Das Sein
Das Sein 5.12.1988
Sie saß ihm gegenüber. Ihre braunen Augen starrten ihn unverwandt an. Sie lieben sich platonisch. Er erwiderte ihren Blick. Er beherrschte sie mit seinen stahlblauen Augen. Trotzdem übte er keine Gewalt aus. Sie belauerten sich wie zwei Wildkatzen, die auf den Zeitpunkt warten, an dem sie zu dem Sprung auf ihre Beute ansetzen könnten. Der Zeitpunkt ist da.
Er sagt zu ihr: „Steh` auf.“ Laute, aggressive Musik tönt aus den Lautsprechern im Raum. Grell schießt die Neonlampe ihre Blitze durch das Zimmer. Der Boden ist bedeckt mit einem weißen, flauschigen Teppich. Er steht vor ihr. Ihre Blicke baden ineinander. Seine Hand öffnet die Knöpfe ihres Kleides. Er streift es von ihren Schultern. Sie lächelt. Das Kleid raschelt, es fällt zu Boden. Sie steht nackt vor ihm. Jetzt schließt er die Augen. Auch er zieht sich aus. Dann: seine Hände berühren sie zärtlich und sie genießen das weiche, lebendige Fleisch. Sein Atem von seinem Mund streift ihr Gesicht. Warm und fest ruhen ihre Lippen aufeinander. Sie stehen eng umschlungen. Dann ein Ruck, eine Bewegung. Der Bann ist gebrochen. Er führt sie sanft. Ihre Hände umschließen sich. Im Bett. Dunkelheit. Sie liegen nebeneinander. Tränenströme rinnen aus ihren Augen. Er streichelt sie und küsst ihre Tränen von den Augen.
Dann: ihre beiden Körper sind fest aneinandergepreßt. Jetzt. Erschöpftes Atmen. Gelöste Vergangenheit. Taumelnde Gegenwart. Feste Zukunft. Licht bricht herein. Er steht auf. Er zieht sich an. Der Morgen ist frisch und klar. Das Meer draußen brandet an die Klippen. Möwen kreischen laut. Er sieht den Horizont. Sein Blick weitet sich. Er sagt zu ihr: „Ich bin ich. Wer bin ich?“
(Heidi Grünwedl)
Kommentare (3)
@merlin52stgt
damals war ich schwer verliebt und wusste, dass ich in die Psychiatrie muss. Ich glaube, das war der Auslöser dieser Geschichte.
Liebe Grüße
Heidi
@reflex @Manfred36
danke für eure Herzen zu meinem Beitrag s.o.! Hab mich sehr gefreut darüber.
Lg., Heidi
sehr sinnlich erotisch und poetisch