Wir waren gespannt, was dieser Morgen uns bringt. Sonne und nochmals Sonne gleich Sonnenbrand.

1945 im Herbst. Wir siedelten von Ost nach West. Der Brite hatte uns mit Militärfahrzeugen durch die Zone bis hinter Helmstedt gekarrt. Und nun waren wir mit dem Zug weiter unterwegs in Richtung Westen. Seit Wunstorf hockten wir auf den Benzinkanistern auf einem Offenen Güterwagen. Der Fahrtwind verlor und hinter uns an Kraft, ließ die Kohle- und Rußbrocken auf uns niederfallen. Der Abend schickte sich an, alles in Dunkel einzuhüllen. Porta Westfalica – da hatte ich im Geographie-Unterricht mal aufgepasst – im Abendrot. Kannst du dir vorstellen, was wir erlebten? Links und rechts kamen die Höhen des Weserberglandes näher und näher, nur der Keil dazwischen, wo die Weser dahinfloss, war in ein blutiges Rot getaucht. Mein Hunger trat in den Hintergrund.
Wir waren weit weg am nächsten Morgen von diesem Spektakel. In der Nacht mussten wir in Hamm den Zug wechseln, fanden in einem Belgischen Packwagen Raum genug zum Mitfahren. Eine Aachener Familie empfing uns mit einem Hallo in ihrem, später von uns besser verstandenen Dialekt.
Es war noch stockdunkel, nein es war obendrein auch noch nebelig. Plötzlich wurde der Gleichklang der über die Schienenstöße rollenden Stahlreifen unterbrochen. Ich, der sich zur Absicherung des Familiengepäcks auf dieses Stapel gelegt hatte, wurde mit dem Schädel an die Stirnwand des Wagens geschossen, der Lok hielt ruckartig, die Wagen waren nur lose angekoppelt, und eine Welle des Aufeinanderrollens der Wagen pflanzte sich von Lok bis zum Zugende fort. Ich sah „Noris“, ich sah Sterne.
Wir sollten raus aus dem Zug. Die Geschwister waren herunter geklettert oder gelassen worden. Nur Mutter und ich waren noch mit dem Gepäck im Wagen. Da fuhr der Zug weiter, nicht schnell, aber eben wo sollte das denn enden?! Geschrei, was half’s?! Eine Laterne tauchte aus dem Dunkel auf, schlurfend zwischen den Gleisen kam einer vom Zugpersonal heran, tröstete, beruhigte uns „Nur eine Zuglänge vorziehen“. Und dann waren wir draußen, in der feuchten, gräulich wabernden Nebelluft. Die Kinder und die Aachener kamen heran, wir schleppten uns weiter zum Bahnhof Essen-Altenessen. Wir standen auf dem Bahnsteig, nicht alleine, vermummte Männer, Kumpel wollten mit dem nächsten Zug zur Arbeit fahren. Es begann zu dämmern. Was ein Morgen!

1983 Im Reichswald. Ich wohnte in Uedem in einem Hotel. Für die Vermessung eines im Reichswald auf einem Turm stehenden Radargerätes, hatte ich im Hotel Quartier bezogen. Ich musste morgens noch vor Sonnenaufgang hinaus zum Turm. Da konnte ich nicht auf das Frühstück warten – man legte mir die Stullen in die Kühlabteilung der Theke, wie nett. Ich ging durch den Schankraum, schnappte mir mein Frühstück und setzte mich mit dem Auto in Marsch. Hinaus ging es durch die verschlafenen Straßen. Die Forstwege nahmen mich nach dem Passieren von schwer tragenden Feldern auf, die Scheinwerfer bildeten mit ihrem Licht einen Tunnel voraus. Ich fuhr langsam, ich wollte niemandem die Vorfahrt zum Frühstück wegnehmen. Ich erreichte das eingezäunte Geviert auf dem um den Turm herum gesetzte Gebäude im Dunkel lagen. Nur der Zaun war beleuchtet. Am Tor ließ man mich und mein Gefährt hinein. Die Stimmen noch verhalten, man war noch nicht ganz wach. Ich erreichte den Aufzug im Turm, aufwärts ging es.
„Guten Morgen“ - „Guten Morgen, Herr Hauptmann. Wollen Sie auch einen Kaffee?“ - Ich war oben angekommen. Der Rechner wurde angekoppelt, das Spiel zwischen Sender/Empfänger begann, Daten baten um Eintritt in den Rechner. Die Startzeit, dann, wenn die Sonne genau am Horizont aufgeht, war vorberechnet worden. Die Radarantenne drehte und drehte sich um ihre Achse und …
Wir warteten auf die ersten Blips, auf den ersten Beep, wenn das Sonnenrauschen gemessen und akzeptiert wurde. Und dann hatten wir zwei Stunden Zeit, mit jeder Umdrehung kamen wieder neue, brauchbare Echos in den Rechner. Was blieb? – „Habt Ihr noch’n Kaffee für mich?“ Wir traten hinaus auf den Catwalk, blickten gen Ost hinüber, wo nun echt die Sonne aufgegangen ist. Und das Wetter?

Es war herrlich so über den morgendlichen Reichswald – ohne Wolken – schauen zu können.
Wieder ein schöner Morgen! Wieder ein Morgen, egal wo, sei es im Hunsrück oder in Ost- oder Nordfriesland – schöne Morgen!

Solche Morgenlichter fand ich so oft. Immer wieder der hoffnungsvolle Blick in den Morgen. Und abends, wenn ich zwei Stunden vor dem Sonnenuntergang gen Westen empfangen ließ, das Ganze abkoppelte und Soll und Haben statistisch auswertete, über zwei Wochen lang, um dann sagen zu können, was der Antenne Gutes anzugedeihen hat.

Mich hat es nicht gestört, dass ich noch bis in die Nacht beschäftigt war, so also nur mit einem komprimierten Schlaf zum neuerlichen Morgen wechselte. Geblieben ist mir von alledem das konzentrierte Schlafen und das melancholische Gefühl, wieder einen, irgendeinen Morgen zu erleben.
Guten Morgen!

ortwin

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Kommentare (1)

Traute Du hast ein interessantes Leben geführt, schön wenn Du immer wieder in Gedanken zurückblickst.
Es ist ja unsere Schaffenskraft die wir zur Verfügung stellten. Ich habe auch noch Verbindung mit den ehemaligen Angestellten. Die waren damals Lehrlinge und werden heute grau.
Das ist der Lauf.
Mit freundlichen Grüßen,
Traute

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