Eine Ohrfeige zum Heiligabend
Im ganzen Haus war es still. Meine Eltern und Geschwister schliefen in ihren warmen Daunenbetten in dieser kalten Dezembernacht. Nur mich quälte wieder einer dieser schrecklichen Hustenanfälle. Ich schwitzte dermaßen unter der dicken Bettdecke, dass mein Nachthemd tropfnass war. Die kratzigen Wollsocken hatte ich bereits von den Füßen gestrampelt und zusammen mit der inzwischen erkalteten Wärmflasche aus dem Bett geschubst.
Mutter hatte am Abend zuvor versprochen, vorsichtshalber den Hustensaft auf meinen Nachttisch bereit zu stellen. Falls mein Husten wieder so schlimm wie die Nacht zuvor sein würde, sollte ich einen Messlöffel voll davon nehmen. Nur da war kein Hustensaft! Sie hatte ihn in all dem vorweihnachtlichen Stress in der Küche vergessen.
Also stand ich auf, um das Medikament selbst zu holen. Ich wollte mir endlich Linderung verschaffen. Im Raum war es eiskalt. Ohne Licht zu machen, sammelte ich in der Dunkelheit die von Mutter selbstgestrickten, kratzenden Schafwollsocken wieder ein, zog sie über und schlich leise aus dem Zimmer.
Die Küchentür war nur angelehnt. Drinnen war es noch angenehm warm vom großen Holzofenfeuer des vergangenen Abends. Herrlicher Plätzchenduft hing in der Luft. Mutter hatte, als sie uns Kinder endlich schlafend wusste, noch Spitzbuben gebacken. Das Backblech mit den verlockenden Leckereien stand auf dem Ofen.
Ich staunte über die Helligkeit im Raum und lief zum Fenster. Über Nacht hatte die Winterfee auf dem Fensterglas ein wundervolles Zauberwerk geschaffen. Es war dick mit fantastischen Eisblumenmustern bemalt.
Ich kratzte vorsichtig mit dem Fingernagel ein kleines, rundes Guckloch frei und schaute hinaus. Die Nacht war sternenklar und der Vollmond leuchtete auf eine herrliche Winterlandschaft. Eine dicke Schneedecke war über Nacht gefallen und der Mond spiegelte sich darauf und gab das sanfte, weiße Licht weiter an die friedlich schlafende Welt rings umher.
Auf dem Tisch stand mein Hustensirup. Ich machte das Licht an, um das Medikament nicht zu verschütten und schluckte einen Messlöffel voll davon. Dabei fiel mein Blick auf den Abreißkalender an der Wand. Darauf stand noch die Zahl dreiundzwanzig. Doch heute war Heiligabend, und zwar schon seit fünf Stunden.
Die Zahl dreiundzwanzig irritierte mich zusehends. Vierundzwanzig sollte da stehen, dachte ich besessen. Das Kalenderblatt musste auf der Stelle weg. Es duldete in meinen Augen keinen Aufschub mehr.
Ich rückte einen alten Schemel an die Wand, kletterte hinauf und sah mir die dreiundzwanzig von der Nähe an. Dann blätterte ich um.
24. Dezember. Der schönste Tag im Kalenderjahr eines jeden Kindes. Bei dieser Zahl frohlockte mein kleines siebenjähriges Herz vor Vorfreude.
Da war nur ein Problem! Der Abreißkalender war tabu für uns. Nur mein Vater besaß das Privileg, täglich ein Blatt davon abreißen zu dürfen.
Also stieg ich wieder vom abgenutzten Schemel herab und stibitzte vom Kuchenblech einen Spitzbuben. Während ich ihn voll Genuss aufaß, bemerkte ich erleichtert, dass ich gar nicht mehr husten musste.
Noch immer war es seelenruhig im ganzen Haus. Alles schlief. Selbst unser Kater lag zusammengerollt auf dem Sofa. Nur ich war überhaupt nicht mehr müde. Das Gefühl im Haus schalten und walten zu können war überaus reizvoll - verlockend der Gedanke Dinge zu tun, die sonst verboten waren. Plätzchen mitten in der Nacht naschen, ohne vorher um Erlaubnis bitten zu müssen - und ein Kalenderblatt abreißen - alles war möglich, wenn man allein war und keinen mahnenden Zeigefingern fürchten musste.
Ich schaute erneut zum Kalender hinauf. Heute ist Heiligabend, der 24. Dezember. Es juckte wieder in meinen Fingern. Die 23 musste weg. Also stieg ich nochmal auf den mitgenommenen Schemel und Schwups war das störende Kalenderblatt ab.
Nur jetzt stand da nicht 24 wie erwartet, sondern 25.
Voll Schreck bemerkte ich, dass ich gleich zwei Blätter abgerissen hatte. Sofort wurde mir klar, dass ich nun ein großes Problem hatte. Was tun? Was hatte ich nur angestellt?
Ich überlegte blitzschnell, wie wohl Vater beim Entdecken dieser Missetat reagieren würde und mir wurde ganz bang. Außerdem kam es gar nicht in Frage, dass es dieses Jahr keinen Heiligabend geben sollte.
Irgendwie musste die 24 wieder dran an den Kalender. Ich suchte in der Schublade das Klebeband, konnte es aber nicht finden. Auch in den anderen Schubladen sah ich nach, - ohne Erfolg. Ich bekam Panik.
Da fiel mir das Verbandszeug ein. Dort gab es sicher Wundpflaster! Und wirklich, ich wurde fündig. Ich schnitt einen kleinen Streifen davon ab und klebte diesen vorsichtig oben an die 24. Anschließend stieg ich erneut auf den wackeligen Schemel und befestigte mit viel Sorgfalt das „Wertvollste“ aller Kalenderblätter an seinem Platz.
Nur es wollte nicht haften bleiben an dem schon sehr zusammengeschrumpften, nur noch wenige Jahrestage zählenden Abreißkalender. Was ich auch tat, der 24ste hing schief.
Jetzt bereute ich zutiefst meine Tat. Dann fiel mir glücklicherweise der Uhu-Kleber in meinem Schulmäppchen ein. Genau das war die Lösung. Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich fasste wieder Mut.
Zum x-ten Mal stieg ich auf den gebrechlichen Schemel, schraubte den Kleber auf und malte einen großen, dicken Klecks auf die 25.
Geschwind klebte ich den Heiligabend darauf, fertig! Es hielt und es war beinah gerade. Zufrieden wischte ich mir die pappigen Finger am Nachthemd ab. Da krachte der wackelige Schemel unter meinen Füßen zusammen und ich donnerte mit dem Kopf gegen die Wand.
Meine Eltern wurden von dem Krach wach und kamen herbeigerannt. Sie sahen mich auf dem Boden kauern, den kaputten Schemel neben mir und die offene Uhu-Tube.
Auch meine Missetat blieb ihnen nicht lange verborgen. Sie waren stinksauer und so kam es, dass ich am Heiligabend eine Ohrfeige bekam.
Bild Sabrina_Ripke - pixabay
Kommentare (14)
@Leevke
Oh, so eine wunderbare Überraschung! Vielen Dank, liebe Leevke, für Deinen Kommentar. Es freut mich riesig, dass Dir meine kleine Kindheitgeschichte so gut gefallen hat. Vielleicht gefallen Dir auch meine restlichen Blogeinträge. Wenn ja, schreibe es mir bitte.
Herzliche Grüße aus Korsika
Claudine
Hallo Claudine,
mein Mauszeiger weigert sich, auf das "Gefällt"-Herz zu klicken. Dabei ist es ein so schön geschriebener Text, so voller ausgedrückter Gefühle, dass mann alles gut mitfühlen kann. Aber das Ende lässt einem das Blut in den Adern erstarren.
Nur eine Ohrfeige, könnte man sagen, aber du wirst sie wie einen Schwertschlag gespürt haben.
Ich verkneife mir, etwas Wertendes zu deinem Vater zu sagen, du hast dich hoffentlich schon therapeutisch mit dem Thema beschäftigen können.
Dass du in der Lage warst, diesen Test so zu schreiben, zeugt eigentlich davon, dass du das traumatische Erlebnis ganz gut verarbeitet hast. Ich wünsche dir sehr, dass es so ist.
Für diesen Heiligen Abend wünsche ich dir nur Ertfreuliches und Beglückendes.
Till
@Exbremer
Vielen Dank, lieber Till!
Keine Sorge, ich habe die Ohrfeige ganz gut verkraftet.
In jener Zeit waren Eltern nicht zimperlich bei Ungehorsam. Ich war das älteste Mädchen in der Familie und musste ein Vorbild für meine kleineren Geschwister sein. Das war ich aber leider nicht immer, denn ich war auch nur ein Kind.
Auch Dir ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest
Claudine
Moin Zusammen
nachfolgende Person, Johanna Haarer, war die Erziehungsmutter der Nationalsozialisten und ihre Bücher waren die Leitlinien der Nazis für deutsche Kindererziehung.
Ihr Bücher wurden noch bis Ende 1980er Jahre verkauf, die Überschriften nur leicht abgeändert.
Wer diese Bücher gelesen hat, wird nicht mehr fragen, warum unsere Eltern und Großeltern so waren wie sie waren.
Zusätzlich waren sie durch den Krieg alle traumatisiert, Mütter, Väter, Kinder und auch Kindeskinder tragen das weiter in sich.
Wer sich mein Profil ansieht, kann erahnen, warum ich das alles weiß und das sogar verdammt genau weiß.
Ich kann heute verstehen, aber verzeihen kann ich nicht für das, was meine kleine Kinderseele erleiden musste.
Und schon als Kind hatte ich mir geschworen, dass meine Kinder, sollte ich welche haben, so etwas nie erleben und durchleben müssten.
Und ich habe diesen Schwur gehalten und bin stolz darauf.
Wir haben heute ein wunderbares und vertrauensvolles Verhältnis miteinander.
Und wer mein Profil liest, wird sich von nun an nicht mehr wundern, warum es so ist wie es ist.
Ihr wart gerade dabei meine "Büchse der Pandora aufzumachen", aber ich habe gerade noch so die Kurve bekommen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_Haarer
Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind‘ (1934)
Unsere kleinen Kinder‘ (1936)
Sorry
aber das musste jetzt spontan aus mir raus
LG
Knud
Vielen Dank an nnamttor44, Christine62laechel und ladybird für die Herzchenspende.
Liebe Grüße und frohe Weihnachten
Irmina
Liebe Claudine,
obwohl das Ende Deines Erlebnisses schon traurig war.....und Du hast mir noch im Nachhinein wirklich leid getan....denn diese Ohrfeige wurde ja nie vergessen?
Trotzdem war diese Geschichte , spannend zu lesen, und so lebendig, dass ich fast mit Dir auf dem wackeligen Hocker stand.....
Ich glaube eigentlich nicht, dass heute noch "Ohrfeigen" verteilt werden, in unserer Kultur doch hoffentlich nicht mehr????
Sicherlich blieb Dir auch der Kalender stets im Sinn?
Deine Verlockung war allerdings größer, als die Angst vor den Konsequenzen?
Ganz schön kess, für sieben Jahre,
über Deinen Mut konnte ich schmunzeln
noch 6 Tage und dann darfst Du den 23. abreißen....ungestraft....
mit vorweihnachtlichen Grüßen
ladybird-Renate
@ladybird
Liebe Renate,
es gibt Ereignisse aus dem Kindesalter, die man nicht vergisst. Der Grund - Mein Streich wurde viele Jahre immer wieder in der Familie erzählt und diskutiert. Er sorgte für allgemeine Erheiterung.
Ich danke Dir für Dein Mitgefühl und freue mich, dass Du mir einen so überaus herzlichen Kommentar dazu geschrieben hast. Vielen Dank.
Eine frohe Weihnachtszeit wünscht Dir
Irmina
"Gar nicht lange wimmern, sofort ein zimmern", hat man früher hier bei uns im Ruhrgebiet oft gesagt. 😡 Was für eine dumme Aussage, denn sie hat mit Gerechtigkeit wenig im Sinn.
Deine Heiligabend-Geschichte hast Du, liebe Claudine, sehr gut und anschaulich erzählt, obwohl es ja kein angenehmes Erlebnis für Dich war. Habe ich gerne gelesen.😉
Viele Grüße
Rosi65
@Rosi65
Diesen Spruch kannte ich nicht, er beschreibt aber recht gut, wie Eltern Ungehorsam früher bestraft haben.
Heute undenkbar, obwohl auch heute noch Kinder teilweise in Familien schwer misshandelt oder in Schulen gemobbt und gedemütigt werden. Was für eine Welt!!!
Herzlichen Dank für's Lesen und Kommentieren, liebe Rosi.
Eine friedvolle Weihnachtszeit wünscht Dir
Irmina
Das waren Zeiten, wo man keine Zeremonien machte, man fragte nicht groß: warum hast du das gemacht? Oder doch, das fragte man, um nur noch mehr aufgeregt zu werden. :) Die einen Kinder wurden geschlagen, die anderen beschimpft als wäre ihre Tat Gott weiß wie schlimm. Nach Jahren versucht man daraus einfach nur eine Erinnerung zu machen; gut, wenn es irgendwie geht. :)
Mit Grüßen
Christine
@Christine62laechel
Meine Eltern waren sehr streng, besonders aber meine Mutter. Ihre Hand saß ziemlich locker, aber ich bin ihr schon lange nicht mehr böse dafür.
Danke für's Lesen und Kommentieren, liebe Christine.
Ich wünsche Dir herzlich eine friedliche Weihnachtszeit
Irmina
Gerade las ich Deine hübsche Geschichte, liebe Claudine, und sehe hier zuhause durch das schmale Fenster neben meinem "Schreibplatz" das erste Mal dieses Jahr einen Abendhimmel mit leicht geröteten Wolken. Früher hieß das: die Englein im Himmel backen nun Weihnachtsplätzchen!
Auch die große Garten-Fenster-Schiebetür gibt nun den Blick frei auf den im Dämmerlicht noch verschwommen sichtbaren Garten - fast ein verwunschenes Abendbild ...
Es ist Advent, Vorweihnachtszeit!
Und dann fallen mir auch Geschichten von früher ein: Ich weiß, dass meine Mutter aufgrund ihrer eigenen Geschwistersituation als Kind die Älteste von sechs Geschwistern mit zwei rauflustigen Brüdern, auf die sie aufzupassen hatte, schnell eine "lockere" Hand hatte. Ich habe nie Ohrfeigen verteilt - bis auf ein einziges Mal - und ich fühle mich heute noch ziemlich mies, wenn die Erinnerung hochkommt!: Ich hatte meinen einzigen Enkel für ein paar Stunden in meiner Obhut. Unser Spiel war recht temperamentvoll und so gelang es dem Vierjährigen, mich beim Fangenspiel im Korridor an eine Wandkantenecke zu schubsen. Mein Kopf "explodierte" fast von dem Aufprall und im Affekt bekam der Junge eine Ohrfeige!
Mir war sofort klar, dass ich zu weit gegangen war! Wir hockten beide - innig umarmt im Flur und weinten, der Kleine, weil ihn Omas Klaps erschreckt hatte und schmerzte, und ich vor Entsetzen über meine Reaktion! Ich nahm ihn in die Arme, entschuldigte mich und erklärte ihm, dass es nicht gut ist, wenn man sich gegenseitig schubst oder schlägt. Er hat es nie seiner Mama erzählt, aber ich habe es meiner Tochter abends gebeichtet und sie war sehr verständnisvoll, kannte sie doch ihren Kleinen recht gut. Max ist bis heute - inzwischen elf Jahre alt - kein Junge, der durch Schlägereien mit Mitschülern auffällt ... Er besucht mich immer noch gelegentlich (Elfjährige haben ja inzwischen ganz andere Interessen, als der Oma Gesellschaft zu leisten ,,, 😃 und das ist gut so!).
Das Leben hält eben doch so einige Überraschungen parat ... 😥
@nnamttor44
Früher mussten wir gehorchen. Gehorsam war meinen Eltern sehr wichtig, irgendwie verständlich bei fünf Kindern. Ich bin ihnen deshalb nicht böse.
Aber das ist der Grund, warum auch ich meine Kinder nie geschlagen habe. Kinder sollen Kinder sein dürfen und dazu gehören nun mal Dummheiten mit dazu.
Vielen Dank, liebe nnamttur, für's Lesen und Kommentieren.
Einen schönen 3. Adventabend und frohe Weihnachten
Irmina
Las deine Geschichte erst jetzt, Claudine - wunderbar erzählt, ich fühlte mich, als hatte ich neben dir gestanden und in die Winternacht hinausgeblickt.
Du hast eine tolle „Schreibe“!
viele Grüße
Leevke