Ein ganz einfaches Weihnachtsfest
Ein ganz einfaches Weihnachtsfest
Dritter Advent 1945. Das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. Kein Sirenengeheul, kein Alarm. Das Fest rückte näher. Draußen war es kalt, es lag Schnee auf den Bergen längs dem Emmertal.
Das Schloß Hämelschenburg am ostwärtigen Ortsausgang des Dorfes hatte auf seinen zwei Türmen Schneekapuzen aufgezogen, und auch der kleine Turm der Schlosskirche trug eine Schneehaube. Aus den Schornsteinen der Häuser im Dorf, das sich westwärts um die Straße Hameln-Bad Pyrmont ausstreckte, stieg senkrecht der Rauch empor, es roch nach verbranntem Holz. Unterhalb der Schlosskirche lag die alte Mühle, ihr Rad und Wehr waren voller Eiszapfen.
Wir saßen in dem großen Zimmer, das nach unserer Flucht nun unsere Bleibe war. Dieses Zimmer war vordem die Schlafstube des verstorbenen Tischlermeisters. Als wir hier eingewiesen wurden, war zunächst kein Möbelstück zu finden. Angefangen wurde da im Herbst zuerst mit Gartenmöbeln und zwei großen Bauernbetten. Es gab keine Matratzen, auf die eingelegten Bretter war Stroh aufgeschüttet, das mit weißblau karierten Laken abgedeckt wurde. Die Gartenmöbel fanden ihren Platz wurden ans Fenster gerückt, die Betten standen hinten an der Wand nebeneinander. Neben der Tür stand ein alter eiserner Herd, der für wohlige Wärme sorgte. Mutter stand am Tisch und versuchte aus den von freundlichen Dorfbewohnern abgegebene Backzutaten Kekse zu fabrizieren. Das richtige Werkzeug, das notwendige Geschirr war nicht vorhanden. Mit einer leeren Weinflasche wurde der Teig ausgerollt. Als Form zum Teigausstechen nahm Mutter ein Glas, machte Sonnen und Monde damit, gerade so, wie es sich ergab.
Vaters Soldatenkiste, die er beim Rückzug aus Dänemark ins Gefangenenlager mitgenommen hatte, war inzwischen eingetroffen. Vater war zu den Feiertagen aus Köln auf Urlaub gekommen, wo er nach der Entlassung wieder Arbeit gefunden hatte. Er brachte so manches aus Köln mit, was er bei den Aufräumungsarbeiten ausgegraben und freigelegt hatte, was dem neuen Haushalt sehr zugute kam. So hatte die zwecks Entnazifizierung angeordnete Strafarbeit auch etwas Gutes. Aus der Kiste holte Vater Reste dicken, braunen Leders, das einmal zu Verkleidungen an Kanonen gedient hatte. Vom Sattler im Dorf hatte er sich Sattlerzwirn geholt, und auch Ahle und Nadel hat er von dem freundlichen Handwerker erhalten. Mit seinem Messer, das er an einem Backstein mühsam geschärft hatte, schnitt er das Leder so wie angezeichnet zurecht. Mit der Ahle durchstach er die aufeinander gelegten Lederstücke, führte durch die Löcher die Nadel mit dem Faden, den er dann fest anzog. Es entstand eine Brieftasche, reichlich dick, aber gut für Papiere, die man doch irgendwie bei sich tragen musste. Auch zwei Geldbörsen entstanden so, die beim Sattler noch einen Druckknopf erhielten.
Wir, die größeren von uns sechs Kindern, sortierten Strohhalme, schnitten sie zurecht und banden mit Nähgarn Sterne für den kommenden Weihnachtsbaum. Aus bunter Pappe – wer weiß noch, wie wir an diese gekommen sind – schnitten wir Figuren aus, die als Ersatz für den bei der Flucht zurückgelassenen Baumbehang dienen sollten. Aus gefundenem und naß gemachtem Packpapier wurden Kugeln gerollt, die mit warm gemachtem Knochenleim – das konnte Vater so gut im Wasserbad - bestrichen wurden. Die fertigen Kugeln bestrichen wir mit Silberbronze, die wir beim Dorfschmied ergattert hatten.
Tage zuvor waren wir mit Vater hinaus in den Wald gewandert, haben mit Erlaubnis des Gutsinspektors einen Tannenbaum geschlagen und ihn fröhlich nach Hause getragen. Wieder eine Fichte, die wie alle Jahre - außer 1944, da war es eine Kiefer – vom Boden bis zur Zimmerdecke reichte. Wir sammelten Fichten- und Kiefernzapfen, die jetzt in einer Kiste neben dem Herd zum Trocknen lagen. Vater hatte für den Baum ein Fußkreuz beim Stellmacher anfertigen lassen – er hatte ja selbst nun kein Werkzeug dazu. Der Baum stand nun im Hof unterm Schuppendach, konnte seine Äste ausstrecken.
Die wenigen Tage vor dem Fest waren bei all den Vorbereitungen wie im Fluge vergangen. Aber immer hatten wir keine Kerzen für den Baum. Mutter lief von Haus zu Haus und bat um Baumwollfaden und alte Kerzenreste. Reichlich bepackt, auch mit Lebensmitteln, kehrte sie zurück. Die Kerzenreste kamen in einen Topf in ein Wasserbad (so, wie beim Knochenleim) auf dem Herd, das Stearin wurde aufgeweicht, wurde flüssig. Vater hatte aus Ölpapier aus seiner Kiste über einen Besenstiel Hülsen, also Rohre geformt, in die dann das flüssige Stearin gegossen wurde, wenn der als Docht gedachte Baumwollfaden genau in der Mitte der Hülse hing; der war ja in der Mitte einer Pappscheibe, die als Boden fungierte, angeknotet worden. Einige Kerzen misslangen – Lehrgeld – sie wurde gleich wieder eingeschmolzen. Schließlich lagen reichlich Kerzen, leicht grau gefärbt, auf dem Tisch.
Heiligabend war da. Es hatte noch einmal kräftig geschneit. Wir konnten diesmal nicht aus dem Bescherungszimmer verbannt werden, hatten wir doch für uns acht Personen nur dieses eine Zimmer. So durften wir das erste Mal beim Schmücken des Baumes dabei sein; der hatte in der Enge doch noch seinen Platz finden können. Mit dem beim Gutshofgärtner geholten Bindedraht wurden die bereitliegenden Dekorationsdinge und die Kerzen angebracht. Vater schnitt aus organisiertem Seidenpapier Lametta-Ersatz – jetzt hätte man die von den Bombern damals abgeworfenen Düppelstreifen aus Aluminiumfolie gut gebrauchen können, so wie unsere Kiefer sie einmal abbekam. Vater verteilte das Lametta auf die Zweige.
Vor der Bescherung mussten wir mit Vater einen Spaziergang machen.Wir durchquerten das Emmertal hinüber zum Wald. Wir stapften hinauf zum „kahlen Buckel“ (so haben wir den abgeholzten Hügel getauft, nannten ihn auch den „buhlen Kackel“). Wir hatten einen herrlichen Blick auf „unser“ Dorf, das verträumt im Schneekleid der Ankunft des Heilands entgegensah. Wir spürten die Kälte nicht, wir fühlten eine gewisse Ruhe und … Freude; Freude darüber, dass Vater (so wie alle die Jahre zuvor) nun wieder zu Weihnachten bei uns war, dass Vater seine Verwundung überstanden hatte, dass es eine Weihnacht ohne Fliegeralarm sein durfte. Niemand rührte daran, was wir drei Monate zuvor zurückgelassen hatten. Jeder vertraute auf Mutters Worte, dass es nur wieder aufwärts geht und gehen wird.
Mit von der Kälte geröteten Wangen kehrten wir „heim“. Vater hatte die ganze Zeit unsere zweijährige Schwester getragen, er war recht abgespannt. Als wir im Hauseingang polternd unsere Schuhe vom Schnee befreit hatten und in die Stube eintraten, brannten die Kerzen am Weihnachtsbaum. Mutter hatte auf dem Tisch die kleinen Geschenke aufgebaut. Ich bekam die Brieftasche und die Geldbörse, die älteste Schwester bekam die zweite Geldbörse. Die anderen vier Geschwister bekamen Teddybären, die Mutter aus einem alten Plüschvorhang und Heufüllung gebastelt hatte, ich hatte dazu aus Pappe und Draht die Gelenkscheiben hergestellt. Die mit Zuckerguß bestrichenen Kekse standen zwischen den Geschenken auf dem mit einem Laken bedeckten Gartentisch.
Ich holte meine bei der Flucht mitgenommene Flöte hervor und spielte die uns bekannten Weihnachtslieder an – weder Vater noch Mutter konnten sich ans Klavier setzen, das gab es nun nicht mehr. Wir schauten zum Weihnachtsbaum, dessen Kerzen alleine den Raum beleuchteten; sie gaben mehr Licht her als die Birne da an der Zimmerdecke. Die Geschwister stimmten zu den Lieder mit ein. Alle sangen wieder – nach dem Bombenangriff zu Weihnachten 1943 hatte keiner mehr die Weihnachtslieder anstimmen wollen, es war damals eine fürchterliche Nacht gewesen. Jetzt sangen auch die jüngsten Geschwister mit. Es war richtig Weihnachten geworden, ein Weihnachten in der nun neuen Heimat, friedlich, einfach, fröhlich. Wir gaben uns die Hände und wünschten uns ein frohes Fest (das war uns geblieben).
Keiner von uns ahnte, wie es nun weitergehen würde.
Wie sagte Mutter: „Es geht aufwärts!“
Das ist nun zweiundsechzig Jahre her. Vater starb vor dreizehn Jahren. Heuer ist nun Mutter heimgegangen. Ich hatte diese Geschichte 1987 aufgezeichnet, sie beim Aufräumen im Keller wieder gefunden und eben noch einmal eingetippt. Sie ist hiermit den Eltern und meinen lieben Geschwistern gewidmet. Ganz herzlich ist sie unserem jüngsten Schwesterlein zugedacht, die erst in der Zeit des Aufwärtsgehens, in Bonn, zu uns kam.
Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.
(neu abgefaßt zu Weihnachten 2007, aufbereitet 16. Januar 2009)
Heute noch einmal ausgekramt 16.Dezember 2009
Dritter Advent 1945. Das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. Kein Sirenengeheul, kein Alarm. Das Fest rückte näher. Draußen war es kalt, es lag Schnee auf den Bergen längs dem Emmertal.
Das Schloß Hämelschenburg am ostwärtigen Ortsausgang des Dorfes hatte auf seinen zwei Türmen Schneekapuzen aufgezogen, und auch der kleine Turm der Schlosskirche trug eine Schneehaube. Aus den Schornsteinen der Häuser im Dorf, das sich westwärts um die Straße Hameln-Bad Pyrmont ausstreckte, stieg senkrecht der Rauch empor, es roch nach verbranntem Holz. Unterhalb der Schlosskirche lag die alte Mühle, ihr Rad und Wehr waren voller Eiszapfen.
Wir saßen in dem großen Zimmer, das nach unserer Flucht nun unsere Bleibe war. Dieses Zimmer war vordem die Schlafstube des verstorbenen Tischlermeisters. Als wir hier eingewiesen wurden, war zunächst kein Möbelstück zu finden. Angefangen wurde da im Herbst zuerst mit Gartenmöbeln und zwei großen Bauernbetten. Es gab keine Matratzen, auf die eingelegten Bretter war Stroh aufgeschüttet, das mit weißblau karierten Laken abgedeckt wurde. Die Gartenmöbel fanden ihren Platz wurden ans Fenster gerückt, die Betten standen hinten an der Wand nebeneinander. Neben der Tür stand ein alter eiserner Herd, der für wohlige Wärme sorgte. Mutter stand am Tisch und versuchte aus den von freundlichen Dorfbewohnern abgegebene Backzutaten Kekse zu fabrizieren. Das richtige Werkzeug, das notwendige Geschirr war nicht vorhanden. Mit einer leeren Weinflasche wurde der Teig ausgerollt. Als Form zum Teigausstechen nahm Mutter ein Glas, machte Sonnen und Monde damit, gerade so, wie es sich ergab.
Vaters Soldatenkiste, die er beim Rückzug aus Dänemark ins Gefangenenlager mitgenommen hatte, war inzwischen eingetroffen. Vater war zu den Feiertagen aus Köln auf Urlaub gekommen, wo er nach der Entlassung wieder Arbeit gefunden hatte. Er brachte so manches aus Köln mit, was er bei den Aufräumungsarbeiten ausgegraben und freigelegt hatte, was dem neuen Haushalt sehr zugute kam. So hatte die zwecks Entnazifizierung angeordnete Strafarbeit auch etwas Gutes. Aus der Kiste holte Vater Reste dicken, braunen Leders, das einmal zu Verkleidungen an Kanonen gedient hatte. Vom Sattler im Dorf hatte er sich Sattlerzwirn geholt, und auch Ahle und Nadel hat er von dem freundlichen Handwerker erhalten. Mit seinem Messer, das er an einem Backstein mühsam geschärft hatte, schnitt er das Leder so wie angezeichnet zurecht. Mit der Ahle durchstach er die aufeinander gelegten Lederstücke, führte durch die Löcher die Nadel mit dem Faden, den er dann fest anzog. Es entstand eine Brieftasche, reichlich dick, aber gut für Papiere, die man doch irgendwie bei sich tragen musste. Auch zwei Geldbörsen entstanden so, die beim Sattler noch einen Druckknopf erhielten.
Wir, die größeren von uns sechs Kindern, sortierten Strohhalme, schnitten sie zurecht und banden mit Nähgarn Sterne für den kommenden Weihnachtsbaum. Aus bunter Pappe – wer weiß noch, wie wir an diese gekommen sind – schnitten wir Figuren aus, die als Ersatz für den bei der Flucht zurückgelassenen Baumbehang dienen sollten. Aus gefundenem und naß gemachtem Packpapier wurden Kugeln gerollt, die mit warm gemachtem Knochenleim – das konnte Vater so gut im Wasserbad - bestrichen wurden. Die fertigen Kugeln bestrichen wir mit Silberbronze, die wir beim Dorfschmied ergattert hatten.
Tage zuvor waren wir mit Vater hinaus in den Wald gewandert, haben mit Erlaubnis des Gutsinspektors einen Tannenbaum geschlagen und ihn fröhlich nach Hause getragen. Wieder eine Fichte, die wie alle Jahre - außer 1944, da war es eine Kiefer – vom Boden bis zur Zimmerdecke reichte. Wir sammelten Fichten- und Kiefernzapfen, die jetzt in einer Kiste neben dem Herd zum Trocknen lagen. Vater hatte für den Baum ein Fußkreuz beim Stellmacher anfertigen lassen – er hatte ja selbst nun kein Werkzeug dazu. Der Baum stand nun im Hof unterm Schuppendach, konnte seine Äste ausstrecken.
Die wenigen Tage vor dem Fest waren bei all den Vorbereitungen wie im Fluge vergangen. Aber immer hatten wir keine Kerzen für den Baum. Mutter lief von Haus zu Haus und bat um Baumwollfaden und alte Kerzenreste. Reichlich bepackt, auch mit Lebensmitteln, kehrte sie zurück. Die Kerzenreste kamen in einen Topf in ein Wasserbad (so, wie beim Knochenleim) auf dem Herd, das Stearin wurde aufgeweicht, wurde flüssig. Vater hatte aus Ölpapier aus seiner Kiste über einen Besenstiel Hülsen, also Rohre geformt, in die dann das flüssige Stearin gegossen wurde, wenn der als Docht gedachte Baumwollfaden genau in der Mitte der Hülse hing; der war ja in der Mitte einer Pappscheibe, die als Boden fungierte, angeknotet worden. Einige Kerzen misslangen – Lehrgeld – sie wurde gleich wieder eingeschmolzen. Schließlich lagen reichlich Kerzen, leicht grau gefärbt, auf dem Tisch.
Heiligabend war da. Es hatte noch einmal kräftig geschneit. Wir konnten diesmal nicht aus dem Bescherungszimmer verbannt werden, hatten wir doch für uns acht Personen nur dieses eine Zimmer. So durften wir das erste Mal beim Schmücken des Baumes dabei sein; der hatte in der Enge doch noch seinen Platz finden können. Mit dem beim Gutshofgärtner geholten Bindedraht wurden die bereitliegenden Dekorationsdinge und die Kerzen angebracht. Vater schnitt aus organisiertem Seidenpapier Lametta-Ersatz – jetzt hätte man die von den Bombern damals abgeworfenen Düppelstreifen aus Aluminiumfolie gut gebrauchen können, so wie unsere Kiefer sie einmal abbekam. Vater verteilte das Lametta auf die Zweige.
Vor der Bescherung mussten wir mit Vater einen Spaziergang machen.Wir durchquerten das Emmertal hinüber zum Wald. Wir stapften hinauf zum „kahlen Buckel“ (so haben wir den abgeholzten Hügel getauft, nannten ihn auch den „buhlen Kackel“). Wir hatten einen herrlichen Blick auf „unser“ Dorf, das verträumt im Schneekleid der Ankunft des Heilands entgegensah. Wir spürten die Kälte nicht, wir fühlten eine gewisse Ruhe und … Freude; Freude darüber, dass Vater (so wie alle die Jahre zuvor) nun wieder zu Weihnachten bei uns war, dass Vater seine Verwundung überstanden hatte, dass es eine Weihnacht ohne Fliegeralarm sein durfte. Niemand rührte daran, was wir drei Monate zuvor zurückgelassen hatten. Jeder vertraute auf Mutters Worte, dass es nur wieder aufwärts geht und gehen wird.
Mit von der Kälte geröteten Wangen kehrten wir „heim“. Vater hatte die ganze Zeit unsere zweijährige Schwester getragen, er war recht abgespannt. Als wir im Hauseingang polternd unsere Schuhe vom Schnee befreit hatten und in die Stube eintraten, brannten die Kerzen am Weihnachtsbaum. Mutter hatte auf dem Tisch die kleinen Geschenke aufgebaut. Ich bekam die Brieftasche und die Geldbörse, die älteste Schwester bekam die zweite Geldbörse. Die anderen vier Geschwister bekamen Teddybären, die Mutter aus einem alten Plüschvorhang und Heufüllung gebastelt hatte, ich hatte dazu aus Pappe und Draht die Gelenkscheiben hergestellt. Die mit Zuckerguß bestrichenen Kekse standen zwischen den Geschenken auf dem mit einem Laken bedeckten Gartentisch.
Ich holte meine bei der Flucht mitgenommene Flöte hervor und spielte die uns bekannten Weihnachtslieder an – weder Vater noch Mutter konnten sich ans Klavier setzen, das gab es nun nicht mehr. Wir schauten zum Weihnachtsbaum, dessen Kerzen alleine den Raum beleuchteten; sie gaben mehr Licht her als die Birne da an der Zimmerdecke. Die Geschwister stimmten zu den Lieder mit ein. Alle sangen wieder – nach dem Bombenangriff zu Weihnachten 1943 hatte keiner mehr die Weihnachtslieder anstimmen wollen, es war damals eine fürchterliche Nacht gewesen. Jetzt sangen auch die jüngsten Geschwister mit. Es war richtig Weihnachten geworden, ein Weihnachten in der nun neuen Heimat, friedlich, einfach, fröhlich. Wir gaben uns die Hände und wünschten uns ein frohes Fest (das war uns geblieben).
Keiner von uns ahnte, wie es nun weitergehen würde.
Wie sagte Mutter: „Es geht aufwärts!“
Das ist nun zweiundsechzig Jahre her. Vater starb vor dreizehn Jahren. Heuer ist nun Mutter heimgegangen. Ich hatte diese Geschichte 1987 aufgezeichnet, sie beim Aufräumen im Keller wieder gefunden und eben noch einmal eingetippt. Sie ist hiermit den Eltern und meinen lieben Geschwistern gewidmet. Ganz herzlich ist sie unserem jüngsten Schwesterlein zugedacht, die erst in der Zeit des Aufwärtsgehens, in Bonn, zu uns kam.
Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.
(neu abgefaßt zu Weihnachten 2007, aufbereitet 16. Januar 2009)
Heute noch einmal ausgekramt 16.Dezember 2009
Kommentare (3)
ehemaliges Mitglied
.....Wir geben uns die Haende und wuenschten uns ein frohes Fest
DAS WAR UNS GEBLIEBEN .....das ist eigenes GUTE ...was wir in der Familie haben koennen....Henryk
DAS WAR UNS GEBLIEBEN .....das ist eigenes GUTE ...was wir in der Familie haben koennen....Henryk
tilli †
Lieber Ortwin !
Du hast mit deinen Geschichten bewiesen ,wie wichtig die Familie ist. Wer die Erinnerungen pflegt, wird auch in den Nächsten Generationen leben,
Immer wenn ich deine Geschichten lese, wird es mir bewußt,das egal was kommt,das Leben wird weiter gehen,
Schade, das wenig Menschen solche Chroniken der Familie aufbewahren.
Viele Grüsse Tilli.
Du hast mit deinen Geschichten bewiesen ,wie wichtig die Familie ist. Wer die Erinnerungen pflegt, wird auch in den Nächsten Generationen leben,
Immer wenn ich deine Geschichten lese, wird es mir bewußt,das egal was kommt,das Leben wird weiter gehen,
Schade, das wenig Menschen solche Chroniken der Familie aufbewahren.
Viele Grüsse Tilli.
So war dieses Weihnachten ganz stark prägend: hier Verlust der gewohnten Umgebung, da ein Neuanfang für acht Menschenkinder in eineinhalb Zimmern.
2009: Besuch von Hämelschenburg:
Und nun, heute bin ich wieder zurück in Berlin. Meine älteste Schwester hat den Thüringer (oder "Dresdner") Stollen nach Großmutters und Mutters Rezept fabriziert, Hermes hat ihn von Bayern nach Berlin expediert, er ist da, liegt noch eingepackt im kühlen Fensterbrett (so'ne große Kaffeedose, wie sie es in Eichwalde gab, fehlt!) und wird erst am Ersten Weihnachtstag angeschnitten - wenn Vater noch da wäre, müssten wir unbedingt einen Teil für ihn bis nach Sylvester aufbewahren "Hast du noch ein Stückchen für mich?"
Doch, ein paar Tränen werden schon fließen bei der Erinnerung an die Jahre und das Glück wieder zu Hause zu sein.
ortwin