Borkum, "meine" Insel
Dies ist kein Bericht über Borkum, sondern ein kleiner Einblick, wie es für mich zu dieser "Liebe" kam. Wer Borkum kennt, dem brauche ich dieses "Eiland" nicht vorzustellen. Wer die Insel in der Emsmündung nicht kennt, müsste, um sie kennenzulernen, schon ein paar Mal mindestens ein, zwei Wochen Zeit dort verbringen, um nicht nur die Strände, den städtischen, aber doch ländlichen Charakter des Ortes zu entdecken. Auch die Weite der Salzwiesen, Weiden oder den waldähnlichen Weg vom Hafen in den Ort mit seinen Eigenarten, der großteils entlang den Gleisen des Inselzügleins entlang führt, lohnt es, mit dem Fahrrad oder in langen Fußmärschen zu erkunden. Es ist ein großer Unterschied, diese Insel in den Jahreszeiten zu erleben.
Ich könnte es nicht erklären, weshalb gerade diese ostfriesische Insel mir so ans Herz gewachsen ist. Ich kenne ja auch Juist, Norderney, Baltrum, Wangerooge oder Spiekeroog. Auch Sylt oder Pellworm an der Schleswig Holsteinischen Küste konnten sich nicht so in mein Herz schleichen, wie Borkum.
Vielleicht waren es ja die Erlebnisse, die so frei für uns Kinder in der Nachkriegszeit, kombiniert mit den Trümmern zuhause, die nicht nur als zerstörte Häuser-Ruinen Sichtbarkeit hatten, sondern auch durch die Leidenszeit unserer krebskranken Mutter nun plötzlich greifbar waren.
Die Erwachsenen – Oma, Vater und Krankenschwester – hatten ein schweres Jahr hinter sich gebracht, in dem sie auch noch darauf zu achten hatten, dass das Leben für uns Kinder nicht zu schwer wurde. Das ist ihnen durchaus gelungen. Ich kann allerdings nicht beurteilen, wie meine vier Jahre ältere Schwester – damals knapp elf – das Geschehen verarbeitet hat. Ich kenne es nicht anders, als dass sie, wenn die Erwachsenen es nicht mitbekamen, mich für die Krankheit unserer Mutter schon lange verantwortlich machte. Sie kam auf ein gymnasiales Internat für Mädchen. Sie hatte die Grundschuljahre mit guten Zensuren abgeschlossen, ich war Erstklässlerin geworden, und um die dauernden Reibereien zuhause diesbezüglich auszuschließen, unserer todkranken Mutter diesen zänkischen Lärm nicht zuzumuten, wählte unser Vater dann diesen Weg.
Nach der Beerdigung unserer Mutter mitten im Sommer 1951 gab es die großen Ferien. Alle waren psychisch geschafft und daher wählte unser Vater – wohl in Erinnerung an seine Kinderferien an der ostpommerschen Küste – die dem Münsterland weitaus nähere Nordseeküste, eben die Insel Borkum.
Schon die Bahnfahrt nach Emden-Außenhafen war für mich spannend! Damals konnte man noch die Zugfenster öffnen, herunterdrücken, was ich auch ausgiebig tat – mit dem Ergebnis, bei der Ankunft in der Pension eine heftige Bindehautentzündung entwickelt zu haben! Ganz unschuldig wird auch die darauf folgende dreistündige Überfahrt mit der Schiffsfähre bei Windstärke 10 nicht gewesen sein. Der Sturm begleitete auch noch die folgenden zwei Tage das Inselerleben. Es war für mich herrlich, festzustellen, mit meinen gerade sieben Jahren beim Herunterlaufen der Straße von der Strandpromenade zum Borkumer Leuchtturm zwei Meter lange Schritte machen zu können! Der Sturm sorgte ja dafür, dass meine Schritte länger waren als üblich. Auch die Abbiegung des Endes der Strandpromenade zum Südstrand erforderte einen – dem Sturm sei Dank – erheblichen Kraftaufwand! Das war sogar noch spannend, als ich Jahrzehnte später meinem Mann die Sturmecke vorführt. Ich passte eine Böenpause ab, kam herum, aber er wusste dem Sturm nichts entgegenzusetzen, schaffte es nicht.
Dann schlug das Wetter um, es wurde warm und sonnig. Aber ich hatte mir nicht nur eine Bindehautentzündung angelacht, sondern bekam auch Mumps, durfte eine Woche inklusive meiner Geburtstagsfeier im Pensionszimmer bleiben, während die Anderen zum Strand gingen. Doch den Ziegenpeter habe ich recht schnell hinter mir gelassen.
Ein, zwei Tage noch mit einem Schal um den Hals, dann durfte auch ich mit in unserer „Burg“ spielen.
Inzwischen hatte es sich eingespielt, dass wir Kinder nach dem Mittagessen wieder zum Strand gingen, während die Erwachsenen es vorzogen, ihren Mittagsschlaf in der Pension ohne Kindergekicher und Möwengeschrei zu genießen. Zur Belohnung gab es dann für uns zur Kaffeezeit ein Stück Streuselkuchen, den man in den Verkaufsbuden am Strand täglich angeboten bekam. Manchmal war es auch Milchreis mit Zimt oder Dickmilch …
Diese Strandbuden gibt es noch heute auf Borkum. Längst können sich Gäste in ebenfalls angebauten wetterfesten Sitzplätzen direkt am Verkaufsraum ihre gewählten Speisen und Getränke mit Blick auf das Meer und das Strandleben genießen. Doch auf den anderen ostfriesischen Inseln gibt es solche Außengaststätten bis heute nicht.
Wir lernten in den Folgejahren auch nach und nach die anderen ostfriesischen Inseln kennen, aber es war für mich nie „Borkum“. Es gab auch statt Nordsee-Urlaub Ferien
im Chiemgau in Unterwössen, oder am Achensee in Tirol. Auch diese Umgebung zu erforschen war für mich hochinteressant – aber eben kein Strandurlaub! Dieses kleine Kinderhäuschen fanden wir an der Tiroler Ache.
Jahre später habe ich meinem Mann die Nordsee nahe gebracht. War er zuvor begeisterter Sauerland-Urlauber, weil er den oft mit seinen Verwandten erlebte, brauchte es nur zweimal Nordsee und die Hütte in Brilon-Wald war kein Thema mehr. Der Versuch, aufgrund seiner Berg-Liebe des Sauerlandes ihm die Alpenregion etwas näher zu bringen, bewirkte total das Gegenteil! Seine Höhenangst ließ nie wieder Urlaub in Österreich zu, als wir dann auch noch mit unserem Pkw in Raggal-Litze eine Pech-Urlaub verbrachten. Der Sohn bekam dort Grippe, der Pkw brauchte ein Ersatzteil für 1 DM, dessen Einbau aber 300 DM kostete. Und das alles, als unsere Pension sich als Alm-Unterkunft entpuppte ...
Obendrein ergab es sich in den 1970er Jahren, dass die in Brilon-Wald vorhandenen Hütten immer wieder aufgebrochen wurden. Und jedes Mal, wenn wir dort eine Woche verbringen wollten, war es erforderlich, dass die im Außenbereich der Hütte liegende Toilette leer geräumt werden musste – Aufgabe meines Mannes, wenn er mit mir und unserem Söhnchen ein paar Tage dort verbringen wollte. Es war die Forderung seiner Patentante, der die Hütte gehörte … Irgendwann ordnete die Stadt Brilon an, dass alle Hütten abgerissen werden mussten. Doch da war auch er und unsere kleine Familie längst auf Strandleben fixiert.
Ein letztes Mal fuhr ich gemeinsam mit meinem Mann nach vielen Borkum-Urlauben auf diese Insel, in genau das gleiche Quartier, in dem mein Vater und meine Geschwister das erste Mal Urlaub gemacht hatten. Es war sein Wunsch, nach einer weiteren Krebs-Operation dort Urlaub zu machen.
Und es war längst möglich, mit einem Katamaran die Wasserstrecke in einer Stunde von Emden aus zu bewältigen.
Aber es war eine andere, modernisierte Unterkunft in dem Haus, das ich schon so lange kannte, eingerichtet für schwerkranke Patienten im ebenerdigen Anbau …
Kommentare (0)