Persönliche Zeit- und Personenbilder 1915 – 1981 Kapitel 12


Teil II

Recherchen


Eines Tages war ich nach Westerstede gefahren, um bei alten Einwohnern einiges über die Polaks zu hören und bisher Geschriebenes zu verifizieren. In der von früher vertrauten Villa, die noch steht wie einst dort in der Poststrasse, lud mich die Oberin vom darin befindlichen Altersheim gleich sehr herzlich zu einer Tasse Tee ein. Auch sie habe Polaks noch gekannt. Sie sei damals junges Mädchen gewesen und wusste nun nicht soviel, wie ich ihr erzählen konnte. Ich bemerkte gut, wie betroffen Frau Mireux, so hiess die Chefin des Hauses, war. Sie gab mir dann den Tip, gegenüber bei dem alten Ehepaar Otholt vorzusprechen. Die hätten dort immer gewohnt, also schon als Nachbarn der Polaks. Auch da war ich herzlich willkommen. Man zeigte mir ein grosses Gruppenbild, wo er, der jetzt alte Herr, und Erich Polak in der Mitte sitzend, in einer Fussballmannschaft waren. Sie sprachen sehr gut über Polaks, mit denen sie täglich in Berührung kamen, weil sie dort ihre Milch holten: Polaks hätten ihr Haus- und Stallpersonal immer eine Ewigkeit gehabt. Die Mamsell Frl. Wegener sei erst vor ein paar Jahren gestorben und habe nach dem Krieg immer gewusst, wohin die zwei Polak Familien, so weit sie überlebt hatten, gegangen oder verzogen waren. Sie hätte immer Pakete und auch Geld gekriegt. Vater Polak sei ja bei den Dragonern gewesen. Gross und gerade, wie er war, habe er wie ein Graf ausgesehen. Die kleine Mutter Polak habe viel Gutes getan und aus ihrer Küche die Wöchnerinnen im ganzen Ort versorgt. Unter den Alten im Hause gegenüber (die Polak Villa, jetzt Altersheim) seien heute noch einige, die als junge Mutter schon mal aus der gleichen Küche des Hauses zu essen bekommen hatten. Wie konnte man diese gute Frau Polak, die sich nicht von ihrem Hause trennen wollte, als Erich ging, wie habe man die so bei Nacht abholen und ins K.Z. stecken können, dass sie dort umkommen musste?! Dann fragte ich meine freundlichen Oholts noch, ob und wie sie sich an den Selbstmord vom alten Karl Polak erinnerten. Es war alles wie ich es wusste, aber neu war mir, dass man also gesagt habe, er sei Freimaurer gewesen, und die müssten ja irgendwann einmal, ihren Regeln gemäss, sterben. Dieser landläufige Glaube und Unsinn, der mir bekannt ist, hat mich in diesem Zusammenhang natürlich etwas erschüttert.

Es kam darauf noch die Sprache auf Felix Polak, Sohn des Siegfried Polak und Bruder von Karl, dem Juristen, den (also Felix) ich nie kennengelernt hatte. Er sei nach dem Kriege plötzlich in Westerstede erschienen und habe das einst väterliche Anwesen aufgesucht. Felix habe sehen müssen, dass ihre grosse Viehweide am Ortsrand fast ganz von neuen Wohnungen besetzt war. Die Bewohner hätten dann befürchtet, dass sie nun nochmal für das Grundstück bezahlen müssten. Aber Felix habe gesagt, er sei todkrank und wolle nichts mehr und sein Bruder Karl, der Professor in Ost-Berlin, stelle sicherlich auch keine Ansprüche.
Das Finanzielle mit der Entschädigung lief natürlich ganz anders, aber erzählt wurde vom Volk so, in völliger Unwissenheit darüber, dass die Juden wegen des Kapitalfluchtgesetzes von 1932 nie in den Genuss ihres Verkaufspreises gekommen waren. Es hat aber kaum Zweck, das irgendwo zu erklären. Die Meinung sitzt schon zu fest, dass die Juden wieder einmal einen Reibach gemacht hätten. Welch billige Gewissenserleichterung!

Was Felix Polak anbetrifft, so ist er tatsächlich ein paar Tage nach dem Besuch in seiner Vaterstadt in dem Oldenburger „Hotel Wahnbeck“ verstorben. Dessen erinnere ich mich gut, davon gehört zu haben. Natürlich hatte ich die Befürchtung, es sei Erich gewesen, was Heinrich Diers mir dann per Telefon eben klar stellte. Es hatte keine offizielle Todesanzeige in der Zeitung gegeben. Wenn man das so bedenkt??

Gestern war Totensonntag, der 22. 11. 81 . Konnte mich doch eines ganz alten Spruches nicht erwehren, der hier Platz finden kann und einmal übesetzt werden soll, so gut es geht:

Enfants des Hommes
Ihr Menschekinder heute !

Tels ont ete vos Peres
So waren Eure Väter

Mechans par leur Ignorance
Böse durch ihren Unverstand

Malheureux par leurs Fautes
unglücklich durch ihre Fehler

Plaignes-les
Beklagt sie

Ne les imitez pas.
Macht es ihnen nicht nach.


An einer Stelle meiner Niederschrift (Seite 17), die ja im Fluge vonstatten ging, war das Problem von Schuld und Sühne angesprochen worden, ob der Gültigkeit von: „Alle Schuld rächt sich auf Erden.“ Eines anderen Tages musste ich mich daran erinnern, was ich so als Frage hatte stehen lassen. Da war ich zu einem etwas entfernteren Ort gefahren, wo, wie ich wusste und mich im Telefonbuch nochmal überzeugt hatte, ein ehemalige Mitpensionär meiner Oldenburger Schulzeit im Ruhestand lebte. Ich hatte ihn nie wiedergesehen, weil unsere Wege sich früh trennten. Er machte in einer anderen Stadt Abitur, wie ich ja auch.

Sehr unterschiedlich waren unsere kleinen Schülermeinungen in unseren spätabendlichen Gesprächen, wenn wir oder weshalb wir nicht einschlafen konnten. Mein Schlafzimmerkumpan pflegte serienweise die damals sehr verbreiteten Groschenhefte über die Heldentaten an der Front und auf dem Meer zu verschlingen und war schlicht und klar für den Krieg, wogegen ich denn die These von „Nie wieder Krieg“ verfocht. Was im Einzelnen unsere entgegengesetzten Argumente waren, weiss ich nicht mehr, aber es ging oft, lange und ausdauernd darum: Krieg gut oder nicht gut !

Nun wusste ich vor meinem Entschluss zu einem Besuch von Hörensagen, dass Fritz, so hiess er, in der Partei ziemlich hoch aufgerückt war und dann auch in der Wehrmacht oder SS was vorstellte. Auch wusste ich, dass er nach dem Kriege eine zeitlang untergetaucht war, weil die Franzosen ihn zu etlichen Jahren verurteilt hatten. Dann war er das Geschäft eines Handelsvertreters für eine gute und grosse Firma angefangen, und das ging glatt und glänzend. Als ich bei Fritz – unangemeldet, wie ich war – in der Haustür stand, erkannte mich mein ganz schön ergrauter Mitschüler und Hausgenosse im ersten Augenblick – nach 55 Jahren also – natürlich nicht. Mit einem kleinen Wort des Hinweises auf die längst vergangene Zeit war seine Überraschung gross. Ja, eine enorme Freude zeichnete sich auf seinem guten und noch faltenlosen Gesicht ab. Es war der herzlichste Empfang, der sich denken lässt. Wie aber mag ich ausgeschaut haben, denn ich musste eine kleine Verlegenheit wegen des Motivs meines Besuches unterdrücken. Mir war wie bei einem schlechten Gewissen. Wo ich schon zu ihm kam, musste er doch annehmen, ich sei wie er, und wir seien miteinander alte Kameraden, wie wir einst zwei Jungen aus der Marsch – er aus dem Jeverland und ich aus Butjadingen – der gleiche Jahrgang waren, in der gleichen Pension lebten und in Parallelklassen waren.

Fritz wird meine Polaks nur oberflächlich gekannt haben, meine ich. Fritz kam nach dem langen Heinz ins Haus, wenn nicht anti-semitisch, so aber doch hoch-politisch-patriotisch als kleiner Tertianer. Wie gesagt, Kriegsbücherlektüre war seine Leidenschaft. Es war, als ob Fritz die Reden von damals nur so fortsetzen wollte, denn er erzählte sogleich lang und breit, ohne mich zu fragen, wie ich den Krieg durchgestanden, von seinen großen Erlebnissen: dass die Franzosen ihn nicht geschnappt hätten, weil er nach dem Kriege sich in Braunschweig auf dem Lande habe versteckt halten können. In Frankreich habe er manche Hilfe aus der Luft für die Resistence vereiteln können. Er habe Franzosen zur Aussage über ihre nächtlichen Geheimzeichen gebracht und manche im Dunkel der Nacht aus englischen Flugzeugen abgeworfene Ladung an Waffen und Lebensmitteln in Empfang nehmen können. So sei es an sich für sie ein Leben wie „Gott in Frankreich“ gewesen.

Mir schoss die Frage heraus, um überhaupt mal etwas zu sagen, ob er Dr. Christoph Dönhoff vom NS-Rasseamt in Paris zufällig gekannt habe. Ich wüsste durch dessen Abzeichnung eines Schriftstückes, dass er eine in Paris lebende Jeverländerin zur Scheidung von ihrem jüdischen Ehemann Max Bamberger aufgefordert habe. Eine Jeverländerin, ursprünglich aus großer Bauernfamilie der Christians, die er doch kennen müsse, sagte ich sehr betont. Die Kollegen von den für Juden zuständigen Exekutivkommandos habe er wohl gekannt, könne sich aber eines Dr. Dönhoff nicht erinnern. (Also ein Schreibtischtäter, dachte ich mir so im Stillen.)

Aber Dönitz, überkam es meinem Fritz wohl assoziativ zu sagen, sei zu letzt noch sein Retter gewesen. Als es in Frankreich zu Ende war, sei er nach Norwegen gekommen, und das hätte überhaupt nicht mehr gegangen, worüber er seiner Schwester, die auf ihrem Hof bei Wilhelmshaven so etwas wie die Wolfschanze von Dönitz beherbergt habe, Mitteilung gemacht habe. Dönitz habe ihn dann angefordert. Es wäre eine schlimme Zeit gewesen, Juden, die an der Spitze der norwegischen Untergrund-Bewegung standen, und die offenbar über ihn Bescheid wussten und ein Kopfgeld aussetzten, hätten ihn bei seiner Arbeit gehindert, und seine Untergebenen hatten auch so gut wie gemeutert.

Wieviel besser alles in Frankreich gelaufen wäre! Gleich zu Beginn der Besetzung hätte man Reste der internationalen Brigade von Rotspaniern bei ihm abgeliefert, „Es war ein offenbar jüdischer Arzt dabei, den sie Dr. Alfredo nannten und der hatte eine ganz grosse Klappe. Ich brauchte mir die Hände an dem Itzig gar nicht schmutzig machen. Unsere Leute haben mit dem mal eben kurzen Prozess gemacht.“ Da war auch ich wie erschossen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken herunter. Der heisse Tee vor mir mag mir geholfen haben. Ich konnte mich mit ihm beschäftigen. Damit er trinkbar war, tat ich noch einen tüchtigen Schuss Rum aus der Karaffe dazu. Ob ich oder was ich gesprochen habe, weiss ich nicht mehr. Fritz rief seine Frau und bat, nachzuschenken. Die freundliche Frau fragte, ob ich Kinder habe. Ich sagte, ja, zwei, beide Chemiker und sie wohnten da und da.

Als Fritzen’s Frau wieder hinausgegangen war, so schnell, dass ich meinerseits nun gar nicht Familiäres fragen konnte, sprach Fritz in leisem Ton, jetzt könne er es mir am besten sagen: sie hätten ihre zwei Kinder verloren. Zuerst den Sohn mit 16 Jahren und nun vor einem Jahr die Tochter, kurz nach ihrer Promotion zum Dr. phil. bei Prof. V. Hentig. Einen Laborplatz, für Reformpädagogik hätte sie gerade noch in Berlin bekommen und noch anfangen können, als sie von Krebs befallen wurde. Die zwei Enkelkinder seien jetzt bei ihrem Mann, einem Strafrechtler, von dem sie sich habe scheiden lassen. So waren auch die in eine gewisse Ferne zu ihren Grosseltern gerückt. Sie hätten immer so gerne ganze Wochen in ihrem Landhaus hier verbracht. Meine Bestürzung in diesem Augenblick hat mich bis heute nicht verlassen. Kaum ein Tag vergeht, ohne an diese furchtbaren Geschicke denken zu müssen, dafür sind Westerstede und der andere Ort zu nahe gelegen. Jedes 10. Autoschild verweist ja auf diese Landkreise Westerstede und Friesland.

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