Mein erster Tag in der "neuen Heimat"
Bei meiner Ankunft in Krofdorf-Gleiberg, einem größeren Dorf in der Nähe Gießens, einen Tag nach Ostern 1946 zählte ich sieben Jahre und vier Monate, befand mich also in einem Alter, da Erlebnisse und Erfahrungen oft nachhaltiger haften bleiben als in späteren Lebensphasen. Unsere neue Existenz in Krofdorf, so meine deutliche Erinnerung, begann mit einer Suppe. Es war die Suppe, die uns Ankömmlingen im Keller der Schule als Begrüßungsmahl vorgesetzt wurde. Frauen in weißen Kitteln schöpften die dickflüssige Brühe aus einem Kessel in Teller, die auf langen Tischen bereitstanden. Allein ein solcher Empfang konnte nicht angenehmer sein für einen kleinen Buben mit besonderer Vorliebe für Suppen aller Art. Dabei ist es nicht einmal der Geschmack der Suppe, an den ich mich erinnere, viel eher an ihren Inhalt, gequollene braune Grießkörnern, die sich angenehm leicht zwischen Zunge und Gaumen zerquetschen ließen.
Auf einem offenen Lastauto waren wir soeben aus dem Lager Finsterloh bei Wetzlar hierher verfrachtet worden. Die Lagerinsassen hatten zwischen zwei Zufluchtsorten wählen dürfen, allerdings ohne rechte Kenntnis davon, was der eine oder der andere mit sich bringen würde, ausgenommen vielleicht, dass nur Krofdorf-Gleiberg über einen Bahnanschluss verfüge. Wer uns dieses wichtige Detail verraten hat, weiß ich jedoch nicht mehr, es hat aber sicherlich vielen die Entscheidung erleichtert.
Während der Fahrt hatte der helle, klare Frühlingsnachmittag den Menschen auf der Ladefläche schon von weit her die Sicht geöffnet auf zwei kegelförmige Berge, jeder mit einem hohen Turm bestückt. Kein Wunder also, dass alle Passagiere entzückt waren von dem prächtigen Bild, in das sie da mitten hinein fuhren. Ungläubiges Staunen aber machte sich erst recht breit, als das Auto geradewegs auf den rechten der beiden Berge zusteuerte, dessen uns zugewandte Baulichkeit bald als Burgruine zu erkennen war. Sollte etwa der Ort, zu dem wohl jene Burg vor uns gehörte, bereits das Ziel der Fahrt ins Ungewisse sein?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem wir das Dorf am Fuße des Berges erreicht hatten, hielt der Wagen an, wir stiegen herunter und wurden in ein großes graues Gebäude geführt, wo man uns ganz offensichtlich bereits erwartet hatte. Die geschäftigen Frauen um den Suppenkessel bewiesen es. Ja, hier schien unsere lange Reise zu Ende, eine Reise, die damit begonnen hatte, dass wir eines Morgens in unserer Heimat Egerland einen Lastwagen besteigen mussten, dann nach einem Zwischenaufenthalt in der Kreisstadt Falkenau in Güterwaggons verstaut und ausgesiedelt wurden. "Aussiedlung", so hieß etwas harmlos die Aktion, mit der sich nach dem Krieg der wieder entstandene tschechoslowakische Staat des größten Teiles seiner deutschsprachigen Bevölkerung entledigte. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Vertreibung „von Haus und Hof“, um einen kollektiven Racheakt in Tateinheit mit Raub und Diebstahl.
Während wir nun die uns gereichte Suppe schlürften, begrüßte uns sogar der Bürgermeister. Erst dann verteilte man die gesättigten Neu-Krofdorfer, die "Flüchtlinge", wie uns fortan die Eingeborenen unserer neuen Heimat nannten, auf ihre endgültigen Quartiere. Die waren vorher behördlich - also wohl zumeist gegen den Willen ihrer Eigentümer - requiriert worden. Die uns zugewiesene Wohnung bestand aus zwei Zimmern unter dem Dach eines Hauses mit markanter Fassade. Zum Haus, in dem bereits sieben Menschen lebten, gehörte ein Hof mit Stall und Scheune, ein Nussbaum, ein Misthaufen und ein Plumpsklosett.
Derweilen die Mutter (der Vater war noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt) die neue Heimstatt in Besitz nahm, begann ich sogleich, die nähere Umgebung zu erkunden. Eindruck machte mir dabei vor allem die Straße vor dem Haus. Wie sauber sie aussah und wie schön glatt asphaltiert sie war! Etwas ähnliches kannte ich aus meiner alten Heimat eigentlich nur von den Straßen der Städte und den großen Überlandstraßen, der Kaiserstraße etwa, die unweit meines Herkunftsortes Liebauthal verlief. Gar nicht übel der Ortswechsel, den man uns da aufgezwungen hat, mochte es mir angesichts dieses vorteilhaften Bildes durch den Kopf gegangen sein.
Allzu viel Zeit, das noch Ungewohnte zu bestaunen, blieb mir aber nicht mehr. Woher sie gekommen waren, hatte ich eigentlich gar nicht bemerkt. Sie, das waren zwei Mädchen, denen ich mich unversehens gegenüber sah. Das eine war blond, das andere hatte schwarze Haare. "Mein Alter", schätzte ich wohl im Stillen. Beide Mädchen starrten mich, den Fremden, eine Zeit lang an, aber keineswegs ablehnend, sondern durchaus neugierig und freundlich. Was die beiden im Schilde führten, blieb mir jedoch - jedenfalls zunächst noch - rätselhaft und dunkel.
Woran hätte ich armer Tropf es auch erkennen sollen? Meine Welt war bis dahin eine Bubenwelt, in der Frauen allenfalls als Mütter, Großmütter oder Kindergartentanten Aufmerksamkeit verlangten und erhielten. Mancherlei Erfahrung hatte mich zudem bislang gelehrt, dass Mädchen wenig Sinn für das von mir bevorzugte Stromerleben besitzen. Und waren Kontakte mit ihnen schon einmal nicht zu vermeiden, hatten sich Mädchen meines Alters und auch ältere zumeist als wenig angenehm erwiesen. Diese beiden freilich schienen gleich auf den ersten Blick von anderer Art. Dennoch musste ich ziemlich ratlos und unbeholfen dagestanden haben. Aber statt sich von mir schüchternen Schweiger selber einschüchtern zu lassen, redete die Blonde der beiden mich nach einer Weile geradewegs an.
Eigentümlich klangen ihre Worte in meinen egerländer Ohren, gedehnt und breit, ein wenig gesungen fast wie die Zeile eines Liedes. Annerose, so hieß der Blondkopf, wie ich bald erfahren sollte, stellte eine Frage, die mir noch heute, Jahrzehnte später, gegenwärtig ist. Nicht etwa, dass sie sich - was ja nahegelegen hätte - nach meinem Namen erkundigte oder woher ich komme oder ob ich bereits zur Schule gehe. Nein, Annerose fragte mich einfach nur: "Gieste met bei die Baach?". Zweifellos, das war mehr als eine banale Frage, das war eine Einladung, und noch dazu von einem Mädchen. Nur, wie es sich anhörte, dieses "Gieste met bei die Baach?". Ich begriff schnell, dass man hier so redete, nach meinem Sprachempfinden zwar etwas verquer, jedoch nicht völlig unverständlich.
Wie Annerose, so musterte mich jetzt auch die Dunkelhaarige erwartungsvoll. Indes, statt nach Worte zu suchen, äußerte ich mein Einverständnis durch die Tat. Was hieß, ich folgte den beiden, denn "die Baach", die musste ich doch kennenlernen. Woraufhin wir sogleich gemeinsam in einen nahen Weg einbogen, auf dem wir bald den Friedhof des Dorfes erreichten. Von hier aus senkte sich der Weg in ein Tal hinunter, wo er sich vor einem Wald gabelte. Wir stiegen in das Tal hinab und erreichten eine Brücke mit eisernem Geländer. Darunter floss ein schmales Wässerchen, "die Baach", wie mir meine Pfadfinderinnen stolz verkündeten. Nun ja, ein Bach eben. Hätte ich ihnen angesichts dieses Rinnsals erzählen sollen, dass es bei uns "daheim" ganz andere, breitere, wildere Bäche gab? Ach was, ich schwieg lieber, vielleicht um nicht als Angeber dazustehen, vielleicht aber auch nur aus purer Höflichkeit.
Instinktiv mochte mich ein weiterer Grund daran gehindert haben, das Bächlein zu missachten. Indem die Mädchen mir den Bach, ihren Bach, vorführten, wollten sie wahrscheinlich ihre Bereitschaft zeigen, mich in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Es musste demnach eine Ehre gewesen sein, dass ich sie hierher begleiten durfte. Für mich war diese erste Wanderung zu einem der beiden Dorfbäche auf jeden Fall ein Erlebnis, das mir unvergessen blieb. Unvergessen, weil ich bereits am ersten Tag in Krofdorf dank zweier kleiner Mädchen ganz neue geographische Kenntnisse erwarb und so nebenbei gleich noch mit den Feinheiten des hiesigen Dialektes vertraut gemacht wurde. Praktiziert habe ich dieses "Platt" im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingsbuben zwar nie, es allerdings selbst dann verstanden, wenn einer "dumme Sprüch kloppte", wie etwa den, oder gerade den: "Holt Struu, die Bach brennt". Schließlich - gelernt ist gelernt.
Siegfried Träger
Auf einem offenen Lastauto waren wir soeben aus dem Lager Finsterloh bei Wetzlar hierher verfrachtet worden. Die Lagerinsassen hatten zwischen zwei Zufluchtsorten wählen dürfen, allerdings ohne rechte Kenntnis davon, was der eine oder der andere mit sich bringen würde, ausgenommen vielleicht, dass nur Krofdorf-Gleiberg über einen Bahnanschluss verfüge. Wer uns dieses wichtige Detail verraten hat, weiß ich jedoch nicht mehr, es hat aber sicherlich vielen die Entscheidung erleichtert.
Während der Fahrt hatte der helle, klare Frühlingsnachmittag den Menschen auf der Ladefläche schon von weit her die Sicht geöffnet auf zwei kegelförmige Berge, jeder mit einem hohen Turm bestückt. Kein Wunder also, dass alle Passagiere entzückt waren von dem prächtigen Bild, in das sie da mitten hinein fuhren. Ungläubiges Staunen aber machte sich erst recht breit, als das Auto geradewegs auf den rechten der beiden Berge zusteuerte, dessen uns zugewandte Baulichkeit bald als Burgruine zu erkennen war. Sollte etwa der Ort, zu dem wohl jene Burg vor uns gehörte, bereits das Ziel der Fahrt ins Ungewisse sein?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem wir das Dorf am Fuße des Berges erreicht hatten, hielt der Wagen an, wir stiegen herunter und wurden in ein großes graues Gebäude geführt, wo man uns ganz offensichtlich bereits erwartet hatte. Die geschäftigen Frauen um den Suppenkessel bewiesen es. Ja, hier schien unsere lange Reise zu Ende, eine Reise, die damit begonnen hatte, dass wir eines Morgens in unserer Heimat Egerland einen Lastwagen besteigen mussten, dann nach einem Zwischenaufenthalt in der Kreisstadt Falkenau in Güterwaggons verstaut und ausgesiedelt wurden. "Aussiedlung", so hieß etwas harmlos die Aktion, mit der sich nach dem Krieg der wieder entstandene tschechoslowakische Staat des größten Teiles seiner deutschsprachigen Bevölkerung entledigte. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Vertreibung „von Haus und Hof“, um einen kollektiven Racheakt in Tateinheit mit Raub und Diebstahl.
Während wir nun die uns gereichte Suppe schlürften, begrüßte uns sogar der Bürgermeister. Erst dann verteilte man die gesättigten Neu-Krofdorfer, die "Flüchtlinge", wie uns fortan die Eingeborenen unserer neuen Heimat nannten, auf ihre endgültigen Quartiere. Die waren vorher behördlich - also wohl zumeist gegen den Willen ihrer Eigentümer - requiriert worden. Die uns zugewiesene Wohnung bestand aus zwei Zimmern unter dem Dach eines Hauses mit markanter Fassade. Zum Haus, in dem bereits sieben Menschen lebten, gehörte ein Hof mit Stall und Scheune, ein Nussbaum, ein Misthaufen und ein Plumpsklosett.
Derweilen die Mutter (der Vater war noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt) die neue Heimstatt in Besitz nahm, begann ich sogleich, die nähere Umgebung zu erkunden. Eindruck machte mir dabei vor allem die Straße vor dem Haus. Wie sauber sie aussah und wie schön glatt asphaltiert sie war! Etwas ähnliches kannte ich aus meiner alten Heimat eigentlich nur von den Straßen der Städte und den großen Überlandstraßen, der Kaiserstraße etwa, die unweit meines Herkunftsortes Liebauthal verlief. Gar nicht übel der Ortswechsel, den man uns da aufgezwungen hat, mochte es mir angesichts dieses vorteilhaften Bildes durch den Kopf gegangen sein.
Allzu viel Zeit, das noch Ungewohnte zu bestaunen, blieb mir aber nicht mehr. Woher sie gekommen waren, hatte ich eigentlich gar nicht bemerkt. Sie, das waren zwei Mädchen, denen ich mich unversehens gegenüber sah. Das eine war blond, das andere hatte schwarze Haare. "Mein Alter", schätzte ich wohl im Stillen. Beide Mädchen starrten mich, den Fremden, eine Zeit lang an, aber keineswegs ablehnend, sondern durchaus neugierig und freundlich. Was die beiden im Schilde führten, blieb mir jedoch - jedenfalls zunächst noch - rätselhaft und dunkel.
Woran hätte ich armer Tropf es auch erkennen sollen? Meine Welt war bis dahin eine Bubenwelt, in der Frauen allenfalls als Mütter, Großmütter oder Kindergartentanten Aufmerksamkeit verlangten und erhielten. Mancherlei Erfahrung hatte mich zudem bislang gelehrt, dass Mädchen wenig Sinn für das von mir bevorzugte Stromerleben besitzen. Und waren Kontakte mit ihnen schon einmal nicht zu vermeiden, hatten sich Mädchen meines Alters und auch ältere zumeist als wenig angenehm erwiesen. Diese beiden freilich schienen gleich auf den ersten Blick von anderer Art. Dennoch musste ich ziemlich ratlos und unbeholfen dagestanden haben. Aber statt sich von mir schüchternen Schweiger selber einschüchtern zu lassen, redete die Blonde der beiden mich nach einer Weile geradewegs an.
Eigentümlich klangen ihre Worte in meinen egerländer Ohren, gedehnt und breit, ein wenig gesungen fast wie die Zeile eines Liedes. Annerose, so hieß der Blondkopf, wie ich bald erfahren sollte, stellte eine Frage, die mir noch heute, Jahrzehnte später, gegenwärtig ist. Nicht etwa, dass sie sich - was ja nahegelegen hätte - nach meinem Namen erkundigte oder woher ich komme oder ob ich bereits zur Schule gehe. Nein, Annerose fragte mich einfach nur: "Gieste met bei die Baach?". Zweifellos, das war mehr als eine banale Frage, das war eine Einladung, und noch dazu von einem Mädchen. Nur, wie es sich anhörte, dieses "Gieste met bei die Baach?". Ich begriff schnell, dass man hier so redete, nach meinem Sprachempfinden zwar etwas verquer, jedoch nicht völlig unverständlich.
Wie Annerose, so musterte mich jetzt auch die Dunkelhaarige erwartungsvoll. Indes, statt nach Worte zu suchen, äußerte ich mein Einverständnis durch die Tat. Was hieß, ich folgte den beiden, denn "die Baach", die musste ich doch kennenlernen. Woraufhin wir sogleich gemeinsam in einen nahen Weg einbogen, auf dem wir bald den Friedhof des Dorfes erreichten. Von hier aus senkte sich der Weg in ein Tal hinunter, wo er sich vor einem Wald gabelte. Wir stiegen in das Tal hinab und erreichten eine Brücke mit eisernem Geländer. Darunter floss ein schmales Wässerchen, "die Baach", wie mir meine Pfadfinderinnen stolz verkündeten. Nun ja, ein Bach eben. Hätte ich ihnen angesichts dieses Rinnsals erzählen sollen, dass es bei uns "daheim" ganz andere, breitere, wildere Bäche gab? Ach was, ich schwieg lieber, vielleicht um nicht als Angeber dazustehen, vielleicht aber auch nur aus purer Höflichkeit.
Instinktiv mochte mich ein weiterer Grund daran gehindert haben, das Bächlein zu missachten. Indem die Mädchen mir den Bach, ihren Bach, vorführten, wollten sie wahrscheinlich ihre Bereitschaft zeigen, mich in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Es musste demnach eine Ehre gewesen sein, dass ich sie hierher begleiten durfte. Für mich war diese erste Wanderung zu einem der beiden Dorfbäche auf jeden Fall ein Erlebnis, das mir unvergessen blieb. Unvergessen, weil ich bereits am ersten Tag in Krofdorf dank zweier kleiner Mädchen ganz neue geographische Kenntnisse erwarb und so nebenbei gleich noch mit den Feinheiten des hiesigen Dialektes vertraut gemacht wurde. Praktiziert habe ich dieses "Platt" im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingsbuben zwar nie, es allerdings selbst dann verstanden, wenn einer "dumme Sprüch kloppte", wie etwa den, oder gerade den: "Holt Struu, die Bach brennt". Schließlich - gelernt ist gelernt.
Siegfried Träger
Leben zerstört -alles genommen -ich bewundere Menschen wie Dich .die das verdrängen können aber vergessen wird es wohl keiner so lange erlebt!