Wir waren zusammen essen und kamen ziemlich spät an einem mit Tarnnetzen verkleideten Gerüst vorbei, aus dem ohrenbetäubender Lärm drang, als plötzlich Rolf weg war.
Wir: Das sind Freddy (eigentlich Alfred) und seine Frau Elsa, ich, Choclat und eben Rolf, der plötzlich weg war. Wir also zurück in den Lärm hinter dem Tarnnetz. Da stand Rolf, umschlungen von zwei hübschen Knaben, die ihm gerade ein Bier in die Hand drückten. Rolf ist nämlich blond und sieht besser aus als Freddy, Elsa und ich.
Und Choclat natürlich, die etwas von einem Pekinesen hat, der gerade gegen die Wand gelaufen war. Aber sie war echt lieb, sie kicherte und zwit-scherte die ganze Zeit vor sich hin. Choclat, die von irgendeinem Bergvolk an der burmesischen Grenze stammte, war von Rolf unter die Fittiche genommen worden, selbstverständlich aus sozialen Beweggründen, denn sie war gerade als Kellnerin gefeuert worden. Sie hieß Choclat wegen ihrer bräunlichen Hautfarbe und sprach nur Thai. Das konnte Rolf gut, der ja früher schon mal mit einer Thai verheiratet war, die ihn danach um sein Haus und sein Geld erleichtert hatte.

Also, wir rein in den Schuppen – Na ja, Schuppen war wohl übertrieben: Eigentlich handelte es sich um ein etwa 2 m breites und 10 m langes Stück vom Bürgersteig, das mit Tarnnetzen abgeteilt war. Rolf stand an der Theke, über der eine grüne Neonlampe hing, die alle wie fröhliche Wasserleichen aussehen ließ. Und da war tatsächlich noch ein Tisch frei direkt vor dem Karaoke-Automaten, der außer dem Lärm noch ein anheimelndes rotes Licht verbreitete, so dass wir fast schon besser aussahen als in Wirklichkeit.
Choclat hielt vier Finger in die Luft und eine der Wasserleichen brachte vier Bierflaschen. Rolf, der an der grünen Theke heftig betatscht und beknutscht wurde, rettete sich zu uns an den Tisch.
Dann wurde uns ein Heft herübergereicht, wo man sich die Lieder aussuchen konnte, die man mit Hilfe des Karaoke-Automaten zum Besten geben wollte. Wir fanden keins, weil wir die Thaischrift nicht lesen konnten. Freddy bekam das Mikrofon in die Hand gedrückt und sang ohne Begleitung eines unserer schönsten Volkslieder, nämlich „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, was wegen des fehlenden Sounds leider nicht so richtig zum Tragen kam. Choclat rettete uns, weil sie unerwarteter Weise eine tolle Stimme hatte. Außerdem stand der Text unter dem Videoclip und - sie konnte sogar lesen!

Am Nebentisch saß ein mächtiger Samurai mit zurückgekämmtem Haar und einem Knoten auf dem Kopf, durch den er ein Paar Essstäbchen gesteckt hatte. Er trug ein knapp sitzendes Kleines Schwarzes mit Spaghettiträgern. Ab und zu liftete er mit den haarigen Unterarmen den Busen, was aber mehr eine Geste guten Willens darstellte, da war eigentlich nichts zum Liften. An seinen Armen hing ein zartes Persönchen, mit ziemlicher Sicherheit eine echte Frau, sehr hübsch und zierlich, die unter einigem Beifall mit piepsiger Stimme ein paar Schlager zum Besten gab. Star des Lokals war eine echt richtige Frau, zwar etwas einfacher gekleidet und nicht mehr die Jüngste, aber sie sang wie ein Profi und wurde mit jedem Beifall einige Jahre jünger und hübscher.

Einen beeindruckenden Auftritt legten zwei ätherische Wesen hin, schlank, beide mit engen weit ausgeschnittenen Glitzerkleidern, perfekte Figur, perfekt geschminkt, perfekt gestylte Frisur. Sie stöckelten auf grünen High Heels zu einem in Windeseile für sie aufgestelltem Tisch. A-tem-be-rau-bend! Es war, als wenn die Zeit stehen geblieben wäre!
Sie tranken sogar das Bier aus Gläsern und spreizten dabei den kleinen Finger ab! Freddy (eigentlich Alfred) wollte sich gerade auf sie stürzen, um irgendeine von beiden zum Tanzen aufzufordern, als Rolf, der offenbar den Überblick hatte, ihn festhielt und ihm durch den Karaokelärm zubrüllte:
“Hast du nicht gesehen, wie große Hände und Füße die haben?“
Freddy ließ sich seufzend auf seinen Stuhl fallen, während Elsa, die mit flatternden Trommelfellen direkt vor dem mannshohen Lautsprecher saß, verklärten Blickes die beiden Schönen der Nacht bewunderte.

Rolf bohrte vier Finger in die rauchgeschwängerte Luft. Die Wasserleiche stand überraschend schnell mit vier Flaschen Bier an unserem Tisch. Weil keiner herguckte, steckte sie einen Zeigefinger in eine Flasche, hielt sie an Rolfs Ohr und zog den Finger mit einem Plop wieder heraus. Alfred nahm ihr das Bier ab. Rolf durfte zahlen, schließlich war er nach den Erfahrungen mit seiner ehemaligen Thaifrau prädestiniert dafür!

Durch das löcherige Tarnnetz konnte man sehen, dass sich auf der Straße so einiges tat. Zwei Polizisten waren dabei, einige Mopedfahrer, die wieder mal ohne Helm unterwegs waren, zur Kasse zu bitten. Nach einiger Zeit hatten sie ihren Einsatz beendet und mussten sich erholen und ließen sich an der Theke ein paar Biere aufmachen. Ein Mofafahrer, der offensichtlich zahlungsunfähig war, kam mit rein und kriegte eins ab.

Freddy, nun doch gefrustet, weil er die „Schönen der Nacht“ nicht als „Kathoy“, d.h. Ladyboys, erkannt hatte, beobachtete durch das Tarnnetz den um diese Zeit doch sehr gelichteten Verkehr. Eine Motorradbraut knatterte vorbei, natürlich ohne Helm, aber dafür mit langer fliegender Mähne. Freddy pfiff, blitzschnell drehte sie um, stieg ab und kam rein, vielleicht witterte sie ein kleines Geschäft. Sah verdammt gut aus, sehr schlank und zierlich.
„Ist für dich!“, sagte Freddy mit schrägem Blick in Richtung Elsa großzügig zu mir und winkte einen Stuhl herbei. Die Motorradbraut hielt einen Finger in die Luft und eine der Wasserleichen stellte ein Bier zurecht. Dann zog sie ihre Lederjacke aus, griff in ihren Ausschnitt und holte für das Bier einen Schein aus dem BH. Prüfend blickte ich hinein und sah nichts, d.h. überhaupt keine sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale. Ich schluckte.
„My name is Sirinya“, hauchte sie mir zu, klimperte mit den Augendeckeln und zeigte mir ihre Krallen, fast streichholzlange leicht gebogene Fingernägel:
„Ich bin Tempeltänzerin!“
Wie zur Bestätigung stand sie auf und legte einige schlangenartige Tanzbewegungen hin, wobei sie ihre Finger bewegte, als hätten sie keine Gelenke. Aber vermutlich konnte man davon nicht leben, sie war nämlich auf dem Weg zu ihrer alternativen Arbeitsstelle in einer Bar. Also wohl doch ein weibliches Wesen!
Da sie ziemlich anlehnungsbedürftig war und ich wegen ihrer dolchartigen roten Krallen, die sie vertraulich auf meinem Oberschenkel ruhen ließ, einige Bedenken hegte, verließ ich das Tarnzelt und ging über die Straße zum Seven/Eleven, der die ganze Nacht geöffnet hatte und kaufte einige Tüten Chips. In jeder Tüte waren nur acht Stück, dafür waren sie aber höllisch scharf und schmeckten nach Fisch.
Wieder zurück, verteilte ich die Chipstüten: Eine für die Polizisten (man weiß ja nie), eine für die Tempeltänzerin (Künstler soll man unterstützen), eine für die Herren im Glitzerkleid (a-tem-be-rau-bend!), eine für Rolf, Freddy und Elsa, und mit der letzten Tüte setzte ich mich zum Samurai, der gerade in seinem Handtäschchen nach Lippenstift und Spiegel kramte. Er legte gleich den Arm um mich, was die Tempeltänzerin bewog, ihr Mofa zu besteigen und ihrem Zweitberuf nachzugehen. Die Tüte Chips nahm sie mit.

Plötzlich war es still, schlagartig. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Die beiden grün gewandeten Ladys standen auf – nein, sie standen nicht einfach auf, sie erhoben sich! Es war eine einzige Bewegung der beiden, sie transformierten sich aus einem sitzenden in einen stehenden Zustand. Leise setzte die Musik ein, mit den Eingangstakten von „Killing me softly“. Und dann sangen sie, zwei Stimmen in einer, eine absolute Kopie des Gesangs von Roberta Flack, absolute synchrone Bewegungen eines angedeuteten Tanzes in pailletten-schillerndem Grün. Wie ein einziges schwebendes Wesen.
Lange Zeit danach sagte niemand etwas.
Nur der/die Samurai strich sich immer wieder mit dem Handrücken die Haarsträhne aus der Stirn und seufzte dabei.
Aber ich glaube, er/sie war glücklich!

castellanos

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Kommentare (1)

finchen ...ich lache jetzt noch...das war köstlich !
Ja, man muß alles mal erlebt haben, auch dieses Milieu.
Dabei fällt mir auch eine Geschichte ein und "er" hieß "Lenny" und war ein Sensibelchen. Vielleicht schreibe ich sie mal auf.
Mit lieben Grüßen
das Moni-Finchen

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