Die letzte Melodie
Die Geige lag still in seinem Schoß, ihre Saiten stumpf, der Bogen morsch. Es war lange her, seit er sie gespielt hatte, doch heute fühlte er den Drang, sie ein letztes Mal in die Hand zu nehmen. Der Raum war dunkel, erfüllt von einer Stille, die nur die Anwesenheit des Todes begleiten konnte.
Anton, einst ein gefeierter Violinist, war alt geworden. Seine Hände zitterten, seine Augen waren trüb, doch in seinem Inneren brannte noch immer eine Leidenschaft, die das Leben nie ganz hatte löschen können. Heute war der Tag, an dem er sich verabschieden wollte – von der Welt, von sich selbst, und von der Musik, die ihn all die Jahre begleitet hatte.
Er legte die Geige an sein Kinn und schloss die Augen. Der erste Ton war rau, ungeschliffen, doch mit jedem Strich des Bogens wurde die Melodie klarer, reiner. Sie erzählte von seiner Kindheit, von den langen Sommerabenden, an denen er die ersten Töne gelernt hatte. Sie sprach von Liebe, die er gefunden und verloren hatte, und von Momenten, die ihn zu dem gemacht hatten, der er war.
Die Melodie wuchs, wurde kraftvoller. Sie erinnerte an Triumphe, an Konzerte, die ihm stehende Ovationen eingebracht hatten. Doch dann, leiser und sanfter, schlich sich ein trauriger Ton ein. Es war die Musik des Abschieds, des Vergehens.
Er spürte, wie seine Hände schwerer wurden, doch er spielte weiter. Der Tod saß still in der Ecke, als geduldiger Zuhörer. Anton wusste, dass er nicht allein war, doch das machte ihm keine Angst. Der Tod war kein Fremder, nur ein weiterer Zuhörer seiner letzten Melodie.
Mit einem letzten, zarten Strich ließ Anton den Bogen sinken. Der letzte Ton verhallte in der Stille. Ein sanftes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er die Geige beiseitelegte.
Der Tod erhob sich langsam und verbeugte sich, als hätte er einem Meisterwerk gelauscht. „Es war wunderschön“, sagte er leise. Anton nickte, schloss die Augen – und ging mit der Musik davon.
Kommentare (2)
doep56
Liebe @Christine62laechel,
Kurzgeschichten bieten unglaublich viele Möglichkeiten. Sie können humorvoll, nachdenklich, tragisch oder surreal sein und das alles auf engem Raum.
Jede Geschichte kann eine andere Perspektive einnehmen.
Ihre Kürze zwingt dazu, präzise zu formulieren und oft zwischen den Zeilen zu erzählen, was sie besonders spannend macht.
Vielen Dank für deinen Kommentar und einen lieben Gruß, Doris
Liebe Doris, deine Geschichte gefällt mir - ich würde aber gerne an das Ende nicht so denken... Es steht nicht fest, wie alt dein Held war, vielleicht sah er aber nur müde aus? Heutzutage leben die Menschen immer länger; im Fall meiner Mutter waren es 97 Jahre.
Ich möchte natürlich nicht deine Idee ändern, werde mir aber gerne vorstellen, dass der ältere Musiker eher eine Weltreise macht. Oder ein Tournée, um neue Spieltechniken kennenzulernen, ein anderes Publikum mal zu begeistern...
Mit Grüßen
Christine