16.Januar 1944=15:00 – 17.Januar 1944=17:00
16.Januar 1944=15:00 – 17.Januar 1944=17:00
Eine Reise von Eichwalde nach Erbach im Odenwald
Wieder hatte Eichwalde, ein Vorort von Berlin, einen bösen Luftangriff durchstehen müssen. Unsere Mutter entschloss sich kurzer Hand, mit uns sechs Kindern Berlin zu verlassen und uns in den Odenwald zu evakuieren.
So richtig haben wir Kinder, für die zunächst der Tagesablauf wie sonst ablief, nicht mitbekommen, was Mutter vor hatte. Sie war mal unterwegs, lief rüber zu den Schumanns, die ein Telefon in der Praxis hatten, kam gegen Mittag zurück, wir waren aus der Schule zurück.
Es wurde gepackt! Für Wera, unsere Ukrainerin hatte sie auch eine Reisegenehmigung beim Gemeindeamt geholt, war zum Bahnhof gelaufen, um die Zugverbindung und die Fahrkarten für uns Alle zu holen. Auch Vater war benachrichtigt worden, der bei den Landesschützen in der Greifswalder Straße kaserniert war. Vater kam raus nach Eichwalde. Er war erschüttert darüber, dass wir ihn nun in Berlin alleine lassen sollten.
Durch den Bahnhof von Eichwalde pendelte der Vorortzug vom Görlitzer Bahnhof nach Königs Wusterhausen, alle zwanzig Minuten hin und zurück. So einen Zug erwischten wir so gegen sechzehn Uhr. Es begann schon zu dämmern. In Grünau stiegen wir nach Treppab und Treppauf die Stadtbahn nach Spandau-West. Das uns so vertraute Surren der Gleichstrom-Motoren der S-Bahn begleitete uns.
Die Bahn schlängelte sich über die Spree hinein in die Stadt. Es wurde dunkler und dunkler. Die Bahnhöfe waren schwach beleuchtet und auch in den Zügen war ganz schwaches Licht – Verdunklung. Die Stadt lag im Dunklen, kaum, dass man Licht von den Autos, Straßenbahnen und Zügen wahrnehmen konnte. Wir stolperten im Bahnhof Friedrichstraße die Rolltreppe hinunter, wir mussten weiter mit der Nord-Süd-Bahn zum Anhalter Bahnhof fahren.
Die große Halle des imposanten Anhalter Fernbahnhofs war dunkel, schemenhaft konnte man Bahnsteig und Züge erkennen. Mutter suchte mit Vater das Abteil „Mutter und Kind“ in einem D-Zugwagen in dem Zug, der uns aus Berlin heraus bringen sollte. Der Zug war schon reichlich voll.
Mit Mühe konnte Mutter für die Kleinen von uns und sich Platz in dem gefundenen Abteil bekommen. Wera und ich durften im Gang vor der Abteiltür auf je einem unserer Koffer Platz nehmen. Nicht ständig, denn da wollten doch immer noch Fahrgäste durch den Gang weiter ziehen.
19:00 Uhr. Abschied vom Vater, der auf dem Bahnsteig zurückbleiben, dann alleine in dem Dunkel der Stadt zurück zur Kaserne musste. Der Zug rollte durch das ganze Gespinst der Weichen hinaus in das noch größere Dunkel. Die Räder grüßten bei jedem Schienenstoß mit einem dumpfen bis hellen Klopfen. Da sitzt man auf dem Fiber-Koffer, sucht nach einer Lehne, um dem Kreuz eine Entspannung zu geben. Man weiß nicht, wie man die Beine, die Füße entlasten soll in der Enge des Ganges. Und der Zug rollt in das Dunkel der Nacht. Dann und wann kommt ein kurzer rötlicher Schein von vorne, immer dann, wenn der Heizer der Lokomotive Kohlen nachschüttet.
Von hinten vom Wagen-Ende kommt ab und zu das Licht einer Lampe durch die Gänge. Es fuchtelt hin und her, verschwindet, taucht wieder auf. Ein Mann, ein Soldat und noch einer, Beide tragen ein Blechschild auf der Brust, das mit einer Kette um den Hals herum hoch gehalten wird. „Kettenhunde“ nennt man sie, Feldgendarmen! Kontrolle der Personalpapiere. Ausschau nach Menschen, die da nicht mitreisen dürfen. Mutter zeigt auch die Papiere für Wera vor, keine Beanstandung – Wera aus der Ukraine muss hier im Zug das Kennzeichen „OST“ tragen, zu Hause will Mutter das nicht. Ein Schaffner kommt von vorne und quält sich von Abteil zu Abteil, jetzt muss er die Fahrausweise prüfen.
Der Zug wird „gestellt“, das heißt: er muss in einem der so abgedunkelten Bahnhöfe anhalten. „Fliegeralarm! – Licht aus!“ Dabei war doch nirgendswo Licht zu sehen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Rollt weiter in die stockdunkle Nacht, dann und wann kommt ein kurzer rötlicher Schein von vorne, immer dann, wenn der Heizer der Lokomotive Kohlen nachschüttet.
Wir rollen in die hell erleuchtete Halle des Bahnhofs Halle an der Saale. Wie soviel Licht?! Lok-Wechsel und wieder geht es hinaus in das Dunkel der Nacht. Wir fahren mit einem D-Zug, so gibt es keine Halte unterwegs. Wenn der Zug etwas langsam durch einen Bahnhof rollt, gelingt es, den Stationsnamen zu erhaschen. Sangerhausen, dann der Tunnel – das kannte ich doch schon von den Ferien 1941. Sonst nichts weiter. Dunkelheit. Kein Bisschen Schlaf, nur immer durch einen Schlitz im Vorhang hinaus sehen.
Der Zug rollt auf einen Ort zu, roter Schein leuchtet dem Gespann entgegen. Mühsam rollt der Zug in Nordhausen ein, Nordhausen hat wohl etwas abbekommen bei dem Fliegeralarm, den wir durchfahren haben. Der Zug hält sich nicht auf, es geht weiter. Der rote Schein bleibt zurück.
Und dann rollt unser Zug in eine große, hell ausgeleuchtete Halle: Kassel Hauptbahnhof, ein Sackbahnhof. Fliegeralarm? Eine andere Lok zieht den Zug wieder heraus aus der Halle. Noch immer ist es dunkel. Aber mich verleitet es nicht zum Schlafen. Wie auch, da auf dem Koffer. Eine Stunde nach der anderen verfließt im Dunkeln. Auf die Halte an den Bahnhöfen achte ich nicht besonders, einige mehr als bisher. War das nicht Fulda?
Morgengrauen kommt auf, man kann die Vorhänge vor den Fenstern beiseite schieben. Ein Wandern hin und her, mehr als in der Nacht, jeder versucht sein Bedürfnis in der 00-Kabine an einem der Wagenenden zu erledigen. Also aufstehen und setzen, aufstehen und setzen. Mutter versorgt im Abteil „Mutter und Kind“ die Jüngsten. Es kommt Leben auf.
Hanau Hauptbahnhof! Wir müssen hier raus. Und dann stehen wir in dem kalten Wintermorgen auf dem Bahnsteig. Der Zug hatte Verspätung gehabt, nun ist der Zug weg, der uns weiterbringen sollte. Schließlich finden wir einen Zug, der uns wenigstens noch ein Stück näher zum Ziel bringt. Wiebelsbach-Heubach, wir kommen in den Odenwald.
Hier geht erst einmal bis zum Nachmittag gar nichts mehr weiter. Dahinten an einem kleinem Lok-Schuppe steht eine Güter-Lok, Piff-Paff – Piff-Paff – Piff-Paff-Piff-Paff-Piff-Paff – Piff-Paff, Minute um Minute, Stunde um Stunde setzt sie ihre Dampfstöße ab. Keiner geht zu ihr, keiner kümmert sich um sie.
Der Aufsichtsbeamte erklärt, dass wir in den Luftschutzkeller müssen, feindliche Kampfverbände fliegen ins Reichsgebiet ein. Ein toll ausgebauter Keller. Doch bald entläßt der Beamte uns wieder.
Am Nachmittag kommt der Personenzug aus Darmstadt. Nimmt uns mit, fährt mit uns das Mümling-Tal hinauf. Höchst im Odenwald, Bad König, Michelstadt. Und da ist endlich Erbach im Odenwald.
Cousine Ute holt uns mit dem Handwagen ab. Bringt uns zu Tante Trudel und Opa und Oma.
Tante Trudel ist froh, dass wir es geschafft haben. Wir hatten sie Wochen vorher in Berlin-Eichkamp bei der noch warmen Ruine ihres abgebrannten Hauses getroffen. Da hatten die beiden Schwestern diese Evakuierung verabredet. Und nun sind wir da, in Erbach, froh, erst einmal alles überstanden zu haben.
ortwin
Eine Reise von Eichwalde nach Erbach im Odenwald
Wieder hatte Eichwalde, ein Vorort von Berlin, einen bösen Luftangriff durchstehen müssen. Unsere Mutter entschloss sich kurzer Hand, mit uns sechs Kindern Berlin zu verlassen und uns in den Odenwald zu evakuieren.
So richtig haben wir Kinder, für die zunächst der Tagesablauf wie sonst ablief, nicht mitbekommen, was Mutter vor hatte. Sie war mal unterwegs, lief rüber zu den Schumanns, die ein Telefon in der Praxis hatten, kam gegen Mittag zurück, wir waren aus der Schule zurück.
Es wurde gepackt! Für Wera, unsere Ukrainerin hatte sie auch eine Reisegenehmigung beim Gemeindeamt geholt, war zum Bahnhof gelaufen, um die Zugverbindung und die Fahrkarten für uns Alle zu holen. Auch Vater war benachrichtigt worden, der bei den Landesschützen in der Greifswalder Straße kaserniert war. Vater kam raus nach Eichwalde. Er war erschüttert darüber, dass wir ihn nun in Berlin alleine lassen sollten.
Durch den Bahnhof von Eichwalde pendelte der Vorortzug vom Görlitzer Bahnhof nach Königs Wusterhausen, alle zwanzig Minuten hin und zurück. So einen Zug erwischten wir so gegen sechzehn Uhr. Es begann schon zu dämmern. In Grünau stiegen wir nach Treppab und Treppauf die Stadtbahn nach Spandau-West. Das uns so vertraute Surren der Gleichstrom-Motoren der S-Bahn begleitete uns.
Die Bahn schlängelte sich über die Spree hinein in die Stadt. Es wurde dunkler und dunkler. Die Bahnhöfe waren schwach beleuchtet und auch in den Zügen war ganz schwaches Licht – Verdunklung. Die Stadt lag im Dunklen, kaum, dass man Licht von den Autos, Straßenbahnen und Zügen wahrnehmen konnte. Wir stolperten im Bahnhof Friedrichstraße die Rolltreppe hinunter, wir mussten weiter mit der Nord-Süd-Bahn zum Anhalter Bahnhof fahren.
Die große Halle des imposanten Anhalter Fernbahnhofs war dunkel, schemenhaft konnte man Bahnsteig und Züge erkennen. Mutter suchte mit Vater das Abteil „Mutter und Kind“ in einem D-Zugwagen in dem Zug, der uns aus Berlin heraus bringen sollte. Der Zug war schon reichlich voll.
Mit Mühe konnte Mutter für die Kleinen von uns und sich Platz in dem gefundenen Abteil bekommen. Wera und ich durften im Gang vor der Abteiltür auf je einem unserer Koffer Platz nehmen. Nicht ständig, denn da wollten doch immer noch Fahrgäste durch den Gang weiter ziehen.
19:00 Uhr. Abschied vom Vater, der auf dem Bahnsteig zurückbleiben, dann alleine in dem Dunkel der Stadt zurück zur Kaserne musste. Der Zug rollte durch das ganze Gespinst der Weichen hinaus in das noch größere Dunkel. Die Räder grüßten bei jedem Schienenstoß mit einem dumpfen bis hellen Klopfen. Da sitzt man auf dem Fiber-Koffer, sucht nach einer Lehne, um dem Kreuz eine Entspannung zu geben. Man weiß nicht, wie man die Beine, die Füße entlasten soll in der Enge des Ganges. Und der Zug rollt in das Dunkel der Nacht. Dann und wann kommt ein kurzer rötlicher Schein von vorne, immer dann, wenn der Heizer der Lokomotive Kohlen nachschüttet.
Von hinten vom Wagen-Ende kommt ab und zu das Licht einer Lampe durch die Gänge. Es fuchtelt hin und her, verschwindet, taucht wieder auf. Ein Mann, ein Soldat und noch einer, Beide tragen ein Blechschild auf der Brust, das mit einer Kette um den Hals herum hoch gehalten wird. „Kettenhunde“ nennt man sie, Feldgendarmen! Kontrolle der Personalpapiere. Ausschau nach Menschen, die da nicht mitreisen dürfen. Mutter zeigt auch die Papiere für Wera vor, keine Beanstandung – Wera aus der Ukraine muss hier im Zug das Kennzeichen „OST“ tragen, zu Hause will Mutter das nicht. Ein Schaffner kommt von vorne und quält sich von Abteil zu Abteil, jetzt muss er die Fahrausweise prüfen.
Der Zug wird „gestellt“, das heißt: er muss in einem der so abgedunkelten Bahnhöfe anhalten. „Fliegeralarm! – Licht aus!“ Dabei war doch nirgendswo Licht zu sehen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Rollt weiter in die stockdunkle Nacht, dann und wann kommt ein kurzer rötlicher Schein von vorne, immer dann, wenn der Heizer der Lokomotive Kohlen nachschüttet.
Wir rollen in die hell erleuchtete Halle des Bahnhofs Halle an der Saale. Wie soviel Licht?! Lok-Wechsel und wieder geht es hinaus in das Dunkel der Nacht. Wir fahren mit einem D-Zug, so gibt es keine Halte unterwegs. Wenn der Zug etwas langsam durch einen Bahnhof rollt, gelingt es, den Stationsnamen zu erhaschen. Sangerhausen, dann der Tunnel – das kannte ich doch schon von den Ferien 1941. Sonst nichts weiter. Dunkelheit. Kein Bisschen Schlaf, nur immer durch einen Schlitz im Vorhang hinaus sehen.
Der Zug rollt auf einen Ort zu, roter Schein leuchtet dem Gespann entgegen. Mühsam rollt der Zug in Nordhausen ein, Nordhausen hat wohl etwas abbekommen bei dem Fliegeralarm, den wir durchfahren haben. Der Zug hält sich nicht auf, es geht weiter. Der rote Schein bleibt zurück.
Und dann rollt unser Zug in eine große, hell ausgeleuchtete Halle: Kassel Hauptbahnhof, ein Sackbahnhof. Fliegeralarm? Eine andere Lok zieht den Zug wieder heraus aus der Halle. Noch immer ist es dunkel. Aber mich verleitet es nicht zum Schlafen. Wie auch, da auf dem Koffer. Eine Stunde nach der anderen verfließt im Dunkeln. Auf die Halte an den Bahnhöfen achte ich nicht besonders, einige mehr als bisher. War das nicht Fulda?
Morgengrauen kommt auf, man kann die Vorhänge vor den Fenstern beiseite schieben. Ein Wandern hin und her, mehr als in der Nacht, jeder versucht sein Bedürfnis in der 00-Kabine an einem der Wagenenden zu erledigen. Also aufstehen und setzen, aufstehen und setzen. Mutter versorgt im Abteil „Mutter und Kind“ die Jüngsten. Es kommt Leben auf.
Hanau Hauptbahnhof! Wir müssen hier raus. Und dann stehen wir in dem kalten Wintermorgen auf dem Bahnsteig. Der Zug hatte Verspätung gehabt, nun ist der Zug weg, der uns weiterbringen sollte. Schließlich finden wir einen Zug, der uns wenigstens noch ein Stück näher zum Ziel bringt. Wiebelsbach-Heubach, wir kommen in den Odenwald.
Hier geht erst einmal bis zum Nachmittag gar nichts mehr weiter. Dahinten an einem kleinem Lok-Schuppe steht eine Güter-Lok, Piff-Paff – Piff-Paff – Piff-Paff-Piff-Paff-Piff-Paff – Piff-Paff, Minute um Minute, Stunde um Stunde setzt sie ihre Dampfstöße ab. Keiner geht zu ihr, keiner kümmert sich um sie.
Der Aufsichtsbeamte erklärt, dass wir in den Luftschutzkeller müssen, feindliche Kampfverbände fliegen ins Reichsgebiet ein. Ein toll ausgebauter Keller. Doch bald entläßt der Beamte uns wieder.
Am Nachmittag kommt der Personenzug aus Darmstadt. Nimmt uns mit, fährt mit uns das Mümling-Tal hinauf. Höchst im Odenwald, Bad König, Michelstadt. Und da ist endlich Erbach im Odenwald.
Cousine Ute holt uns mit dem Handwagen ab. Bringt uns zu Tante Trudel und Opa und Oma.
Tante Trudel ist froh, dass wir es geschafft haben. Wir hatten sie Wochen vorher in Berlin-Eichkamp bei der noch warmen Ruine ihres abgebrannten Hauses getroffen. Da hatten die beiden Schwestern diese Evakuierung verabredet. Und nun sind wir da, in Erbach, froh, erst einmal alles überstanden zu haben.
ortwin
ich weiß, dass viele menschen deines alters solche erlebnisse haben. das leben geht weiter, wurde damals sicher gesagt und die ganze zeit danach. aber heute holt die vergangenheit viele ein - es muss irgendwann verarbeitet werden.
In den seniorenheimen erlebe ich immer wieder, wie menschen unter erinnerungen, die lange verdrängt wurden, leiden.
ich wünsche dir viel kraft um mit dem erlebten richtig umzugehen.
herzlich grüßt dich
tranquilla