Mein Vater – unser Vater (6)
Neuanfang
Berlin war voller Menschen, die der Krieg da belassen hat. Gemäß dem Abkommen von Jalta teilten die Siegermächte sich Deutschland in vier Besatzungszonen auf. Und auch Berlin wurde zerstückelt in Besatzungssektoren. Eichwalde war von den Sowjets eingenommen und das blieb so in der SBZ.
Unserem Ilschen mussten unbedingt die Wucherungen entfernt werden. Mutter hatte diesen Eingriff während der letzten Kriegstage nicht zugelassen. Jetzt, wo die Waffen schwiegen, zogen Mutter und ich mit Ilschen auf dem Handwagen zum Krankenhaus in Berlin-Neukölln.
Noch waren die Russen in dem Krankenhaus eingezogen. Der deutsche Arzt, dem man in Kellerräumen Arbeitsmöglichkeiten eingeräumt hatte, bat Mutter, nach dem Auszug der Russen und Besetzung Neuköllns durch die Amerikaner wieder zu kommen. Also zogen wir die zwanzig Kilometer wieder heimwärts.
Die Russen zogen aus Neukölln mit ihren uralten Lkw’s und Panjewagen nach Südosten ab, die waren vollgestopft mit dem Beutegut aus dem Krankenhaus. Sie trieben das Vieh aus den Ställen der Gehöfte da am Wegesrand. Vieh, das nicht mehr konnte, ließ man liegen. Deutsche hatten dann keine Gnade für das verendende Vieh, sie schlachteten das – weiß Gott nicht fachgerecht, eher wie Geier säbelten sie Fleischstücken heraus.
Die Amerikaner zogen feldmarschmäßig in ihren Sektor ein: Panzer mit geschlossenen Turmluken, und auch die Fahrer hatten ihre Luken verschlossen, Stopp and Go. Wieso das?
In Rudow wohnte der Bruder von Opa Tönse, Mutters Onkel. Da machten wir bei den Märschen immer Station. Die Tönses hatten das Glück, im Amerikanischen Sektor zu wohnen – nur achthundert Meter bis zur Zonengrenze, also zur SBZ.
Wir wanderten wieder zum Krankenhaus, brachten Ilschen ins Krankenhaus. Ilschen blieb dort. Tage später marschierte ich alleine mit dem Handwagen nach Neukölln und wollte Ilschen abholen. Da machte die Kleene die Schublade des Nachtschränkchens auf und präsentierte mir Brot und Hartwurst, die sie von ihren Mahlzeiten zurückgehalten hatte.
So, wir landeten also in Westend im U.N.N.R.A.-Lager. Das lag im Britischen Sektor. In dem Zimmer, das wir da bezogen, gab es noch zwei Buben, älter als ich. Beide hatten die Russen krank vom Ural vom Straßenbau zurückgeschickt – nicht nach Pommern, wo sie zu Hause waren – sie waren hier gelandet. Beide hatten Teile von Wehrmachtsuniformen und verdammt viele Löcher in der Unterwäsche. Mutter schickte mich noch einmal raus nach Eichwalde, damit ich noch zurückgelassene Wäsche von Vater heranholen konnte. Sie kleidete damit die Buben, 15 und 16 Jahre alt. Die Jungs revanchierten sich durch das Bettelngehen und damit uns Essbares zu organisieren. Ich musste einmal meine Stiefel ausziehen, damit Mutter mal eben etwas von den versteckten Tausend Mark herausholen konnte. Ein Ami-Weißbrot kostete einhundert fünfzig Mark.
Schlimm war es, wenn man im Lager blieb. Alle Nase lang kam jemand mit der DDT-Püste zum Entlausen. Das Essen kam in Thermoskübeln – wenn diese leer waren, machten wir uns mit unseren Fingern über die an den Innenwänden noch klebenden Amerika-Mehlsuppe her; entsprechend begannen unsere Mäntel aus Wolldecken zu stehen.
Schließlich kam der Tag der Abreise. Der holländische Lagerarzt bat Mutter, die beiden Jungs und die zwei Mädchen aus Bochum, die von den Russen in Pommern auch verschleppt gewesen waren, mit rüber zu dem Kollegen in der Britischen Zone zu nehmen. Also waren wir jetzt zehn Personen, die von den Engländern mit Militär-Lkw’s durch die SBZ bis hinter Helmstedt transportiert wurden.
Es war gemein, was die Lagerküche da am Ziel gut gemeint mit der Milchmehlsuppe machte: sie taten noch Butter mit hinein. Unsere längst entwöhnten Mägen und Därme reagierten prompt: man wusste nicht was und wo zuerst: oben oder unten. Egal wir waren im Westen.
Am nächsten Abend endete die Fahrt in Wunstorf. Eine Schule nahe dem Bahnhof war Lager geworden. Schlafen auf Stroh. Und am nächsten Tag mussten wir bis in den Nachmittag hinein auf einen Zug gen Westen warten. Oben auf dem Offenen Wagon, der voll beladen mit Benzinkanistern war, wurde schwarz gehandelt.
Bis in die Nacht rollte der Zug, überquerte die Weser auf wackliger Behelfsbrücke, fuhr in das Abendrot, das sich in der Porta Westfalica verfangen hatte. In Hamm heulten die Sirenen die Sperrstunde an. Wir wechselten in einen Belgischen Packwagen. In Essen-Altenessen landeten wir zwischen den Bergleuten, die zur Arbeit fuhren, ganz früh und noch dunkel, klebrig-nebelig. Weiter bis Oberhausen und schließlich Hamborn. Zu Fuß über eine Behelfsbrücke, weiter mit der Straßenbahn. Wir erreichten Walsum! Wir fanden unseren Vater wieder!
ortwin
Wie das zu der Zeit so oft gedacht wurde: „Wenn sie mir was antun, dann mache ich mit den Kindern Schluss!“
Doch nun standen wir Alle da – mit dem wenigen Hab‘ und Gut, ohne eigene Bleibe, Vater ohne Arbeit, also auch kein Einkommen.
Vater brachte lange, sich von dem Schock zu erholen. Mutter war diejenige, die „in die Hände spuckte“. Im Rheinland konnten wir einfach nicht unterkommen.
Vater hat an seinen früheren Arbeitgeber, der Versicherung „Friedrich Wilhelm“ geschrieben. Seine Bewerbung wurde mit einer Stelle in Köln angenommen. Wir konnten da nicht hinziehen – totale Zuzugssperre.
Also gab es doch nur ein Ausweichen ins Hannoversche – ja da war doch die Tante Sophie, eine Freundin von Oma Müller, und die wohnte bei Hameln an der Weser. Über diesen Bereich waren die Briten Herrscher. So fuhr Mutter nach Hannover zur Militärregierung und bekam für uns eine Zuzugsgenehmigung nach Hämelschenburg Kreis Hameln-Pyrmont. Damit kehrte sie erleichtert zurück nach Walsum.
Die Siebensachen wurden gepackt und ab ging es mit der Bahn nach Osten. Einen Tag haben wir zur Fahrt bis nach Neuenbeken gebraucht. Da war der Viadukt nach Altenbeken gesprengt. Hinunter ins Tal und dann wieder hinauf. Übernachtung in einem „Saal“ zusammen mit vielen anderen Reisenden, die auch erst am nächsten Tag weiter konnten.
Am Nachmittag landeten wir in Emmertal. Da war ohne hin das Bahnfahren für uns zu Ende. Da ging es auch nicht weiter für den Zug, denn die Brücke über die Weser war auch zerstört.
Zu Fuß ging es mäßig bergan zum Zielort Hämelschenburg. Es war dunkel geworden, wir kamen zu dem Haus, wo man uns einquartierte.
Nebenbei gesagt: Vaters einundvierzigster Geburtstag wurde gar nicht gefeiert. Wichtiger war das Einrichten in dem zugeteilten Zimmer. Früher das Wohnzimmer der Schreinerswitwe, jetzt ausgestattet mit zwei Bauernbetten, einem Gartentisch, einer Gartenbank und zwei Gartenstühlen.
Man hatte das Heim des Reichsarbeitsdienstes geplündert – uns schenkte man davon so einiges, dass wir ein neues Leben anfangen konnten. Ein trübes Licht illuminierte das Geviert. Ein Problem gab es: „Weit ist der Weg zum Plumbsklo! Zwo drei vier!“