Das ermordete Kind - Protokoll eines ungesühnten NS-Verbrechens


Im Februar 1943 erhielt der Kutscher des Leichenwagens meines Heimatdorfes K. den Auftrag, mit seinem Gefährt am Bahnhof in Gießen einen Sarg abzuholen. Es ist ein kleiner Kindersarg. Darin gebettet liegt der Leichnam eines neunjährigen Buben. Der tote Bub mit Namen Wilfried ist das älteste von damals drei Kindern des Ehepaares B.

Als Wilfrieds Sarg in K. ankommt, hat er bereits eine ziemlich lange Strecke zurückgelegt. Auf den Weg gebracht worden war er in Kalmenhof bei Idstein im Taunus. Man hatte ihn dort auf einem Wagen, gezogen von zwei Pferden, zum Bahnhof transportiert, um ihn an die Eltern des Kindes weiterzubefördern. Als das Pferdegespann mit der hellen Totenlade Idstein passierte, sollen die am Straßenrand stehenden Menschen ihre Hüte gezogen haben. Wussten sie, was es mit dem Toten in dem Kindersarg auf sich hatte?

Wilfried B. erkrankte 1937 an einer Hirnhautentzündung und wurde zur Behandlung in der Universitätskinderklinik in Gießen aufgenommen. Auslöser einer solchen Erkrankung der äußeren Umhüllung des Gehirnes sind zumeist Viren oder Bakterien. Wird die Infektionskrankheit überlebt, können die Patienten mehr oder minder schwere geistige Schäden und auch körperliche Beeinträchtigungen davontragen. Und eben dieses Schicksal erlitt der kleine Wilfried. Als er 1938 aus dem Krankenhaus entlassen wurde und auf einer Tragbahre in sein Elternhaus zurückkam, konnte er nicht mehr gehen, nicht mehr selbständig essen und trinken, so dass ihm seine Nahrung, eine Zucker-Milch-Lösung, durch eine Sonde eingeflößt werden musste. Da zudem die Erkrankung seine vorher ungestörten geistigen Fähigkeiten fast ausgelöscht hat, war Wilfried jetzt ein so schwer behindertes Kind, dass man seinen Eltern riet, ihn in die Obhut der Anstalt Bethel zu übergeben. Doch dank intensiver Zuwendung schafften sie es allmählich, dass ihr Kind nach einiger Zeit wieder selbständig gehen konnte, und statt es über die Sonde zu ernähren, brauchte man ihm fortan nur noch beim Essen zu helfen. „Wir haben ihn regelrecht aufgepäppelt“, erinnerte sich die Mutter noch viele Jahrzehnte später an die langsame Besserung des körperlichen Zustandes ihres Buben.

Wilfried bekam noch zwei Schwestern und lebte behütet und geliebt auf dem kleinen Bauernhof seiner Großeltern, ja begleitete sogar die Familie, wenn sie ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachging. Auch an jenem Tag, als wieder einmal Feldarbeit zu verrichten war. Wilfried, der sonst stets in der Nähe seiner Leute blieb, entfernte sich diesmal ein wenig von den im Felde Arbeitenden. Man bemerkte es zwar, dachte aber, er werde schon wieder zur Gruppe zurückfinden. Doch plötzlich war er weg, und alles Rufen und Suchen nach ihm half nichts, Wilfried blieb verschwunden. Weil er sich auf Wanderschaft begeben hatte. Er musste, wie man später rekonstruierte, die Landstraße zum Nachbardorf W. überquert haben und dann über Wiesen weitergetrabt sein. Beinahe hätte der kleine Wanderer den Nachbarort sogar erreicht, wäre da nicht ein Bächelchen gewesen, das ihm den Weg versperrte. Dort, am Ufer des Baches, sah in ein Bürger aus W. Doch als der den ihm unbekannten Buben ansprach, erhielt er keine Antwort. So nahm er den Sprachlosen bei der Hand und brachte ihn aufs Bürgermeisteramt. Aber auch dort kannte niemand den stummen Findling. Aus W., darin war man sich wohl einig, stammte er nicht. Bald aber brachte ein Anruf beim Gemeindeamt in K. Aufklärung. Dorthin nämlich waren Wilfrieds Eltern geeilt, nachdem alles Suchen nach dem Verschwundenen vergeblich geblieben war.

Ging dieses Abenteuer für den Buben glimpflich aus, geriet er Ende 1942 in allerhöchste Gefahr. Den tödlichen Schatten, der sich da über das Kind legte, verursachte das sogenannte Euthanasie-Programm des NS-Staates, das die Vernichtung „unwerten“ Lebens zum Ziel hatte. Als lebensunwert und lästig erklärt für die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ wurden in Deutschland damals nicht nur Juden, Zigeuner oder Homosexuelle, sondern auch Menschen mit körperlichen oder geistigen Gebrechen; sie sollten als unerwünschte Esser „ausgemerzt“ werden. Um der Mordaktion einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, wurde ein „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten, schweren Leiden“ gegründet. Und der streckte seine Fänge jetzt auch nach dem kleinen Wilfried aus.

Der Weg in das Verderben begann für Wilfried mit einer schriftlichen Aufforderung an seine Eltern, ihn in die Kinderanstalt Scheuern bei Nassau zu bringen. An die Begründung für diesen Akt erinnerte sich die Mutter nicht mehr, aber daran, dass die Familie für den Aufenthalt selbst aufkommen musste. Was die Eltern damals nicht wussten: Scheuern diente als „Zwischenanstalt“ für die Vernichtungsstätte Hadamar bei Limburg. Nachdem sie ihr Kind ein paar Mal in Scheuern besucht hatten, erhielten sie die Mitteilung, Wilfried sei jetzt nach Kalmenhof bei Idstein verlegt. Den Eltern war wiederum unbekannt die Bedeutung Kalmenhofs als eine von 30 sogenannter „Kinderfachabteilungen“ im NS-Staat, von wo aus Todestransporte nach Hadamar und in andere Mordstätten gingen, wo aber auch selbst getötet wurde.

Am 13.2.1943, nur wenige Tage nach seiner Verlegung nach Kalmenhof, erhielten seine Eltern ein Telegramm folgenden Inhalts: „Wilfried soeben verschieden beerdigung Montag 15 Uhr Calmenhof“. Verschieden? Ein Kind, das mit Ausnahme seiner geistigen Behinderung an keiner Krankheit litt? Dem „Hauptbuch“ des Kalmenhofes läßt sich entnehmen, dass dort 1943, dem Todesjahr Wilfrieds, pro Monat 50 Kinder starben. Über die Hälfte von ihnen überlebten ihre Einlieferung in Kalmenhof weniger als einen Monat, die meisten waren sogar bereits nach einigen Tagen tot. Wilfried also einfach so plötzlich gestorben, wie man seinen Eltern weismachen wollte? In einer Dokumentation des Landeswohlfahrtverbandes vom Jahre 1991 wird berichtet, dass in Kalmenhof die Kinder getötet wurden, „indem man ihnen mehrmals Luminal (ein Schlafmittel - S. T.) verabreichte, manchmal kombiniert mit Morphium-Scopolamin-Injektionen“. Dieses Verfahren, bei dem die Opfer erst nach einigen Tagen starben, sollte einen „natürlichen Tod“ vortäuschen.

Um der angekündigten „Beerdigung“ durch den Kalmenhof zuvorzukommen, machte sich Wilfrieds Vater sofort auf nach Idstein. Auf dem Gelände der Einrichtung aber traf er niemanden an, der ihm über den Verbleib seines toten Kindes hätte Auskunft geben können. Also begann er auf eigene Faust die Suche nach dem kleinen Leichnam. Er fand ihn schließlich im Freien unter einer Überdachung und beauftragte einen örtlichen Schreiner, einen Kindersarg anzufertigen. In dem ging der Tote schließlich auf die Reise nach Hause, wo er ein würdiges Begräbnis bekam, das den meisten der vielen tausend Mordopfern der NS-„Euthanasie“ versagt blieb.

Siegfried Träger


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Kommentare (8)

hockey Hallo Sigfried
bedanke mich bei Dir das du dieses Thema das leider nicht sehr oft besprochen wird so in Erinnerung uns allen bringst. Uber 200 000 Menschen die krank waren wurden damals auf grauseme weise umgebracht. an vielen kindern wurden auch noch "medizinische versuche" gemacht ( Abteilung T4 Unterlagen)
Danke and may the rest in peace
der canadische hockey
guana Normalerweise gebe ich auf so etwas keine Antwort.
Leicht unverschaemt finde ich.

Die Leute von denen ich sprechen wollte sind jene, welche mit Glatze und Springerstiefeln weltweit Angst und Schrecken verbreiten. Hast Du vielleicht schon mal von gehoert??

Richtig lesen waere gut::
Ich spreche nicht von totschweigen, sondern von totreden.
das solltest selbst Du verstehen.

guana
Karl @ guana,


was sind denn menschenähnliche Wesen für Dich?

Ich teile Deine Meinung, alles tot zu schweigen, überhaupt nicht.
--
karl
guana wie man heute weltweit feststellen kann, genau das Gegenteil zu bewirken, denn menschenaehnliche Wesen welche ueberhaupt nicht wissen, worum es geht,
entwickeln dann Aktivitaeten welche ihnen unverstaendlch sind.
Ich glaube, das schlimmste ist das totreden; wenn das jemand hier, ueberhaupt begreifen kann.
guana

senhora Die neuere Gehirnforschung behauptet, dass unsere Entscheidungen maßgeblich von Emotionen, nicht von der Ratio gesteuert werden.Emotionen und Ängste sind leicht zu wecken und zu schüren, dann scheinen Menschen zu Unsäglichem fähig zu sein. Erschreckende Gedanken.
Deshalb müssen Geschichten wie Deine, immer wieder erzählt werden.
Danke.

Senhora
guana das es angeblich Menschen gibt die man daran noch erinnern muss. Wer sollte dieses in unserer Generation wohl vergessen????
Was soll das ??
guana
Karl Lieber Siegfried,


wie gerne möchte man vergessen, aber gerade dies darf nicht sein. Deshalb sage ich danke für die Erinnerung an dieses Geschehen.

Herzliche Grüße, Karl
oessilady Zu diesem Thema fällt mir hier auch eine Sache ein,die mir noch gut im Gedächtnis ist.
In unserem Dorf war ein Schuldirektor ,der war sehr eifriger Hitler-Verehrer.
Dieser hatte einen Sohn,der von Geburt an behindert war -heute sagt man dazu Mongolid
früher nannte man das einen Wasserkopf haben.
Nun es war das einzige Kind dieses Mannes und seiner Frau.
Eines Tages hieß es daß dieser Sohn in ein Erholungsheim gekommen sei und ein paar Wochen später war das Begräbnis des Jungen. Die ganze Schule war natürlich anwesend
und die Kinder mußten so war es befohlen am Grab den Hitlergruß geben.
Es ist doch entsetzlich ,zu denken,daß Eltern ihr einziges Kind ausgeliefert haben um es töten zu lassen.Was muß das für ein fanatischer Anhänger dieser Ideologie gewesen sein.
Wir hatten damals seehr viel Glück,denn bei uns gab es auch schon 4 Kinder aber alle waren ohne Behinderung.

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