Vor sechsundsechzig Jahren


Vier Monate bin ich zurück aus der „Fremde“, in die wir vor sechsundsechzig Jahren gegangen waren.

Vor sechsundsechzig Jahren war man in Berlin froh, dass so nach und nach der Bahnverkehr, insbesondere die S-Bahn langsam, ganz langsam, Stück für Stück, ins Rollen kam. Waren es nicht Zerstörungen aus den Bombenangriffen und Kampfhandlungen der letzten Kriegstage, die Schäden hinterlassen hatten, so war es die eine Siegermacht, die sich in Reparationsleistung das zweite Gleis abbauen ließ und auch den noch heil gebliebenen Rest-Fuhrpark abtransportieren ließ.

Als wir aus Eichwalde, einem Vorort im Südosten von Berlin, „auswanderten“, brauchten wir einen halben Tag, um in das U.N.N.R.A.-Lager in der Sophie-Charlotte-Schule in Berlin-Charlottenburg umzuziehen. Es gab auf der S-Bahn nur Pendelverkehr mit kurzen Strecken, soweit das eine Gleis wieder instandgesetzt werden konnte und eben nicht auch noch durch zerstörte Brücken blockiert war.

Wir bekamen in dem mit Flüchtlingen überfüllten Anwesen in einer „Kammer“, die schon mit vier Menschen belegt war, noch Platz für uns Sieben. Ich habe vergessen, mit wem ich zusammen schlief oder ob wir doch noch mehr Stockbetten in dem Zimmer hatten. So war das Schlafen „geklärt“, den Tagesablauf sollten wir nach und nach kennen, erleben lernen. Und auch die Mitbewohner spielten eine Rolle in der vor uns liegenden Wartezeit.

Irgendwo gab es die Möglichkeit zum Waschen und Abortieren nach Geschlechtern getrennt. Von Gründlichkeit konnte keine Rede sein – es gab ja nicht einmal Seife, man musste auch zusehen, dass man einen Fetzen Zeitungspapier zum Sitzen mitnahm. Kaum kam man aus dem Waschraum angezogen heraus, stand da ein Mensch in einem grauen Kittel, hatte eine große Püste und stäubte die Klamotten und das Haar mit DDT ein – wenn man nicht aufpasste, konnte man diese Bestäubung gleich mehrmals am Tage mitmachen.

Da waren auf der Bude zwei Jungs, vierzehn und sechzehn Jahre alt. Sie trugen Wehrmachtsklamotten, waren abgemagert, der Ältere hatte schon keine Haare mehr, nur noch ein kleiner blonder Rest stammte wohl noch aus besseren Zeiten. Die Beiden waren gerade vom Ural zurück gekommen, wohin sie der Russe nach dem Aufgriff in Pommern verschleppt hatte, sie aber krank wieder entlassen hatte. Der Ältere hatte täglich eine Arbeit zu verrichten. Dabei saß er stoisch auf dem Bett, ließ die Beine herunter baumeln und griff unter die offene Uniform-Jacke durch die Löcher in dem mit Riesenlöchern versehenen Unterhemd (schmutzgrau, nicht mehr weiß), holte sich eines von den Biestern, die schon immun gegen DDT zu sein schienen, und knack: eins weniger! Und weiter zum Greifen des nächsten Peinigers. Er saß da apathisch da, wortlos vor sich her stierend.

Der Jüngere war ein munteres Kerlchen. Er war stets auf Kippen-Jagd, er rauchte nicht, dafür aber konnte er doch etwas anderes eintauschen, zum Beispiel noch ein Brot. Er kümmerte sich um den Älteren. Er, doch auch noch ein Kind, so wie ich damals, schloss sich uns an. Und unsere Mutter ließ mich aus Eichwalde (klammheimlich) noch etwas von Vaters Unterwäsche (etwas hatte sie ja für ihn schon mit im Reisegepäck) holen – die Jungs hatte heile Unterwäsche.

Als wir Eichwalde verlassen hatten, lief ich auf tausend Reichsmark, die Mutter mir in die Stiefel unter die Einlegesohle versteckt hatte. Ich durfte nun die Schuhe nie ausziehen, auch des Nachts, außer Mutter wollte etwas aus der „Sparbüchse“ haben. So nahm sie einmal einhundertfünfzig Mark heraus, gab sie den Jungen, die dafür ein amerikanisches Weißbrot vom Schwarzmarkt (der war überall) besorgten – wir hatten etwas Zusätzliches zu essen.

Mittags trieben wir uns im Hof des Lagers herum. Hatten wir schon unsere Portion von der Mehlsuppe mit Fleischstücken bekommen, das reichte uns ja nie, dann machten wir uns über die leergewordenen Thermokanister her, nahmen den Handrücken zum einsammeln der Suppenreste und versuchten so eine zweite Ration zu erwischen. Bei dieser „Kampfhandlung“ – wir waren nicht die Einzigen, die sich in den Kanister bücken wollten – bekamen unser Mäntel auch etwas ab, sie klebten und wurden steif.

Die Jungs waren aus Russland mit zwei gleichaltrigen Mädchen zurückgekehrt. Die Mädchen waren aus Bochum (oder so) zur Kinderlandverschickung nach Pommern gewesen, wo sie dann auch den Russen in die Hände gefallen waren. Der Jüngere kümmerte sich um die Mädels, eine kleine Gruppe, so mit Kameradschaft zu einander.

Es kam der Tag des Abtransportes in die Britische Zone. Der holländische Lagerarzt bat unsere Mutter, die vier mit nach drüben mitzunehmen. So zogen wir zu elft hin zum Verladeplatz. Da standen Britische Armee-Fahrzeuge, Lkw’s mit Sitzbänken unter der Plane über der Ladefläche. Abgezählt durften wir auch auf einen Lkw klettern. Ich fragte den Soldaten, der unser Fahrzeug lenken sollte, ob ich vorne bei ihm einsteigen dürfte – ich durfte rechts neben dem Motorblock des Bedford auf dem Beifahrersitz mitfahren.

Wir fuhren über die Avus hinaus in die Russische Zone, auf der Autobahn, die uns nach Westen brachte. Auf den Brücken standen Russische Soldaten mit Gewehren und schauten auf unseren Konvoi. Es ging westwärts. Irgendwo scherten alle Lkw’s aus, eine Pause, der Soldat bekam seinen Kaffee, dann ging es weiter. So erreichten wir die neue Grenze, die Zonengrenze. Der Konvoi verließ die Autobahn, holperte noch eine Weile über Landstraßen, bis ein Lager mit Baracken erreicht war.

Es war Abend geworden. Wir bekamen Betten, weißblau kariert bezogen, zugewiesen, konnten uns waschen. Wir sahen, wie man in die Milch-Mehlsuppe noch Butter mit hinein tat. Wir durften essen, soviel wir wollten, wir fraßen. Und dann kam, was kommen musste: Was sollte zu erst abgefertigt werden, unten oder oben? Durchschlagender Erfolg.
Unsere vier Mitreisenden brachte Mutter zum Lagerarzt. Der versorgte die Jungs und Mädchen. Als wir sie zum Abschied besuchten, lagen sie im der Revierstube, strahlten uns glücklich an. Mutter war glücklich und froh zugleich, sie gut versorgt zu wissen. Wir reisten am nächsten Tag weiter nach Westen.


Zehn Kinder


Wieso heute diesen Bericht? Mit den Freunden von RegioTreff Berlin-Mitte des Feierabend.de, waren wir auf den Spuren Zille’s. Ich sah so manches Geviert in der Abmessung wieder, die Schule gibt es nicht mehr, aber die Straßen sind noch da und die S-Bahn pendelt manches Mal fast wie früher.

ortwin

Anzeige

Kommentare (1)

finchen Du, ich habe ein richtiges Zille-Buch. Das habe ich vor zig-zig Jahren in der DDR gefunden, in einer kleinen Buchhandlung, in einem "Dorf" zwischen Magdeburg und Dessau, war ganz frisch rausgekommen und ich habe gleich alle Exemplare gekauft. Das waren ca. 10 Stück und mehr hatte der Buchladen auch nicht bekommen. Ich nehme an, das war so ein Pflichtprogramm, wie es zu diesen Zeiten oft üblich war. Allein die Buchhandlung in diesem Kaff war schon ein Witz und so sah es auch dort aus.
Eine Freundin von mir stammt auch aus Berlin, jedenfalls fand ich reichlich Absatz für dieses Buch und eines habe ich mir behalten, selbstverständlich!
Da ich in Desssau geboren bin, war bei uns der Zille mehr oder weniger "auf dem Küchentisch". Ich kannte ihn schon als Kind.
Davon ganz abgesehen, was meinst Du, wie froh ich war, als wieder in Westdeutschland war mit diesen Büchern. Nee...........geschmuggelt habe ich nie ..xxx
Mit lieben Grüßen
Dein Moni-Finchen

Anzeige