Evakuierungsfahrt 16./17.Januar 1944

Mit der Vorortbahn:
Eichwalde Kreis Teltow - Berlin-Grünau
Mit der S-Bahn:
Berlin-Grünau - Berlin-Friedrichstraße
Berlin-Friedrichstraße - Berlin Anhalter Bahnhof
Mit einen D-Zug:
Berlin Anhalter Bahnhof – Halle/Saale – Sangerhausen – Nordhausen – Kassel – Fulda – Hanau
Mit der Odenwald-Bahn:
Hanau – Wiebelsbach-Heubach
Wiebelsbach-Heubach – Michelstadt – Erbach(Odenwald)

Nach dem heftigen Luftangriff auf Eichwalde in der Nacht 23./24.Dezember 1943, wo im Ort um die dreißig Tote zu vermelden waren, erfolgte in der Nacht vom 15./16.Januar 1944 wieder ein sehr starker Luftangriff. Wieder stand die Eisenbahn-Flak vom Betriebsbahnhof Schöneweide hier auf unserem Bahnhof. Zwischen den einschlagenden Bomben hörte man die Abschüsse der Kanonen. Die abgestützte Kellerdecke hob sich, der Verputz rieselte durch die Ritzen der Verschalung.

Das veranlaßte meine Mutter nun doch das Angebot ihrer Schwester, deren Haus in Berlin-Eichkamp Wochen zuvor abgebrannt war, nachdem sie schon in den Odenwald übersiedelt waren, sich mit uns sechs Kindern in den Odenwald zu evakuieren.

Am Morgen des 16.Januar informierte sie unseren Vater, der in Berlin in der Greifswalder Straße bei den Landesschützen Dienst tat, von der beabsichtigten Maßnahme. Es wurde eiligst gepackt. Gegen 14:00 Uhr traf Vater in Eichwalde ein. Gegen 15:00 Uhr zog die Familie los zum Bahnhof in Eichwalde. Nach Umsteigen in Grünau und Bahnhof Friedrichstraße erreichten wir den Anhalter Bahnhof.

Es war inzwischen dunkel geworden. Das Innere der Bahnhofshalle des Anhalter Bahnhofs war gedämpft beleuchtet. Viel Uniform, viel Gepäck, eine gewisse Unruhe. Mutter sagte so beiläufig, daß unser Zug anstatt um 20:00 Uhr schon um 19:00 Uhr Berlin verlassen müsse, wegen der Luftangriffe. War das gegenüber der Planung ein notwendiger Zugwechsel?
Wir fanden im D-Zugwagen Platz im Abteil „Mutter und Kind“, das heißt: unsere Ukrainerin Wera und ich mußten im Gang Platz nehmen, ich, weil ich schon über zwölf Jahre alt war. Wir setzten uns auf unsere Fiberkoffer, mußten für durchwollende Fahrgäste immer wieder aufstehen. Vater winkte dem anfahrenden Zug nach, in seiner feldgrauen Uniform war er noch gerade zu erkennen, bis der Wagon unter der Signalbrücke hindurch in die Dunkelheit hinausrollte.

Die Vorhänge in den Abteilen waren zugezogen – gab es welche auch auf dem Gang? Auf der Strecke war ich schon des Öfteren unterwegs, kannte die wichtigsten Stationen beim Namen. Jüterbog, da war Vater einige Jahre stationiert, ich durfte da einmal bei einer Bäckersfamilie zu Besuch sein, hat der Zug da gehalten ? - ich meine nicht.
„Kettenhunde“, die Feldjäger kontrollierten die Fahrgäste und ihr Gepäck. Bei Wera hielten sie sich eine Weile im Gespräch mit Mutter auf, aber die Papiere waren in Ordnung. Die Aufpasser schleppten sich durch den Zug nach vorne weiter. Ich sehe noch die riesige Blechplatte, die die Männer auf der Brust hängen hatten.

Plötzlich hielt der Zug. Draußen war es stockdunkel – gab es einen Bahnhof „Rossla“ oder „Rosslau“ ? Draußen lief Bahnpersonal mit der Karbidlampe den Zug entlang und schrie „Licht aus! – Fenster verdunkeln! – Fliegeralarm! – Wir fahren weiter!“ Weiter ging es.

Halle an der Saale! Die Bahnhofshalle war hell beleuchtet. Fliegeralarm ? Es ging nach kurzer Pause weiter, wohl kein Lok-Wechsel. Nun kam die Strecke dran, die ich 1941 in den Ferien schon einmal erlebt hatte. Nur jetzt war es dunkel, stockdunkel. Eisleben, Sangerhausen, der Tunnel, links muß der Kyffhäuser liegen. Dunkel, jetzt muß der Bahnhof Berga-Kelbra kommen – da hatte mich Großmutter abgeholt und mich in die Ferien mit nach Stolberg im Harz mitgenommen, übrigens meine erste Alleinreise!

Es ging weiter. Der Zug lief ganz langsam, ja behutsam in den Bahnhof von Nordhausen ein. Nordhausen brannte, der Feuerschein, der Geruch. Da hatten die Bomber ihre Last abgeworfen – warum sie das taten, haben wir erst viel, viel später erfahren. Es ging weiter.

Wie wir nach Kassel gefahren sind, ich weiß es nicht, vielleicht war ich für einige Zeit auf meinem Koffer eingedöst gewesen. Jedenfalls lag die Halle des (damals noch) Sackbahnhof in hellem Licht. Ein längerer Aufenthalt, dann ging es andersrum wieder raus, weiter auf unserer Fahrt. Fulda, ja ich erinnere mich. Man hatte damals so viereckige, großflächige Laternenkästen aufgehängt, an deren Stirnflächen rundum der Bahnhofsname durchleuchtet zu lesen war, kaum daß mehr als nötig Licht nach außen drang.

Im Morgengrauen erreichten wir Hanau. Wir stiegen aus. Es war gräuslich kalt, es war ja Winter. Eine Stunde mußten wir auf dem zugigen Bahnsteig warten, bis uns der Zug auf der Nebenstrecke weiter in Richtung Süden mitnahm. Der Zug zuckelte durch ein flaches, aber von Bergen eingegrenztes Tal, hielt quasi bei jeder Milchkanne. Wir landeten in Wiebelsbach-Heubach. Der nächste Zug, von Darmstadt kommend, ging erst am frühen Nachmittag weiter.

Im Warteraum war rein garnichts los. Als Luftwarnung gemeldet wurde – hier heulte keine Sirene, hier konnte man über Drahtfunk die Durchsagen der Luftlage an die Befehlsstellen der Flak mithören. Der Bahnhofsvorsteher sah sich genötigt, uns alle Mann in den „tollen“ Luftschutzkeller“ zu schicken, man sah oben am Himmel die Kondensstreifen der so hoch fliegenden Bomber.

Da stand so da hinten auf dem letzten Gleis eine Güterlok, die mit Preßdampf aus der Bremsluftpumpe auf sich aufmerksam machte, ganz alleine stand sie das, es sah so aus, wie wenn eine Kuh im Stehen widerkäute. Die Bahnanlage hatte nur leere Gleise, nichts garnicht war hier los – piff-patsch, piff-patsch, piff-patsch.

Gegen 15:00 Uhr kam der Zug aus Richtung Darmstadt an. Wir bestiegen den Zug, der uns das Mümling-Tal hinauf brachte. Die Landschaft wurde immer lieblicher, das Tal immer enge. Wir erreichten Erbach im Odenwald. Angekommen! Man holte uns mit dem Handwagen vom Bahnhof ab und brachte uns die Hauptstraße hinauf zum Haus der Tante und den Großeltern. Dreckig und müde gab es nur noch eines: bald schlafen zu können.

Anzeige

Kommentare (1)

agleh ja, das war eine schlimme Zeit. Auch mich hat man evakuiert und zwar von der Französischen Grenze nach Bayern. Ich war zwar jünger als Du, kann mich aber
auch noch an vieles erinnern. Danke für deine Erzählung, sie ruft Erinnerungen wach,
wenn auch weniger schöne.

Lieben Gruß
Helga

Anzeige