Da war ich nun umgestiegen


Da war ich nun umgestiegen. Umgestiegen von der vierten Klasse der Volksschule in die nebenan beherbergte Oberschule für Jungen. Die Durchgänge auf den Etagen der aneinandergereihten Bau-komplexe waren durch Pendeltüren getrennt, und die waren grundsätzlich verschlossen. Bisher hatten wir Volksschüler den Zutritt nur im alten Teil. Und nun fanden wir, die nach bestandener Auswahlprü-fung in die Oberschule wechseln durften, im neueren Teil des Gebäudes unseren Klassenraum.

Bevor wir überwechseln konnten, gab es – das war 1941 – besonders lange Ferien. Die Schuljahre endeten bis dahin zu Ostern. Und genau zu diesem Zeitpunkt wechselte man über zum heute noch gegebenen Schuljahresbeginn nach den Sommerferien, also zum Herbst.
Es gab nun mittwochs und sonnabends Dienst beim Jungvolk. Als es zur Pimpfenprobe los in die Mark Brandenburg ging, durfte ich für das Gepäck, die Tornister, unseren Handwagen mitnehmen. Es ging über Königs Wusterhausen zum Springsee in ein von uns aufgebautes Zeltlager, so mit Früh-sport, Waldlauf und Lagerfeuer, also mit allem, was ein Jungenherz begeisterte.

Mich ließen die Eltern, besser rangierte Mutter das, weil Vater eingezogen war, zu Ferien bei der Großmutter im Harz reisen. Mutter setzte mich im Anhalter Bahnhof in den Zug nach Halle an der Saale. Ich mußte ein Pappschild um den Hals tragen, eine Reisende im Abteil wurde gebeten, mich in Halle zum richtigen Zug nach Sangerhausen, Berga-Kelbra und Nordhausen mitzunehmen. Das Schild um den Hals, ich fuhr doch in Pimpfen-Uniform, versteckte ich, sobald die weinende Mutter bei Ausfahrt des Zuges nicht mehr zu sehen war. Meine erste Alleinreise. Unbeschwerte Ferien, sogar eine kleine Kammer bot mir die Freiheit zum Lesen bis in die Nacht hinein, was zu Hause mit den Geschwistern zusammen nicht so möglich war. Auch hatte ich ein Taschengeld mitbekommen, nur: es war das erste Mal, daß ich soviel Geld selbst verwalten durfte und sollte; die Folge: ich lud meine Vettern da im Städtchen im Südharz zum Eisessen ein, ich mußte bezahlen, mein Gott, wie da die Reisekasse bei den Portionen Wassereis kleiner geworden war.
Und dann kam der erste Schultag. Es waren nicht wenige aus der alten Klasse, die mit hinüber wech-selten. Wir suchten uns jeder einen Arbeitsplatz aus, nicht soweit vorne, aber auch nicht ganz hinten, nicht am Fenster, aber auch nicht in der Mitte. Und da saßen wir nun, warteten gespannt auf das Neue Gesicht, auf den Lehrer, der uns hier in Empfang nahm.

Ja, wer war unser erster Lehrer hier?! Schon das Wechseln der Herren und Damen entsprechend den Unterrichtsthemen und –stunden! Ob ich das heute – nach achtundsechzig Jahren noch zusammen kriege? Und wer kennt heute noch die Herrschaften?!
Da war doch das Fräulein Jacob. Sie kam aus Charlottenburg heraus nach Eichwalde. Ihr Unterricht war spannend und machte richtig Spaß – nach dem Beherrschen der erst drei vier Vokabeln waren wir schon echte Engländer geworden. Und du glaubst es nicht: als wir nach Kriegsschluß Eichwalde verließen, ging neben meiner Blockflöte auch das Schulbuch „Current English, Grammar“ mit, und … als ich 1986 meinen Vetter in Velten besuchte, zeigte mir seine Frau das Schulbuch „Current English“, ein verklärtes Wiedersehen.

Lasse mich nicht ausschweifen – zurück nach Eichwalde:

Lehrer Schikorra, ein kriegsversehrter Lehrer aus dem Ersten Weltkrieg leitete uns in Sport und gab in noch irgendeinem anderen Fach Unterricht. Er benutzte sehr oft sein Schlüsselbund als Warnzeichen, das dann und wann durch die Klasse flog.

Ein schon längst pensionierter Professor – soll ein Österreicher gewesen sein – leitete den Geografie-Unterricht. Er erzählte von seinen Kriegserlebnissen in Vorderasien, so mit Bagdad-Bahn und Bosporus – spannend, aber rein informativ. Wir hatten die kleinen Kastanienfrüchte, die uns auf dem Schul-weg durch die Grünauer Straße vor die Füße kamen, aufgesammelt und feuerten diese gegen die am Kartenständer hängende Landkarte immer dann, wenn des Professors Zeigestock über die Karte fuhr und nicht zu uns sah. Eine Gaudi, zumal Herr Professor seine Sätze stets zweimal sagte.
Wenn es hoch hinauf in die Aula ging, wurde gesungen, der Studienrat intonierte am Flügel. Reine Erholung, gab es doch dazu weder Schulaufgaben noch Übungen vorzubereiten. Überhaupt die Schularbeiten: Also die brauchte keine Lehrkraft an Mittwoch und Sonnabend anzubringen, weil wir jungen Pimpfe da doch an den Nachmittagen Dienst im Jungvolk hatten.

Damals waren die Toilettenhäuschen von draußen im Schulhof erreichbar. Im Winter gerade noch warm, aber sonst der fiese Geruch von Urrin. Da wurden oft im Stehen, die Kladde auf die Fenster-bank gelegt, in den Pausen noch ganz schnell Schularbeiten ausgetauscht. Das war nicht so mein Ding.
Das Pauken daheim machte wenig Spaß. Dieses Auswendiglernen, dieses Aufsätzeschreiben – es funktionierte nicht, Vaters Präsens fehlte; wenn ich heute die Briefe meiner Eltern nachlese, dann versetzt mich das zurück in diese Zeit, zurück in die damaligen Gefühle und Sehnsüchte, besonders dann, wenn dann die empfangenen Noten festgehalten sind. Ja, manche reden sich raus mit der an-gehenden Pubertät, ich kann mich nicht erinnern, diese Argumentation irgendwann als Entschuldigung zu sehen. Eher gab es einen Tanz mit den Rohrstock hinter/unter/auf meinem Rücken um unseren Tisch im Eßzimmer, als ein Blauer Brief eingetroffen war „Nachsitzen wegen nicht vorgelegte Hausaufgaben, wegen Vergeßlichkeit und so“. Vater ging einmal aus sich heraus, als er zum Urlaub aus Jüterbog zu Hause war.

Bei Lehrer Zinngraf, der im Jungvolk und bei der Hitlerjugend Stammführer war, hatten wir Werkunter-richt. Weil uns zum Bau unserer Segelflugzeuge etwas fehlte, sind wir nach Berlin zum Belle-Alliance-Platz (heute Mehringplatz) gefahren, haben Alleskleber und Spannlack eingekauft – für mich damals das erste Mal, von der Halle des Görlitzer Bahnhofs hinauf zu gehen zur Hochbahn (der heutigen U1), ein Erlebnis. – Zu Weihnachten sollten wir mit Laubsägearbeiten Geschenke für andere Kinder fertigen. Ich beklagte mich bei Mutter, daß ich dann doch zu Hause nichts mehr basteln könnte. Mutter ging zu Zinngraf und ich wurde von dieser Arbeit befreit. Denn zu Hause hieß es, die vom Vater in seiner Freizeit in Jüterbog ausgesägten Figuren, einen ganzen Bauernhof mit Tieren und Menschen, mit Mutter im nicht geheiztem Eßzimmer – es gab ja kaum Kohlen – die Figuren anzupinseln, der Lack trocknete ganz langsam. Die Geschwister durften im versperrten Eßzimmer nicht dabei sein, nur ich als „Stellvertreter des Vaters“, als „Großer“ durfte der Mutter helfen.

Zu Weihnachten gab es einen neuen Schlitten, damit hatten wir zwei. Doch so ein Aufruf, Ski und Schlitten und Winterkleidung bei der Gemeinde abzugeben, nahm uns den neuen Schlitten gleich wieder fort. Kaum, daß wir ihn eingeweiht hatten. Wir rückten immer enger zusammen, Schlafzimmer, Eßzimmer, die Bibliothek und die Mädchenkammer ungeheizt, an den Wänden in der Küche sah man Eiskristalle. Gut, daß wir im Obergeschoß freistehende Öfchen hatten. Selten wurde der Badezimmer-ofen angefeuert. Wie schön war es dann, als der Frühling einrückte. Und damit gab es auch kein Frei in der Schule wegen Fehlens der Feuerung.

Nun hatten wir auch Latein. So gar nicht nach meinem Geschmack, war es doch ein reines Paukfach, so ohne greifbare Anwendung wie das bei Englisch der Fall war. Studienrat Kröhnke, tja, gute Noten bekam ich bei ihm nicht, es gab auch keine Vergünstigung, wo ich doch auch bei ihm den NS-Schulungsbrief ablieferte, so eine Aufgabe, die ich vom Vater übernommen hatte, nachdem man ihn, den Blockleiter (das habe ich alles erst später kapiert) eingezogen hatte. Mutters Bitte an ihn, mir doch Nachhilfe zu verpassen, entsprach er nicht. Heute möchte ich die schlechten Noten auf meine damali-ge Faulheit für Sprachen zurückführen (ich bedaure sehr, Sprachen nicht erlernt zu haben, das Eng-lisch wuchs mit dem Praktikum nach dem Kriege).

Jetzt waren wir schon vier Kinder zu Hause. Mutter reiste in den Sommerferien 1942 in Glatzer Bergland zur Kur, mich nahm sie mit. In meinem Gepäck fehlte das Schulzeugnis, ich wagte nicht, ihr die Schmach anzuzeigen: ich durfte die Klasse noch einmal wiederholen. Ich wanderte mit heimlichen Gewissenbissen mit Mutter durch’s Altvatter-Gebirge, so eine wundervolle Zeit, ich hatte Mutter einmal ganz alleine für mich. Ich nahm es auf mich, als ich eine Woche früher als Mutter nach Hause gefahren war, mir die Unterschrift zum Zeugnis bei der Mutter meines Schulfreundes zu erschleichen. Ein halbes Jahr später waren wir Geschwister zu fünft.

Das Jahr 1943 war für uns ausgefüllt mit Schule, Dienst, Fliegeralarm, Dächerdecken, also lauter Akti-vitäten, Zeit zum Spielen, Frieden hatten wir nicht. Selten waren es Tagesangriffe, die uns aus der Schule trieben, dafür aber kamen die Bomber entweder gegen zehn Uhr abends oder wir wurden frühmorgens gegen vier Uhr wachgeheult. Ein bis zwei Stunden lief der Zauber. Jedes Mal hieß es, sich flugs anzuziehen – im Dunkeln, die Sachen mußten schön ordentlich bereit gelegt sein. Und jedes Mal war ich nach der Entwarnung der Erste, der ums Haus hinein in die Wohnung gehen durfte, nachzusehen, ob uns nichts getroffen hat, ob da im Haus wohl eine Brandbombe und so eingeschla-gen hat – nicht ohne Schiß in der Hose, war ich doch Pimpf, der keine Angst haben durfte.

Keine Angst! Am 23.Dezember 1943 gab’s abends den obligatorischen Luftangriff. Damit hätten wir ja unsren Alarm hinter uns. Doch denkste: in der Nacht zum Heiligabend kamen die Scheißer schon wieder! Und obendrein: die Eisenbahn-Flak vom Betriebsbahnhof Schöneweide, deren Ringe an den Geschützrohren wir beim Vorbeifahren immer bewunderten – jeder Ring ein Abschuß! – die Flak stand hier in Eichwalde auf dem Bahnhof. Jeden Schuß, den die da abfeuerten, erlebten wir gemeinsam mit den Bombeneinschlägen mit dem Heben der Kellerdecke und dem damit verbundenen Rieseln des Deckenputzes zwischen den Schalbrettern der Abstützung, die unser Vater mit seinem Vetter, einem Obersteiger im Kohlenpott, eingerichtet hatte. Dieses Mal war Eichwalde dran, und nicht zu knapp. Ich habe darüber schon einmal in einer anderen Geschichte geschrieben.

Und 1944, am 16.Januar war Eichwalde wieder Opfer eines Luftangriffes. Unsere Mutter verfügte unsere Evakuierung in den Odenwald. So kamen wir nach Oberkainsbach. Unsere Bleibe fanden wir bei den Arras‘ auf einem Bauernhof, ein Zimmer und eine Kammer. Wir lernten das Plumpsklo kennen, wir erlebten hautnahe das Landleben zu bestehen.
Mit Mutter fuhr ich noch einmal nach Berlin zurück. Die Hin- und Rückfahrten erfolgten wieder nachts. Wir sahen bei Leuna die Verwüstungen links und rechts vom Bahndamm, von Bombeneinschlägen, Fahrdrahtmasten waren umgeknickt, verbogen, die Züge wurden von Dampfloks anstelle von elektri-schen Lokomotiven geschleppt.

Schwester Bärbel war zunächst in Erbach geblieben, wo sie da (ich glaube) in Michelstadt zur Schule ging. Ich dagegen wanderte jeden Morgen die fünf Kilometer die Straße runter nach Niederkainsbach, wo mich dann mit anderen Schülern das „Odewäller Lies‘sche“, die Kleinbahn zwischen Reichelsheim und Reinheim bis nach Großbieberau mitnahm. Da besuchte ich das Gymnasium. Nach Schulschluß fuhr ich mit dem Nachmittagszug erst nach Reinheim mit, der dort wendete, einige Zeit pausierte, ehe die Dampflok den gemischten Zug, Personen- und Güterwagen, wieder nach Reichelsheim zurück schleppte. In dieser Pause stand ich dann oft am Kiosk, wo man die Luftlage hören konnte, die sich über den Drahtfunk ausbreitete, man hörte da immer das Geräusch eines Weckers, das von durchge-gebenen Luftlagemeldungen unterbrochen wurde. Immer öfter sah man nachmittags Bomberpulks hoch oben am Himmel ziehen, weiße Kondensstreifen nach sich ziehend. Aus Angst erkannt zu wer-den, bewegte man sich dann von Straßenbaum zu Straßenbaum springend. So war ich einmal heil-froh, zu Hause angekommen zu sein, als eine Me 110 sich zwischen die ostwärts fliegenden Pulks klemmte und auf solch eine fliegende Festung ballerte – wir waren fasziniert von diesem Schauspiel. Eine Tragfläche brach ab, wie in der Wochenschau!, das getroffene Flugzeug kippte, Fallschirme öff-neten sich, ein Fallschirm und seine Last verfingen sich in der dahinten vorbeiführenden Hochspan-nungsleitung, ein Lichtbogen, das Ganze blieb in den Leitungen hängen. Wir erlebten die Einflüge auf Würzburg, Schweinfurt, Nürnberg, tags wie nachts. Wir lauerten im Kellergewölbe des Bauernhauses, spürten die Erschütterungen bis her von Köln. Aber da oben am Berg bei den Arras‘ fielen noch keine Bomben.

Vater kam in seinem Urlaub nach Oberkainsbach. Wir wanderten mit ihm durch die schönen Wälder und Auen des Odenwalds. Eine kurze und schöne Ferienzeit. Wir sammelten Himbeeren, Erdbeeren, Hei-delbeeren und Preißelbeeren. Es wurde Alles eingekocht, die Blaubeeren wurden zu Weingärung angesetzt.
D-day! Besorgt war man durch die Invasion in der Normandie, auch wenn das Alles noch weit weg war. Dann kam der 20.Juli 1944, das Attentat auf den „Führer“. Die Fronten rückten im Westen, im Süden und im Osten immer näher heran. Mutter organisierte unseren „Rückzug“. Ich frage mich noch heute, wie es Mutter fertig gebracht hat, zu damaliger Zeit einen halben, gedeckten Güterwagen zu organisieren, der unseren Hausrat von Niederkainsbach nach Eichwalde transportierte.

Der „Rückzug“ hatte noch einen anderen Grund: Die Kinder der Hauseigentümer in Eichwalde hatten sich nach ihrer Ausbombung in Britz in unsere Wohnung einquartieren lassen, so daß unser Vater zur sofortigen Rückkehr rief. Nun war es eng in dem Haus in der Schillerstraße geworden, wir hatten ein Zimmer aufgeben müssen. Und vieles mehr bedurfte eines quälenden Zusammenlebens.

Unsere Ukrainerin Wera war bei den Arras zurück geblieben, sie war auf dem Bauernhof wichtiger. Auch war das Verhältnis uns gegenüber mit näher rückender Front aufsässiger geworden. Für sie kam dann in Eichwalde Aurelia, eine Litauerin, eine Offiziersfrau, zu uns. Eine ganz liebe Frau, ich gestehe ehrlich: wir waren oft sehr rüpelhaft zu ihr, haben ihre liebevolle Art ganz schön mißachtet.

1945, Winter. Mutter war beim Roten Kreuz ständig im Einsatz. Es gab ständig durchreisende und landende Flüchtlinge aus dem Osten zu versorgen und ggf. unterzubringen. In dieser Zeit versorgte uns Aurelia. Ich war mit anderen Schulkameraden vorzeitig zur Nachrichten-H.J. gewechselt. Vom Gang zur Schule hielten wir wenig. Vielmehr war es eine tolle Aufgabe, sich neben den Hilfsarbeiten nach Luftangriffen auch mit der Nachrichten-Technik zu befassen.

Als die Front immer näher rückte, es gab ja jetzt auch den Volkssturm, bekamen wir Jungs den Auf-trag, Fernmeldemittel aus dem OKH, dem Oberkommando des Heeres in Zossen nach Eichwalde zu holen. Also fuhren wir mit S- und Vorortbahn dorthin. Durch mehrere Sperren ließ man uns zu dem Depot vor. Wir puckelten uns mit den nicht gerade leichten Kabeltrommeln ab. Die Bahner in der S-Bahn frotzelten, was wir denn nach Eichwalde bringen wollten, da wäre doch schon der Russe. Wir haben uns nicht irre machen lassen, sind mit unserem Gepäck auch ungeschoren in Eichwalde ange-kommen. Wir zogen Strippen von Straße zu Straße, es hat nicht interessiert, was für wen. Wir bauten eine Feldvermittlung im Gutshaus von Schulzendorf auf, betrieben diese, bis die Alten uns bei Flieger-alarm in den Keller schickten, wir waren reichlich sauer. Aber diese Arbeit behütete uns vor dem Pan-zergraben ausheben.

Am 20:April 1945, „Führers“ Geburtstag, wurden wir in der Turnhalle feierlich vereidigt, von da ab also wirklich Hitlerjungen. Mutter wollte Tage später die Marken für Tabakwaren einlösen, die sollte der Vater noch nach Dänemark geschickt bekommen. Als Mutter sich zurück zur Schillerstraße bewegte, kamen sowjetische Jagdbomber vom Typ IL-2 die Schillerstraße entlang geflogen, beschossen in mehreren Anflügen unsere Mutter, während uns Aurelia allesamt mit unseren Köpfen in der Küche unter den hochbeinigen Elektroherd drückte, wir konnten ja den Keller außen herum ums Haus nicht mehr erreichen. Mutter hatte in ihrem schwarzen, weithin leuchtenden Mantel den Anflügen nicht entweichen, die Gartentore der anliegenden Grundstücke waren versperrt. In einer Anflugpause erreichte sie unser Haus, wohlbehalten! Auf der Straße entdeckten wir nicht explodierte Bomben. Mutter’s „lieber Gott“ hatte wieder aufgepaßt!

Einige von uns Jungen wollten ab nach Potsdam, wir wollten uns freiwillig zum Dienst melden. Doch das verhinderten unsere Mütter – zumindest meine Mutter, die mich im Keller in Arrest nahm. Diese Enttäuschung begoß ich mit dem aus dem Odenwald mitgebrachten Blaubeerwein – wie viele Fla-schen fehlten dann?

Wir Jungs hatten Bleiglanz gegossen und bauten uns Detektor-Empfänger. Und wir hatten noch einmal Glück bei den Versuchen, etwas zu empfangen:

„Hier ist der Wehrwolf-Sender! Wien war und wird wieder deutsch! Berlin ist und bleibt deutsch! Wir kommen in Kürze wieder!“

War das ein Bubenstreich? Oder war es tatsächlich noch so passiert? Wir haben das nicht geträumt, was da aus dem Kopfhörer scholl.

Die Artillerie feuerte von der Ostseite des Zeuthener See nach Eichwalde hinein. Man sagte, es wäre noch SS im Ort gewesen. Eine Granate schlug bei Nachbars ein, riß so in Höhe der Erdgeschoßdecke ein Loch in die Hauswand. Genau zu diesem Zeitpunkt war ich auf dem Weg von der Wohnung ums Haus zur Kellertreppe im Hof. Es riß mich zu Boden. Ich habe mich erschrocken aufgerappelt und bin in den Keller gewetzt.

In der Nacht hörte man MG-Feuer von Straße zu Straße wandern. Die Russen kamen nach Eichwalde rein. Der Nachbar hinter uns will mit einem Russen gesprochen haben „Uri, Uri“. Am nächsten Tag hingen Bettlaken aus den Fenstern, auch rote Fahnen, die des Hakenkreuzes entledigt waren, sollten die Eroberer begrüßen. Mutter erzählte mir später, daß ich wie ein wildgewordener Handfeger getobt habe, ihr mit meinen Fingernägeln heulend Kratzer in die Schultern verpaßt hätte. Ich konnte es nicht fassen, daß da plötzlich Alles aus war.

Mutter trug nicht mehr die Tracht des Roten Kreuzes. Nur ich brauchte Zivilklamotten, auf die bisher doch verzichtet worden war, weil es die Uniformteile für die H.J. doch für die Hälfte der Kleiderkarten-punkte zu bekommen waren. Wir mußten uns beim Grüßen das Armhochheben und das „Heitler“-Rufen abgewöhnen – ausgerechnet ich grüßte noch einmal die Familie Schumann in der Schmöckwitzer Straße mit dem „Deutschen Gruß“, als ich mit einem Kameraden hinter zwei Russen hinterher lief, die „mit unseren Geräten“ die Fernmeldeleitung aufwickelten – Gott sei Dank! Nichts passiert.

Eine bittere Zeit, ohne Fliegeralarme und ohne Essen setzte ein. Alles wurde umgekrempelt. Mutter war der Dreh- und Angelpunkt, unser uns verbliebener Ankerplatz.

Die immer positive Denkweise unserer Mutter krempelte uns mit jedem Tag des „gewonnenen“ Frie-dens um. Wir lernten von ihr in alledem was nun kam, auf das Morgen zu bauen. Das war neben dem „Uns das Leben zu schenken“ uns dazu auch den Lebensmut durch Dick und Dünn mitzugeben.

Und wir sieben Geschwister wollen diesen Mut immer weiter geben.


Anzeige

Kommentare (1)

lachtaube weiterlesen können. Ich habe hier noch nicht so viel in den Erinnerungen gelesen, werd ich nun öfter
Frohe Weihnachten für dich Angelika

Anzeige