Bernard der Leuchtturmwächter
Bernard stand ein letztes Mal auf seinem Leuchtturm, der vor zweihundert Jahren auf einem winzigen, der nordwestbretonischen Küste vorgelagerten Felsenriff errichtet worden war und seitdem hartnäckig der anbrandenden See trotzte. Wie ein warnender Finger reckte sich das eindrucksvolle Bauwerk fünfundvierzig Meter gegen den Himmel. Der Tidenhub der aufgewühlten See hatte ihren höchsten Wert gerade überschritten. Bernard blickte noch einmal auf die im sommerlichen Glanz strahlenden Häuser des Festlandes hinüber. Sonne und Wind hatten tiefe Furchen in sein braungefärbtes Gesicht gegraben. Die großen, schwarzen Augen blitzten unter den buschigen Brauen wie aus dunklen Höhlen hervor und verliehen ihm ein außergewöhnliches und geheimnisvolles Aussehen. Sein Blick schweifte wehmütig hinauf zu den über ihn hinwegfliehenden, stählernen Wolkenfetzen als wollte er sich von ihnen verabschieden – adieu sagen nach über sechzigjährigem, treuem Dienst als Leuchtturmwärter.
Fast täglich hatte er in all den Jahren den Salzhauch von den Fresnel-Linsen der Lichtbogenlampen gewischt und die Rhythmik des Leuchtfeuers überwacht. Wann immer ihm Zeit blieb, bediente er seine Kurzwellenstation und pflegte mit Funkamateuren aus vielen Ländern freundschaftlichen Kontakt. Seine Stimme hatte etwas Besonderes. Sie klang wie ein Kontrabass auf den Wellen zu Füßen seines Leuchtturms. So wusste jeder sofort, wer er war, wenn er am Mikrofon saß.
Vor fünfundzwanzig Jahren lernte ich ihn auf diese Weise kennen. An einem Sonntag-Nachmittag meldete er sich unter seinem Rufzeichen „french zero rio bernard“. Von da an unterhielten wir uns fast täglich über Jahre hinweg, bis vor einem halben Jahr und wurden feste Freunde, obwohl wir uns nie persönlich begegneten. Er kam nicht nach Deutschland, ich nicht nach Frankreich.
Jetzt, wo er ein letztes Mal auf seinem Leuchtturm stand, fragte er sich, was sein Leben wert gewesen sei, welchen Sinn es gehabt habe? Er war zu früh in die Welt geboren worden. Seine Mutter ließ ihn im Krankenhaus liegen. Sie wollte ihn nicht haben. Der Arzt hatte ihr gesagt, er sei behindert, tauge nicht zur Fortpflanzung. Eine Krankenschwester der Entbindungsklinik adoptierte Bernard und zog ihn wie ihr eigenes Kind auf. Später heiratete er und bekam eine Tochter, die er abgöttisch liebte und die nicht von seiner Seite wich, bis sie vor einem Jahr dreiundfünfzigjährig verstarb.
Bernard ruderte wöchentlich einmal ans Festland, wo er einkaufte und auch öfters seine Frau besuchte. Sie mochte den Turm und dessen Hundert Stufen nicht und hatte ihn nie erklommen, um ihren Mann zu besuchen. Er habe sich nur dorthin verkrochen, mutmaßte sie, um dem Leben zu entrinnen. Er sei der größte Nichtnutz, sei zu nichts zu gebrauchen. Keinen Nagel könne er gerade in die Wand schlagen. Alle anderen Männer, von denen sie reichlich kannte, seien in allem geschickter als er. Er habe sie im Stich gelassen und werfe nur Augen auf andere Frauen oder sei nur für seine Tochter da. Wenn er einmal einer anderen Frau zulächelte, schickte sie ihn mit ihrer Eifersucht in die Hölle. So knabberte sie Stück um Stück von seiner Liebe zu ihr aus dem Herzen. Trotzdem besuchte er sie immer wieder. Er brachte nicht den Mut auf, sich ihr gegenüber zu behaupten. Seine Ehe war weder Fisch noch Fleisch und hing an einem dünnen Faden, der stets zu reißen drohte. Hätte er seinen Beruf nicht mehr ausüben können oder nur ein Bein verloren, wäre seine Ehe wie ein morsches Boot im brausenden Meer zerschellt. Er hielt sie jedoch aufrecht, wo er sie hätte längst lösen müssen und verlor nicht nur die Achtung seiner Bekannten und Freunde, sondern auch die, vor sich selbst.
Am Ende sprang er. Im Fallen überwältigte er seine Schwäche und wurde federleicht. Niemand zerrte mehr an ihm – außer die Erde, die ihn zurückhaben wollte. Doch Bernard breitete die Arme, die ihm zu Flügel geworden waren, weit aus – wie er es tausendfach bei den Silbermöwen beobachtet hatte, wenn sie den Aufwind an den aufgeheizten Mauersteinen seines Turmes nutzten, und sich wie in einer Sänfte in die Höhe tragen ließen. In einer elegant durchzogenen Linkskurve schwang er über seinen Turm hinweg in die Höhe und schon bald kam ihm dieser wie eine bedeutungslose Winzigkeit vor, welche er unter und hinter sich zurückließ. Er überwandt seine kleine Welt und segelte in immer größerer Höhe der untergehenden Sonne entgegen, deren Glanz seinen Blick weitete für ein Wiedersehen mit der geliebten Tochter.
Als ich ihn jetzt besuchen wollte und nach ihm fragte, sagte man mir, Bernard sei schon seit einem halben Jahr wie vom Erdboden verschwunden. Man habe nichts mehr von ihm gehört, nur sein Boot sei vor ein paar Wochen am Strand gesichtet worden.
© Horst Ditz
Fast täglich hatte er in all den Jahren den Salzhauch von den Fresnel-Linsen der Lichtbogenlampen gewischt und die Rhythmik des Leuchtfeuers überwacht. Wann immer ihm Zeit blieb, bediente er seine Kurzwellenstation und pflegte mit Funkamateuren aus vielen Ländern freundschaftlichen Kontakt. Seine Stimme hatte etwas Besonderes. Sie klang wie ein Kontrabass auf den Wellen zu Füßen seines Leuchtturms. So wusste jeder sofort, wer er war, wenn er am Mikrofon saß.
Vor fünfundzwanzig Jahren lernte ich ihn auf diese Weise kennen. An einem Sonntag-Nachmittag meldete er sich unter seinem Rufzeichen „french zero rio bernard“. Von da an unterhielten wir uns fast täglich über Jahre hinweg, bis vor einem halben Jahr und wurden feste Freunde, obwohl wir uns nie persönlich begegneten. Er kam nicht nach Deutschland, ich nicht nach Frankreich.
Jetzt, wo er ein letztes Mal auf seinem Leuchtturm stand, fragte er sich, was sein Leben wert gewesen sei, welchen Sinn es gehabt habe? Er war zu früh in die Welt geboren worden. Seine Mutter ließ ihn im Krankenhaus liegen. Sie wollte ihn nicht haben. Der Arzt hatte ihr gesagt, er sei behindert, tauge nicht zur Fortpflanzung. Eine Krankenschwester der Entbindungsklinik adoptierte Bernard und zog ihn wie ihr eigenes Kind auf. Später heiratete er und bekam eine Tochter, die er abgöttisch liebte und die nicht von seiner Seite wich, bis sie vor einem Jahr dreiundfünfzigjährig verstarb.
Bernard ruderte wöchentlich einmal ans Festland, wo er einkaufte und auch öfters seine Frau besuchte. Sie mochte den Turm und dessen Hundert Stufen nicht und hatte ihn nie erklommen, um ihren Mann zu besuchen. Er habe sich nur dorthin verkrochen, mutmaßte sie, um dem Leben zu entrinnen. Er sei der größte Nichtnutz, sei zu nichts zu gebrauchen. Keinen Nagel könne er gerade in die Wand schlagen. Alle anderen Männer, von denen sie reichlich kannte, seien in allem geschickter als er. Er habe sie im Stich gelassen und werfe nur Augen auf andere Frauen oder sei nur für seine Tochter da. Wenn er einmal einer anderen Frau zulächelte, schickte sie ihn mit ihrer Eifersucht in die Hölle. So knabberte sie Stück um Stück von seiner Liebe zu ihr aus dem Herzen. Trotzdem besuchte er sie immer wieder. Er brachte nicht den Mut auf, sich ihr gegenüber zu behaupten. Seine Ehe war weder Fisch noch Fleisch und hing an einem dünnen Faden, der stets zu reißen drohte. Hätte er seinen Beruf nicht mehr ausüben können oder nur ein Bein verloren, wäre seine Ehe wie ein morsches Boot im brausenden Meer zerschellt. Er hielt sie jedoch aufrecht, wo er sie hätte längst lösen müssen und verlor nicht nur die Achtung seiner Bekannten und Freunde, sondern auch die, vor sich selbst.
Am Ende sprang er. Im Fallen überwältigte er seine Schwäche und wurde federleicht. Niemand zerrte mehr an ihm – außer die Erde, die ihn zurückhaben wollte. Doch Bernard breitete die Arme, die ihm zu Flügel geworden waren, weit aus – wie er es tausendfach bei den Silbermöwen beobachtet hatte, wenn sie den Aufwind an den aufgeheizten Mauersteinen seines Turmes nutzten, und sich wie in einer Sänfte in die Höhe tragen ließen. In einer elegant durchzogenen Linkskurve schwang er über seinen Turm hinweg in die Höhe und schon bald kam ihm dieser wie eine bedeutungslose Winzigkeit vor, welche er unter und hinter sich zurückließ. Er überwandt seine kleine Welt und segelte in immer größerer Höhe der untergehenden Sonne entgegen, deren Glanz seinen Blick weitete für ein Wiedersehen mit der geliebten Tochter.
Als ich ihn jetzt besuchen wollte und nach ihm fragte, sagte man mir, Bernard sei schon seit einem halben Jahr wie vom Erdboden verschwunden. Man habe nichts mehr von ihm gehört, nur sein Boot sei vor ein paar Wochen am Strand gesichtet worden.
© Horst Ditz
Kommentare (7)
Kommentar bearbeiten
Kommentar bearbeiten
Das Boot ist als Aquarell und Zugeständnis an die Fantasie entstanden.
LG- Horst
Kommentar bearbeiten
Sie macht mich traurig diese Lebensgeschichte, in der nur während der Kindheit und in seiner Tochter ein "Angenommensein" erlebt wurde.
Großartig Dein Eintauchen in die Phantasie, heraus aus der Realität, das empfinde ich wie britt.
Liebe Grüße schickt Dir Meli
Kommentar bearbeiten
Kommentar bearbeiten
Kommentar bearbeiten
Kommentar bearbeiten