Dann musst du eben gehen.


Dann musst du eben gehen.


 

Sonnenschattengeflecht auf dem Waldboden. Der Geruch nach feuchtem Moos und nach Nadelgehölz umschmeichelt die Sinne; in einem leisem Windhauch schwanken die hohen Buchen und Kiefern, kaum wahrnehmbar. Im Unterholz absterbende Äste lassen das »Stirb und Werde« der Natur überdeutlich werden. Ein kleiner Käfer versucht unermüdlich, einen morschen Baumstamm zu erklimmen. Vergebliche Mühe.
       Gero lächelt, spielt den Retter und nimmt ihn vorsichtig zwischen zwei Finger, setzt ihn auf das faulende Holz. Der kleine Kerl hat nichts Schnelleres zu tun als auf der anderen Seite wieder herabzufallen. Liegt dort auf dem Rücken und strampelt verzweifelt mit seinen Beinchen, kommt dann doch wieder in die richtige Lage und klettert eilig davon.
       Geros angestrengtes Lächeln will nicht so ganz gelingen. Wie ähneln die Bemühungen des kleinen Käfers doch seinem Leben! Carola sitzt neben ihm auf einem Baumstamm, fragend schaut sie ihn verwundert an.
»Warum lächelst du?« 
Sie fragt irritiert, wartet. Er schweigt. Eine nichtssagende Handbewegung, der hilflose Blick zur Seite drückt seine Unsicherheit aus. Carola schaut ihn immer noch an. Er weiss, dass sie ihn nicht verstehen wird. Wie sollte das auch sein? Im letzten Jahr, seit dem schweren Unfall, hat sich ihre Beziehung immer mehr getrübt, es war nichts übrig geblieben von ihrer Liebe als eine Verbindung, die kaum über das Oberflächliche hinausging. 
       Gero wendet den Kopf, blickt lange auf die Waldlichtung hinaus, wo erste Nebelschwaden über dem kleinen Bach schweben. Dann seine Antwort: »Ach, nichts Wichtiges, ich sah nur ein paar Bilder vor mir!« Sie senkt den Kopf, sieht zu Boden, eine endlose Reihe von roten Waldameisen zieht dort zwischen Kiefernnadeln ihre Bahn.
»Ach ja?«     Auf ihrer Stirn werden ein paar Falten sichtbar, er kennt das, es ist ein untrügliches Zeichen von Unmut. »Früher haben wir unsere Gedanken immer ausgetauscht«, meint sie dann, »auch scheinbar Unwichtiges kann wichtig sein. Es sind Deine Worte!« 
       Er sieht sie an. Ihr blondes Haar konkurriert mit dem Blau ihrer Augen, einige Sommersprossen, die sie selbst so hasst, geben dem schmalen Gesicht einen Touch von Kindlichkeit. Der Ohrschmuck aus Lapislazuli setzt dem Ganzen dann noch die Krone auf. Carola ist eine wirkliche Schönheit. Sie hatte ihn schon damals bezaubert, als sie noch zusammen in der Theatergruppe spielten. Und er war auch mächtig stolz, dass er derjenige war, der ihr Herz erobert hatte. Über drei Jahre ist es nun her, Jahre, die so wechselvoll waren wie meist das ganze Menschenleben auch. Freude und Glückseligkeit, Schmerzen und bittere Leiden. 
    »Wichtig. Unwichtig. Was macht das für einen Unterschied? Ändert das mein Leben? Unser Leben?« 
Er hat einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Warum heuchelt sie? Er weiss doch schon seit einigen Tagen aus einem Gespräch mit Freunden, dass sie sich von ihm trennen will.
    »Es ist unser letzter Tag heute, nicht wahr, Carola? Warum sagst du nicht direkt, was du meinst? Auch das ist wichtig, jedenfalls für mich!« 
Er spürt wieder diesen Druck auf der Brust, der ihm das Atmen schwer macht.
    »Du versinkst wieder in Selbstmitleid?« 
Ein wenig spöttisch klingt das schon aus ihrem Mund. Jedenfalls spürt er es so. »Nun gut, mein Freund! Ich will dir dann auch sagen, dass ich lange, sehr lange hin und her überlegt habe, was aus uns beiden wird. So geht es einfach nicht mehr. Ich brauche Leben um mich herum. Du jedenfalls ziehst dich immer mehr von allem zurück. Das meinen auch alle Freunde!«
       Ihre Stimme wird lauter, etwas schrill. Dann tippt sie mit dem Finger auf seine Brust: »Du denkst, es dreht sich alles nur noch um dich, ja? Bist du die Sonne? Nein, du bist nur der Mond, der sich von der Sonne bescheinen lässt! Verstehst du? Nur der Mond!«
       Verwirrt schaut er sie an. Heiss steigt es in ihm auf, seine Gefühle drehen sich unablässig im Kreise. So hat er sie noch nie erlebt. Dann sagt er leise mit heiserer Stimme: »So? Und du bist dann die Sonne, ja? Meine Sonne? Die mir das Licht gibt, ja?« 
Er schüttelt den Kopf, erfasst wahllos einen Zweig des Unterholzes, zerbricht ihn, wirft ihn zu Boden.
»Wie selbstgerecht du doch bist, Carola.«
       Sie erhebt sich, läuft erregt ein paar Schritte auf dem Waldweg entlang, kommt zurück, bleibt vor ihm stehen: »Selbstgerecht? Ich habe immer zu dir gehalten, auch in deiner schweren Zeit. Immer war ich für dich da. Aber irgendwann kann man halt nicht mehr, verstehst du? Da ist man ausgebrannt, einfach alle!«
       Er schweigt, weiss ja insgeheim, dass diese Worte der Wahrheit entsprechen. Sie hat ein Recht auf ihr eigenes Leben, er kann einfach nicht erwarten, dass sie ihm alles opferte. »Carola, ich, ich liebe dich doch!« Seine Stimme klingt rau, fast tonlos. Sie steht schweigend vor ihm, den Schein der untergehenden Sonne in ihrem Rücken, das Gesicht völlig im Schatten. Schaut ihn lange an. Dann flüstert sie mit verhaltenen Worten: »Ich glaube, ich muss jetzt gehen!«
       Fast unmerklich nickt er mit dem Kopf, schliesst fassungslos die Augen. Und wie aus unerklärlichen Sphären, aus den Wipfeln der hohen Bäume klingen Töne an sein Ohr, Takte aus Beethovens Neunter, schwellen an, brausen empor und verstummen dann mit einem Paukenschlag.
       Carola steht immer noch vor ihm, beugt sich zu ihm herab, küsst ihn auf die Stirn, streicht dann sanft mit der Hand über seine geschlossenen Augen.
»Lebewohl, Gero!«
       Er spürt noch lange diese kleine Berührung, plötzlich ist Beethovens Musik wieder da, machtvoll, nimmt seine ganzen Sinne gefangen, während seine Schultern zucken und die Hände zittern. Als er nach endlos langer Zeit die Augen öffnet, ist sie gegangen. Nur ein Schwarm Mücken tanzt lautlos an der Stelle, an der Carola gestanden hatte.
       »Ja, dann musst du gehen!«
Er flüstert es leise in die Stille des Abends hinein, löst die Bremsen seines Rollstuhls, rollt langsam auf dem Waldweg heimwärts, sehr kraftvoll, aber die Augen blind vor Tränen.
 
 


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Kommentare (7)

Distel1fink7

Pan,

ziemlich spät den berührenden Artikel gelesen...

In meiner Phantasie frage ich mich, wohin ging sie ?

Hier oder dorthin, wo es keine Probleme gibt,.

Distel1fink7

Pan

@Distel1fink7  
Ja, wohin? Dorthin, wo man alles vergessen kann, wo Spielereien 
als Realität angesehen wird? 
Wenn Liebe an diesen Dingen scheitert, dann waren es halt nur Träume, dievon der Realität eingeholt wurden und damit zerplatzten ...

werderanerin

Lieber Horst, mich hat diese kleine Geschichte sehr berührt, auch wenn sie Fiktion ist.
Könnte mir vorstellen, dass sie im Leben wahrhaft mehrfach vorkommt..., das Leben ist nicht einfach, aber wem sage ich das...oftmals reicht eben die Liebe nicht aus, um schreckliches gemeinsam zu verkraften. Auch das gehört zum Leben dazu.

Dann gibt es nur noch einen Weg - zu gehen, auch wenn das schmerzlich ist .

Kristine

Pan

Es ist mir ein Bedürfnis, Geschichten, die das Leben schreibt, in Texte umzusetzen.
Manch einer mag denken, ich würde in meinen Erinnerungen kramen? Kann sein,
manches Mal geschieht dies auch.
Andererseits suche ich ständig Material, um Geschehnisse zu Geschichten zu verarbeiten. Es ist eine wunderschöne Sache, wenn ich so schreibe, als hätte ich es selbst erlebt!
(Allein wenn ich Kapitel aus meinem Buch herausnehme, ist es tatsächliches Geschehen, alle anderen Erzählungen sind reine Fiktion!)
Ich bitte um Entschuldigung, wenn es anders erscheint. Vielleicht liegt es an meinen Jahren?
grübelt Horst

Agathe

Trennungen sind im ersten Moment immer schwierig.
Doch, wie auch in der Geschichte beschrieben, 
ist ganz viel Kraft darin enthalten. 
Anfänglich plagt vielleicht das Selbstmitleid.
Doch, wenn es überwunden ist,  geht es weiter.
Dieses Weitergehen ist für mich ganz wichtig.
Ist eigentlich die Essenz des Lebens.

Loslassen und weitergehen...

Sich nicht bewegen und hängen bleiben, 
das finde ich tragisch. 
 

Sommerzauber

Schwierig........
Mir gehen spontan Gedanken in zwei Richtungen durch den Kopf, nachdem ich deine Geschichte gelesen habe.

Zum einen hat Carola natürlich das Recht auf ihr eigenes, selbst bestimmtes Leben. Vorstellen kann ich mir gut, dass sich ein Mensch nach einem einschneidenden Ereignis/Unfall mit Folgen auch zum Nachteil verändert. Das überträgt sich auch auf die Mitmenschen. C. und G. kannten sich ja erst drei Jahre, wenn ich mich recht erinnere. Das ist noch nicht so lange. Da ist das Band zwischen ihnen vielleicht noch nicht so fest. 

Auf der anderen Seite finde ich, dass man, gerade wenn es schwierig wird, zusammenhalten sollte, dann stellt sich heraus, wie tief eine emotionale Bindung ist. Verlassen werden ist sowieso immer schmerzhaft, aber so ist es für Gero sehr dramatisch, in solch einer Situation verlassen zu werden, obwohl er Carola irgendwie verstehen kann.

Du merkst, lieber Horst, ich bin da zwiegespalten, für mich gibt es kein RICHTIG oder FALSCH. 


Eine traurige Geschichte, wie sie sicher im realen Leben auch vorkommen kann. Einen Hoffnungsschimmer sehe ich allerdings in dem Beschreiben seiner Rollstuhlfahrt , zwar mit Tränen, aber ...."sehr kraftvoll".....

Lieber Gruß....Katharina

LisaK

Das Wissen um die beidseitige Hilflosigkeit und der spürbare Schmerz darüber
stimmen traurig, da sich scheinbar kein Ausweg daraus finden lässt.
Herzliche Grüße
Lisa
 


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