Eine Lehre für´s ganze Leben


Eine Lehre für´s ganze Leben

Von meinem 10. bis 14. Lebensjahr besuchte ich über Wunsch meiner Mutter eine Privatschule - ein Kloster. Ob aus Sentimentalität, weil sie selbst viele Jahre davor im selben Kloster ihre Schulzeit verbrachte, oder in der Hoffnung, man könne dort aus ihrem lebhaften Kind ein gesittetes Fräulein machen, weiß ich bis heute nicht.

Die Scherze, die man sich damals erlaubte, wurden natürlich sämtlich bestraft, muten heute aber völlig lächerlich an, Kleinkinderkram sozusagen.

Es gab dort nur Mädchenklassen, in denen schon damals nicht die beste Schülerin, sondern die sportlichste, mutigste oder witzigste als Vorbild galt. Wow-Erlebnisse bei der Kleidung konnten nicht erzielt werdern, weil wir erstens - bis auf eine Mitschülerin - sämtlich arm waren und außerdem während der Schulstunden eine Kleiderschürze getragen werden mußte.

Ich war sozusagen die Anführerin der "Habenichtse" und als Gegenpartei wurde ohne eigentlichen Grund Eva, die Tochter aus vermögendem Haus, samt Anhang erkoren. Man stritt nicht, aber man mied einander mit einer gewissen Hoffärtigkeit, gleichzeitig wurde aber jede Aktion des anderen beobachtet und betuschelt. Trotz vielen Grübelns weiß ich bis heute nicht warum. Vielleicht unterbewußt kindliches Sozialdenken.

Was wir mit klopfenden Herzen wagten, war ein reges Hin- und Herwerfen von kleinen Zettelchen, auf denen irgend etwas "Böses" oder "Nachteiliges" stand. Trotz jahrelangen Trainings fing man gegen Ende der Schulzeit mein Briefchen ab und schlimmerweise stand darin irgendetwas Negatives gegen die unterrichtende Schwester bzw. die Schule. Die Lehrerin legte das Briefchen ungeöffnet auf ihren Katheder und wollte die Schuldige nach dem Unterricht ausfindig machen.

Erwähnte Eva saß in der ersten Reihe, stahl wie selbstverständlich mein Briefchen und tauschte es gegen einen leeren, gefalteten Zettel aus. Ich beobachtete das wie gelähmt. Glücks- und Schamgefühle wechselten sich bei gleichbleibender roter Gesichtsfarbe in mir ab.
Gerade die Eva..... Eine Konkurrentin, die hilft .......... Ich schrumpelte in mir vor Bewunderung und Reue ob meiner vorherigen Kleinlichkeiten zusammen.

Diese großzügige Geste ließ uns nicht nur jahrelange Freundinnen werden, die sich leider durch Eheschließungen in verschiedene Richtungen verloren, sondern sie war mir eine bis heute unvergessliche Lehre. Äußerlichkeiten zählen nichts, was im Menschen am Emphatie, Hilfsbereitschaft und sonstigen guten Eigenschaften steckt, ist für mich das einzig Wichtige. 

Ich habe mich selbstverständlich auch bei ihr entschuldigt und bin samt meinen Anhängerinnen zu ihr "übergelaufen". Damals ...... vor 64 Jahren!



 

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Kommentare (4)

ehemaliges Mitglied

So gerne und mit Freude habe ich deine Erzählung aus deinem Leben gelesen. 
Erinnerungen aus einer Zeit oder an eine Zeit, die sich heute die jungen Menschen sicher nicht mehr vorstellen können.
So wie du es geschrieben hast, hat mich deine Geschichte mitgenommen In vergangene Zeiten und in eigene Erinnerungen. Danke schön.
 

keyly

@Gabriele Ende

Liebe Gabriele!

Vielen Dank für die freundliche Beurteilung meines Blogs.
Du hast natürlich Recht, dass vieles in der heutigen Zeit nicht mehr vorstellbar ist. Aber gerade der Verlust dieses "Menschelns", der Bereitschaft,  auch anderen ohne viel nachzudenken aus der Klemme zu helfen oder über dessen Dummheiten gelegentlich großzügig hinwegzusehen, macht Menschen von heute innerlich einsam.

Der sehr alte Spruch bei Aufgeregtheiten, man möge die Kirche doch im Dorf lassen, ließ das Ärgernis meist schrumpfen. 

Liebe Grüße   Lydia mit Amica (meine schon betagte Eurasierhündin)

Rosi65

Liebe keyly,

die schönsten Geschichten schreibt bekanntlich das Leben, und in Deinem Fall hat sich sogar eine großartige Freundschaft daraus entwickelt.
Manchmal täuscht man sich ja in einem Menschen, weil man ihn vielleicht nicht gut genug kennt.
Besonders schön, wenn man dann nach einem Irrtum so positiv überrascht wird.😊

Viele Grüße
   Rosi65

keyly

@Rosi65

Liebe Rosi!

Es freut mich sehr, dass diese kleine Geschichte so positiv aufgenommen wurde. Ursprünglich war ich unsicher, ob sie überhaupt für einen Blog geeignet wäre.

Da sie mir aber seit so vielen Jahrzehnten nicht aus dem Kopf geht, wollte ich sie einfach teilen. In Zeiten wie diesen kann man gar nicht genug "Leckerlis" für die Seele bekommen. 

Liebe Grüße Lydia mit Amica, meiner 13jährigen Eurasierhündin


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