Wir lieben uns, das ist, was zählt.
Copyright (c) Franziska Cz.
Die Pflegekraft war gerade gegangen. Seine Frau liegt im Zimmer nebenan. Der alte Mann hat sich den Abendkaffee selbst zubereitet, hat jetzt erst gelernt, wie man das macht. „Wie lang hab ich sie wohl noch? Aufstehen wird sie wohl nie mehr können. Aber ich darf nicht klagen, wer hat schon das Glück, mit seiner Jugendliebe das Alter zu verbringen?“ Seine Gedanken kreisen in letzter Zeit immer mehr um Vergangenes, gehen tiefer zurück, dorthin, wo sie gemeinsam ihre Kindheit und Jugend verbracht hatten. „Früher wurde ich von der Mutter behütet, die mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat, mir morgens eine warme Milch hinstellte. Später hat Elise das Verwöhnen übernommen. Das hat mir die Kraft gegeben, die ich jetzt für uns zwei haben muss“ denkt er. „Und wir haben uns noch. Das ist, was zählt.“
Er sitzt da und sieht vor seinen Augen, wie er als kleiner Bub an einem Wintermorgen im Nachthemd hinter dem Haus vor der Küchentür steht, oben auf der Treppe, die zum Garten hinuntergeht. Drüben über die große Wiese hinweg hat er eine helle Gestalt entdeckt. Sie hält einen Schlitten fest, vor den zwei Hunde gespannt sind. Neben ihm bellt Bonzo, der die Gruppe in seiner Nase spürt und nicht mehr zu halten ist und die Treppe hinunter rennt und sich durch den Schnee einen Weg hinüber gräbt. Dort drüben steht das helle Wesen tief eingesunken in der verschneiten Wiese. Sie sieht aus wie das leibhaftige Christkind, so rein wie der frisch gefallene Schnee, in dessen weißer Kristalldecke es fast verschwindet, so wie Bonzo, dessen langes Terrier-Fell sich mit der Farbe des Schnees vermischt. Man hört sein Bellen, doch zu sehen ist nur seine Nasenspitze, die sich durch den Schnee schnüffelt und die Spur dorthin.
„Roland, Kind, was machst Du so früh am Morgen hier draußen? Es ist doch noch duster.“ Seine Mutter tritt aus der Küche. „Ich hab das Christuskind gesehen. Da bin ich hinaus gerannt. Es hielt den Hundeschlitten. Die Hunde konnten es nicht abwarten, bis sie endlich loslaufen konnten. Dann kam Erika aus der Tür und hüpfte auf den Schlitten, da rannten sie gleich los. Das war lustig.“
„Aber nein, Bub. Das Christuskind war Deine kleine Freundin Elise in ihrem weißen Nachthemd. Sie hat den Schlitten nur gehalten, weil Erika wohl noch eine Decke aus dem Haus holen wollte. Erika holt frisch gemolkene Milch von den Bauern und fährt sie danach hinunter in die Stadt zur Molkerei. Deine Elise wird Dich später sicher einmal mitnehmen, wenn sie alt genug ist, um selbst in die Molkerei zu fahren. Jetzt aber komm ins Haus. Du musst Dich aufwärmen. Oder willst Du morgen mit Fieber im Bett liegen, wenn wir den Heiligen Abend feiern?“ Die Mutter trägt ihn in die Küche. Sie setzt Roland auf einen Stuhl, reibt mit einem Handtuch seine Füße trocken. Sie macht Feuer im Ofen und gibt ihm später von der heißen Milch zu trinken, und er trinkt den ganzen Becher aus, weil sie einen großen Löffel Honig hineingetan hatte.
An der Straße um zwei Ecken weiter wohnt seine Spielfreundin Elise mit ihren Eltern. Deren Wiese stößt hinter dem Haus auf ihren Garten. Zu ihnen sind sie eingeladen an Heiligabend. Elises Eltern haben einen großen Bauernhof mit Kühen, Schweinen, Ziegen, Hühnern und Gänsen und den beiden Hunden. Ihrer Tante gehört die Molkerei in Marienbad. Ihre Eltern sind mit seinen Eltern befreundet, weil die Großeltern auch schon Freunde waren. Und sie, die Kinder, sind es nun ebenfalls miteinander.
Am nächsten Tag gegen Abend bekommt Roland dicke Wollstrümpfe angezogen und einen neuen Pullover, den die Großmutter gestrickt hatte. Der Vater zieht seinen einzigen guten Anzug an, der zwei Tage vorher an die Luft gehängt wurde, damit der Mottenkugel-Duft verschwand. Seine Mutter sitzt nun im Schlafzimmer vor der Psyche, so heißt bei ihnen der große dreiteilige Spiegel über der Kommode, in dem man sich von allen Seiten betrachten kann. In den Schubladen der Psyche verwahrt die Mutter ihre gestrickten Schals für den Winter und die feinen für den Sommer und die dicken Handschuhe für den Winter und die gehäkelten mit den Löchern für den Sommer und außerdem die mit zarter Häkelarbeit umrandeten Taschentücher; eins davon mit schwarzem Garn, in das sie nur bei Beerdigungen schnäuzt, so wie im vorigen Jahr, als Tante Marie gestorben war. Er beobachtet, wie sie die Haare hochsteckt mit einem Hornkamm, der schön aussieht zu ihren dunklen kräftigen Haaren. Seine Mutter dreht die Flügel des Spiegels nach rechts und nach links und kontrolliert, ob die Frisur auch am Hinterkopf sitzt. Nun steckt sie sich Ohrringe mit Granat-Splittern in die Ohren, zieht den schwarzen einteiligen Seiden-Unterrock an und darüber das rote Samtkleid, passend zu dem Ohrschmuck. Roland steht dicht hinter ihr und beobachtet sie und findet seine Mutter wunderschön. Zum Schluss steckt sie sich noch die Goldnadel mit dem gleichen Stein wie die Ohrringe ans Kleid. Als sie heraustritt, klatscht der Vater in die Hände und küsst sie auf den Mund. Gerade kommen die Großeltern zur Tür herein. Sie behalten ihre Mäntel an, weil sie alle gleich losgehen werden.
Jedoch bevor sie zu den Freunden aufbrechen, zündet Vater die Kerzen am Baum an, und sie stehen nun alle davor, beten ein Vaterunser mit dem Gegrüßet seiest Du Maria für die Lebenden und dann noch einmal für die Verstorbenen und singen „Stille Nacht, heilige Nacht“. Bonzo liegt vor dem Kachelofen auf einer warmen Decke, springt auf, als sie die Kerzen wieder ausblasen, in der Annahme, man würde ihn mitnehmen.
„Heut nicht“, sagt Roland, führt ihn zurück auf seine Decke und streichelt ihm beruhigend übers Fell. Vater und Mutter verabschieden sich von dem Hund, Bonzos Jaulen wird leiser. Nun endlich können sie losstapfen durch den hohen Schnee. Vater trägt seine in dickem Tuch verpackte Zither, der Großvater bringt einen Laib Brot und Haselnüsse vom Herbst aus dem Garten in einem kleinen Leinensack. Mutter hält einen Weihnachtsstollen auf dem Arm. Die Großmutter nimmt Rolands Hand in ihre. So gehen sie zum Haus der Nachbarn.
Als sie dort ankommen, gehen sie durch das schön behauene Backsteintor und überqueren den großen Hof. Der alte Bauer, immer noch ein stattlicher Mann, öffnet die Tür und nimmt Rolands Eltern und Großeltern die Mäntel ab sowie Rolands dicke Jacke. Einen Mantel wird Roland erst ein paar Jahre später bekommen, wenn er mit der Schule fertig ist. Aber zuerst muss er eingeschult werden im nächsten Jahr. Die Bäuerin steht neben dem Großbauern, wischt sich die Hände an der weißen gestärkten Schürze ab und küsst die Freunde. Roland versinkt in den dicken Schichten ihrer vielen Unterröcke, aber er empfindet dabei wie immer eine wonnigliche Geborgenheit. Sie alle tragen ihren Sonntagsstaat, wie man die Sonntagskleidung dort nennt. Der Bauer trägt seinen Samtwanst und die Bäuerin unter ihrer weißen Arbeitsschürze das schwarze Oberkleid. Später wird sie die weiße Schürze eintauschen gegen eine seidene schwarze mit feiner Stickerei.
Elises Eltern kommen die Treppe herunter, um sie zu begrüßen. Ihre Mutter ist in einem hellgrauen Wollkleid gekleidet, das an der Vorderseite gesmokt ist. Sie trägt eine Kette um den Hals mit blauen Glasperlen. Ihr Vater trägt über dem Hemd eine Weste, aber kein Jackett, denn es ist behaglich warm und es wird noch wärmer werden, wenn die Kerzen angezündet sind. Die junge Bauersfrau führt die Gäste in die gute Stube. Dort steht vom Boden bis zur Decke ein Weihnachtsbaum mit bunten Kugeln und Kerzen und Engelshaar geschmückt. Roland entdeckt die bunten und silbernen Vögel, die an die Zweige geknipst sind. Kleines Gebäck hängt mit Fäden am Baum, genau wie an ihrem Tannenbaum zuhause. Der Bauer und Großvater nehmen an der Ofenbank Platz, die Kinder setzen sich neben sie. Der Kachelofen spendet Wärme fürs ganze Haus.
„Setzt Euch bitte alle an den Tisch“ ruft die Bäuerin. Die jungen Mütter gehen zu ihr in die Küche, und die beiden jungen Männer begeben sich in die Gute Stube, wo der große Tisch mit einem weißen Tuch und schönem Geschirr gedeckt ist. Elise nimmt Roland an der Hand und zeigt ihm seinen Platz neben dem ihren. Auf ihren Stühlen sind große Kissen, damit sie über den Tisch schauen können. Elises Vater hebt beide auf ihre Stühle. Vor ihnen sieht das Gedeck mit den glitzernden Gläsern und dem glänzenden Besteck genau so aus wie bei den Erwachsenen. Da sitzen sie nun und schauen und warten.
Das Essen am Heiligen Abend ist seit Ewigkeiten einem bestimmten Ritual unterworfen, denn bevor das Gebet gesprochen wird, gehen die Erwachsenen noch einmal alles durch, was auf dem Tisch steht. Danach darf niemand mehr aufstehen. Es darf nicht zu viel und nicht zu wenig zum Essen bereit stehen. Das, was übrig bleibt, wird anschließend in einer feierlichen Zeremonie zu den Tieren in den Stall gebracht, damit auch sie von allem etwas bekommen. Die Kinder verfolgen die Vorbereitungen mit Neugierde.
Nun endlich scheint alles bereit zu sein. Jeder sitzt an seinem Platz. Elises Vater spricht das Vater Unser und das Gegrüßet seiest Du Maria und auch hier ein weiteres Mal für die Verstorbenen. Nun bekommt jeder einen Schöpflöffel mit heißer Gemüsesuppe in den Teller, danach Kartoffelsalat und ein Schnitzel oder wer will, auch nur ein halbes.
„Esst nicht zu viel, aber esst von allem etwas, und sei es nur eine Fingerspitze“, sagt Elises Großmutter zu den Kindern, und die Kinder kichern. Zum Schluss gibt es Pfefferminztee mit Pfeffernüssen, und Roland bekommt eine Haselnuss, eine Backpflaume und ein kleines Stück von Mutters Christstollen auf den Teller. Er isst alles auf.
Aber dann, als sie satt und zufrieden sind, da kommt der aufregendste Teil des ganzen Abends, auf den die Kinder schon voll Spannung warten. Ein Apfel muss in vier Teile geschnitten werden, die verantwortungsvolle Aufgabe eines der Männer. Voriges Jahr hat es sein Vater gemeistert. Dieses Jahr ist Elises Vater an der Reihe. Aber der Apfel muss nicht einfach nur geteilt werden. Das wichtigste ist: Kein Kernhaus darf angeschnitten werden. „Wenn das passiert, stirbt jemand im nächsten Jahr“ hat Elises Großmutter ihnen im vorigen Jahr erklärt.
Keiner will, dass jemand stirbt. Alles liegt diesmal in der rechten Hand von Elises Vater, mit der er das scharfe Obstmesser ansetzt. In seiner Linken liegt der große rote Apfel. In Rolands Gehirn spukt es wie teuflisch hin und her und er hat ein mulmiges Gefühl. Seine Ohren glühen vor Aufregung. Obwohl Mutter ihm einmal erklärte, als er sie fragte, wie das sei mit dem Tod: „Erst sterben die Großeltern, dann die Eltern und dann nach Deinem ganzen langen Leben, dann erst stirbst Du. So ist der Lauf der Welt“, das hat ihn beruhigt damals. Er bliebe also verschont. Aber wer wäre dran, wenn ein Kernhaus zerschnitten würde? Er schaut hinüber zum Großvater, blickt zu seiner Großmutter, die er beide so sehr liebt. Nein, das darf nicht sein! Aber es gibt ja noch Elises Großmutter, die aber so gutes Heiligabendessen machen kann und in deren Röcken man alles Unheil der Welt vergisst. Es gibt auch noch ihren Großvater, der so gut nach Tabakrauch riecht, auch das wäre traurig. Er merkt, dass sein Herz klopft, so fest und stark, dass er fast keine Luft mehr zum Atmen hat.
Da endlich! Vier Apfelteile liegen in der Mitte. Nun ist kein Halten mehr. Elise und Erika ihre Schwester und Roland stürzen sich über den Tisch und inspizieren sehr gründlich. Kein einziger Kern ist durchtrennt. Die Eltern lächeln und die Großeltern sind glücklich, und Elise rutscht von ihrem Stuhl herunter und läuft um den Tisch herum zu ihrem Großvater. Sie nimmt ihn in den Arm und lacht und küsst ihn und sagt: „Großvater, hast Du ein Glück g’habt. Wenn der Papa das Kernhaus zerschnitten hätte, wärst Du im nächsten Jahr gestorben. Und ich wär’ so traurig gewesen.“ Der alte Mann gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und lacht.
Mit leichten wunderbaren Gefühlen sitzen sie um den Tisch, knacken Nüsse, nehmen noch einen Happen von dem Stollen und trinken Tee. Bevor sie nun ihre Stühle rücken, um sie zum Tannenbaum zu tragen, um zweistimmig oder dreistimmig, wenn man das Brummen des Bauern dazurechnet, die Weihnachtslieder zu singen, da stehen alle auf und bringen das Geschirr in die Küche. Nun liegen nur noch die absichtlich zurück gelassenen Essensteile auf dem Tuch, ein paar geknackte Nüsse, Pfeffernüsse, Apfelstücke. Die Bäuerin teilt sie auf, alle packen am Tischtuch an und gehen betend zu den Tieren in den Kuhstall, in den Schweinestall, an die Tür des Hühnerstalls, zu den Gänsen und Enten und zu den beiden Hundehütten. Alle Tiere bekommen davon.
Noch im Freien legen sie das Tischtuch zusammen und gehen zurück ins Haus. Jetzt erst wünschen sie sich ein frohes Fest. Elise hält Roland fest an der Hand. Die Erwachsenen nehmen die Streichhölzer und zünden erneut die Kerzen am Baum an. Danach sitzen die Freunde aus den drei Generationen beisammen unter dem Tannenbaum und singen vor Glück und vor Freude. Die Älteren kennen alle Strophen, die Kinder lernen wieder, was sie das Jahr über vergessen haben. Der Vater spielt die Lieder auf der Zither, Erika auf der Geige und der Jungbauer begleitet sie auf der Gitarre.
Müde und voll von schönen Gedanken verabschieden sich die Freunde voneinander. Roland schläft ein, hat sein Gebet diesmal nicht vergessen. Am nächsten Morgen wacht er auf mit einem herrlichen Duft in der Nase. Die Eltern sind schon in der Küche, die Mutter steht am Herd. Der Vater hat Kaffee gemahlen, der so wunderbar riecht. Vielleicht ist der Duft auch nur so herrlich, weil er nur an besonderen Feiertagen durch die Wohnung zieht. Vor Roland steht die große Tasse Malzkaffee mit Milch und Zucker. Und heute gibt es Hermann Dex zum Frühstück. „Wer war Hermann Dex“ hat er die Mutter einmal gefragt, als er so alles Mögliche zu fragen begann. „Kind, das weiß niemand“, hatte sie geantwortet.
Die Frage blieb über Jahre offen. Weder die Großeltern noch sein Vater konnten ihm Auskunft geben. Jedenfalls war es ein köstliches Gericht mit Rühreiern und Extrawurst, so nannten sie die Fleischwurst. Erst später dann im Englischunterricht in der Bürgerschule, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen durch nur drei Worte: ‚Ham and Eggs’. Die Leute im Dorf hatten das Wort von den Engländern, die bei ihnen zur Kur waren und die sich das köstliche Gericht zum Frühstück bestellten mit Schinken anstatt Extrawurst. Damals im Unterricht hat er fast so gelacht wie heute, nur da waren seine Knochen noch elastisch, seine Augen weit offen und seine Neugierde unstillbar.
„Lang ist es her.“ Der alte Mann sitzt in seiner Küche und lacht ein gluckerndes Lachen. Sein oberes Gebiss liegt seit dem Morgen im Glas neben der Seifenschale im Badezimmer. Sein unterer Eckzahn ist im Laufe der Zeit immer länger geworden, doch er ist ihm treu geblieben. Die anderen Zähne sind ihm gezogen worden oder haben ihn nach und nach verlassen, auch die Haare. „Alle müssen Federn lassen, das ist das Leben“, denkt er. „Wer keine Haare mehr auf dem Kopf hat, muss sie nicht kämmen, und wer keine Zähne hat, spart sich das Kauen.“ Er tunkt das Brot in den warmen süßen Milchkaffee und lutscht es aus. Den Rest brockt er in die Tasse, holt ihn mit dem Teelöffel heraus und zermalmt die Brotmauke genüsslich auf der Zunge. Ihm wird warm ums Herz. Es ist früher Abend. Die Dämmerstunde hat gerade eingesetzt. „Wie ist es gut, wenn man sich an Schönes erinnern kann“, denkt er, „und wir haben uns alle geliebt, das ist, was zählt.“
„Du hast mindestens zwei Möglichkeiten, die Dinge zu betrachten, eine positive und eine negative“, hat er herausgefunden. Er hat den positiven Blickwinkel trainiert und sich darauf spezialisiert. „Nur achtsam musst Du leben, damit Du später etwas Gutes zum erinnern hast und vor Dir selber grad steh’n kannst.“ Was in seiner Macht stand, hat er getan. Es sind einfache, ehrliche Gedanken, die um ihn kreisen, und es sind vor allem Erinnerungen. Im Alter gehst Du rückwärts, weil vor Dir nur das eine große Abenteuer wartet. Auf dieses große Ziel musst Du nicht zugehen, es kommt Dir entgegen, das ist das Einzige, was gewiss ist.
Er führt jetzt wieder den Löffel zum Mund und schmunzelt, und er träumt noch eine Weile weiter. Niemand wird ihm mehr ein so gutes Frühstück vorsetzen wie damals seine Mutter. „Ja ja, der Hermann Dex“ denkt er vergnügt. Just in diesem Moment hört er an der Tür ein heftiges Klopfen und stürmisches Klingeln. „Polizei. Aufmachen!“
Der alte Mann in der Küche ist aufgeschreckt. Er stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch und erhebt sich schwerfällig aus dem Stuhl. Er muss die Hände aufstützen. Es geht alles nicht mehr so einfach wie früher. Die Krämpfe werden immer schlimmer. Die Tabletten nimmt er regelmäßig. ‚Parkinson’ hat der Arzt es genannt. Er zieht mit tatterigen Bewegungen die Hosenträger hoch, die die weiten Cordhosen halten und die beim Sitzen heruntergerutscht waren. Es ist ihm alles zu groß geworden. Sein Humor hilft ihm noch immer, unangenehmen Seiten des Lebens ein verschmitztes Augenzwinkern abzutrotzen. Zur Nachbarin sagte er: „So kann ich morgens in die Hosen schlüpfen und muss nicht erneut den Latz zuknöpfen, das geht schneller, und die Zeit ist vorbei, dass jemand anderes Spaß daran hatte.
Sein Unterhemd schaut aus dem warmen karierten Flanellhemd hervor, das er nicht ganz zugeknöpft hat. Überflüssige Bewegungen meidet er seit langem. Der Sohn und die Tochter sind gute Kinder, aber sie können nicht oft kommen, haben ja ihre eigenen Familien und wohnen in verschiedenen Städten. Sie rufen gelegentlich an, und jedes Mal sagt er: “Uns geht es gut. Wir Beide haben uns ja noch. Das ist die Hauptsache“. „Ja ja. Ich komm ja schon. Moment!“
Was will die Polizei von ihm? Wo ist mein Freund? Er tastet sich zum Küchenschrank. Dort steht seine Gehhilfe an den Schrank gelehnt. Bis dahin schafft er es Gott sei Dank noch immer, wackelig, aber ohne Hilfe! Er greift den Stock, nimmt ihn in die linke Hand und geht zum Lichtschalter im Flur. Seine Füße schlurfen verkrampft über die Teppichware den schmalen Gang entlang zur Tür. Mit beiden Händen holt er zittrig den Schlüsselbund vom Schlüsselbrett und dreht ihn mit viel Anstrengung um. Jetzt noch oben den Riegel und dann ist die Tür auf. „Was ist denn los?“
Der Mann in der Polizeijacke stößt ihn zur Seite und steht nun in der Diele: „Im Haus wurde vorige Nacht eingebrochen. Ist hier noch jemand außer Ihnen? Der alte Mann schüttelt den Kopf, will etwas sagen, aber der Ton will nicht aus seiner Kehle. „Haben Sie Wertsachen und Geld? Wo? Wir müssen alles sicherstellen.“
Der Alte zeigt hilflos auf die Schlafzimmertür, will sagen, dass er dort nicht hinein gehen soll. Jedoch bevor er antworten kann, drängt ihn die Polizistin mit der Polizeikappe auf dem Kopf, die bisher nur ihren Kollegen sprechen ließ, mit einem weißen aufgefalteten Bettlaken in die Küche zurück und hält es an den oberen Zipfeln fest, so dass er nicht sehen kann, was dahinter vor sich geht. Seine Knie und Hände bekommen plötzlich wieder dieses heftige Schütteln. Ihm wird schwach und die Beine werden noch steifer. Er lässt sich niederfallen auf den Küchenstuhl. Sein Herz pocht. Jetzt wendet sich die Polizistin von ihm ab und folgt ihrem Kollegen nach. Der Alte wird keine Schwierigkeiten machen, das weiß sie instinktiv. Es dauert noch nicht mal sehr lang, da sieht er nicht nur mehr den einen Mann, sondern zwei Männer und diese Frau an der offenen Küchentür vorbei aus der Wohnung eilen und das Treppenhaus hinunter. Der Polizist ruft noch lachend. „Sie können jetzt wieder zu Ihrer Frau.“
Sein Herz klopft noch immer rasend. Die Hände zittern stärker als jemals zuvor, und die Beine lassen sich fast nicht bewegen. Sie sind so fest und hart. Er will aufstehen, aber sein Rücken ist unbeugsam wie Eisen.
„Ich muss mich zusammenreißen. Was ist denn los mit mir? So eingerostet war ich doch früher nicht.“ Mit seinem ganzen Willen, die Hände auf den Küchentisch gestützt, kann er sich langsam hochziehen. In der Sorge um Elise, die im Schlafzimmer liegt, hilflos seit dem Schlaganfall im vorigen Jahr, und die er pflegt so gut er kann mit einer Krankenschwester, die jeden Abend und jeden Morgen kommt und die gerade wieder gegangen war, bewegen sich seine Beine. Niemals würde er sie weggeben, Elise. Seinen Freund in der linken Hand, so trippelt er wackliger als vorher mit kleinen langsamen steifen Schritten zu ihr. Aber er schafft es.
Er geht an ihr Bett. Elise sieht ihn an wie schon lange nicht mehr, so intensiv und so wach, doch sie kann keine weitere Regung mehr zeigen. Die Tür zum Schlafzimmerschrank ist offen, alles ist durcheinander geworfen, liegt auf dem Fußboden. Die Schubladen sind herausgerissen und durchwühlt. Er muss nicht nachschauen was fehlt. Sie waren sicher gründlich gewesen.
An ihrem Bett nimmt er ihre Hand in seine und lächelt sie an. „Alles ist gut. Es ist alles gut. Ich bin bei Dir und wir sind beisammen.“ Genau das hatte er schon einmal gesagt, damals, im März nach dem Krieg, als ihre kleine junge Familie zusammen mit anderen aus ihrer Heimat in einen Viehwaggon hineingesteckt und in Hessen wieder herausgelassen wurden. Und dann hatte er es gleich noch einmal gesagt, als sie am Schulhof dieses fremden Dorfes standen, mit dem Verdikt der Einheimischen, Flüchtlinge und Wildschweine hätten ihnen gerade noch gefehlt, und sie hatten sie „Zigeuner“ genannt. Niemand wollte sie aufnehmen, und Elise hatte auf dem Sack gesessen bitterlich geweint. Dieser sinnlose Krieg, und alles nur, weil künstliche Feindbilder aufgebaut wurden, Menschen, die man nicht lieben durfte, weil sonst das Geschäft des Krieges ins Stocken gekommen wäre.
Als sie eingeschlafen ist, da macht er sich bereit zur Nachtruhe. Mit schweren langsamen Schritten begibt er sich ins Badezimmer, geht auf die Toilette, zieht mühsam sein Hemd über den Kopf, dann das Unterhemd, nimmt ungelenk ein Stück Seife in die kraftlose Hand, lässt Wasser darüber laufen. Er wäscht sich bedächtig. Sein Gebiss liegt noch in dem Glas. Er nimmt es heraus und legt es über sich auf die Ablage. Im Zeitlupentempo lässt er Wasser in das leere Glas laufen, hält es an den Mund, rollt nun das Wasser von einer Backenseite in die andere, spuckt es aus, trocknet sich unordentlich ab, zieht seine Pyjamajacke an, die über der Badewanne liegt und geht zurück ins Schlafzimmer.
Als er mit großer Anstrengung seine verhärteten Beine ins Bett gezogen hat und nun so da liegt und die Spannung abfällt, da laufen Tränen aus seinen Augen. Er kann sie nicht aufhalten, muss nur acht geben, damit er nicht schluchzt. Das dürfte Elise nicht hören.
Erschöpft fällt er nach einer langen Weile in einen Traum, träumt von seinem kleinen Dorf, wo die Kinder glücklich und geborgen leben. Jeder kennt Jeden. Es ist ein kalter trockener herrlicher Wintertag. Schon wagt sich die Sonne heraus. Durch die wohlige Wärme traut sich Roland bei dünnem Eis auf den Dorfteich neben der Schule. Er geht ein ganzes Stück weit hinaus. Plötzlich aber bricht er ein. Er befindet sich in einer anderen Welt, ganz allein. Zuerst ist er fasziniert und schaut sich um, schaut in eine weite Dunkelheit. Nur über sich sieht er Licht, eine Öffnung. Langsam bläst er Luftblase um Luftblase aus seinem Mund. Er kämpft gegen das eisige Wasser und gegen das, was ihm nach einer Weile den Odem nimmt. Er spürt es in seinen Augen, in der Nase und in seinem Schlund. Es ritzt sich messerscharf in seine Haut. Er ist allein und versucht nun, das Licht zu erreichen. Er strampelt und arbeitet mit den Armen. Seine Beine werden aufwärts immer kälter, lassen sich nicht mehr bewegen und verkrampfen sich immer mehr. Er spürt, wie sich seine Füße verkrallen, und dann zieht der unerträgliche schmerzende Krampf hinauf, immer höher, immer näher. Gleich wird es ihm das Herz zerdrücken und er wird ohnmächtig werden. Da ergreift er eine Hand, aber klein ist sie, so zart, und er drückt sie kräftig. Als er wieder an der Oberfläche ist, sieht er eine Kette von Kindern, und Elise ist die erste von ihnen, die er wahrnimmt. Sie hat ein Seil um ihre Taille geknüpft, das von den Kindern festgehalten wird. Sie zieht ihn zu sich und sie lacht. Es ist ein leuchtendes Lachen in ihrem Gesicht. Roland ist gerettet.
Es war noch früh am Morgen. Die Krankenschwester schloss die Tür auf. Herr Roland saß nicht wie er es sonst zu tun pflegte, in der Küche über seiner Tasse Kaffee. Nachdem sie auf ihr Rufen keine Antwort bekommen hatte, ging sie geradeaus durch ins Schlafzimmer. Du meine Güte, was war denn hier los? Ein heilloses Durcheinander. Was hat er denn gesucht? Mein Gott, er scheint richtig gewütet zu haben und hat noch nicht mal mehr das Nötigste aufgeräumt. So kannte sie ihn ja gar nicht.
Frau Elise lag ruhig und entspannt in ihrem Bett. Sie war tot. Der routinierte Blick der Pflegerin erkannte diesen Tatbestand sofort. In dem Bett daneben lag der Gatte der Verstorbenen. Die Krankenschwester war erstaunt. Sie ging um das Bett herum und fühlte seinen Puls. Dann ging sie ins Bad, um einen Spiegel zu holen. Sie kam zurück und hielt ihn an den Mund des alten Mannes. Danach eilte sie zum Telefon. Der herbei gerufene Arzt stellte den eingetretenen Tod fest, der schon in der Nacht zu den beiden Alten gekommen war. Sie scheinen friedlich und ruhig entschlafen zu sein. Welch seltenes Ereignis, ein gemeinsamer natürlicher Tod. Erst jetzt bemerkte die Krankenschwester, dass die beiden Hände des Ehepaares sich ineinander verkrallt hatten. Sie nahm noch einmal den Hörer auf und wählte die Telefonnummer des Sohnes, die in großen Ziffern auf einem Zettel über dem Telefontisch hing.
Die Pflegekraft war gerade gegangen. Seine Frau liegt im Zimmer nebenan. Der alte Mann hat sich den Abendkaffee selbst zubereitet, hat jetzt erst gelernt, wie man das macht. „Wie lang hab ich sie wohl noch? Aufstehen wird sie wohl nie mehr können. Aber ich darf nicht klagen, wer hat schon das Glück, mit seiner Jugendliebe das Alter zu verbringen?“ Seine Gedanken kreisen in letzter Zeit immer mehr um Vergangenes, gehen tiefer zurück, dorthin, wo sie gemeinsam ihre Kindheit und Jugend verbracht hatten. „Früher wurde ich von der Mutter behütet, die mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat, mir morgens eine warme Milch hinstellte. Später hat Elise das Verwöhnen übernommen. Das hat mir die Kraft gegeben, die ich jetzt für uns zwei haben muss“ denkt er. „Und wir haben uns noch. Das ist, was zählt.“
Er sitzt da und sieht vor seinen Augen, wie er als kleiner Bub an einem Wintermorgen im Nachthemd hinter dem Haus vor der Küchentür steht, oben auf der Treppe, die zum Garten hinuntergeht. Drüben über die große Wiese hinweg hat er eine helle Gestalt entdeckt. Sie hält einen Schlitten fest, vor den zwei Hunde gespannt sind. Neben ihm bellt Bonzo, der die Gruppe in seiner Nase spürt und nicht mehr zu halten ist und die Treppe hinunter rennt und sich durch den Schnee einen Weg hinüber gräbt. Dort drüben steht das helle Wesen tief eingesunken in der verschneiten Wiese. Sie sieht aus wie das leibhaftige Christkind, so rein wie der frisch gefallene Schnee, in dessen weißer Kristalldecke es fast verschwindet, so wie Bonzo, dessen langes Terrier-Fell sich mit der Farbe des Schnees vermischt. Man hört sein Bellen, doch zu sehen ist nur seine Nasenspitze, die sich durch den Schnee schnüffelt und die Spur dorthin.
„Roland, Kind, was machst Du so früh am Morgen hier draußen? Es ist doch noch duster.“ Seine Mutter tritt aus der Küche. „Ich hab das Christuskind gesehen. Da bin ich hinaus gerannt. Es hielt den Hundeschlitten. Die Hunde konnten es nicht abwarten, bis sie endlich loslaufen konnten. Dann kam Erika aus der Tür und hüpfte auf den Schlitten, da rannten sie gleich los. Das war lustig.“
„Aber nein, Bub. Das Christuskind war Deine kleine Freundin Elise in ihrem weißen Nachthemd. Sie hat den Schlitten nur gehalten, weil Erika wohl noch eine Decke aus dem Haus holen wollte. Erika holt frisch gemolkene Milch von den Bauern und fährt sie danach hinunter in die Stadt zur Molkerei. Deine Elise wird Dich später sicher einmal mitnehmen, wenn sie alt genug ist, um selbst in die Molkerei zu fahren. Jetzt aber komm ins Haus. Du musst Dich aufwärmen. Oder willst Du morgen mit Fieber im Bett liegen, wenn wir den Heiligen Abend feiern?“ Die Mutter trägt ihn in die Küche. Sie setzt Roland auf einen Stuhl, reibt mit einem Handtuch seine Füße trocken. Sie macht Feuer im Ofen und gibt ihm später von der heißen Milch zu trinken, und er trinkt den ganzen Becher aus, weil sie einen großen Löffel Honig hineingetan hatte.
An der Straße um zwei Ecken weiter wohnt seine Spielfreundin Elise mit ihren Eltern. Deren Wiese stößt hinter dem Haus auf ihren Garten. Zu ihnen sind sie eingeladen an Heiligabend. Elises Eltern haben einen großen Bauernhof mit Kühen, Schweinen, Ziegen, Hühnern und Gänsen und den beiden Hunden. Ihrer Tante gehört die Molkerei in Marienbad. Ihre Eltern sind mit seinen Eltern befreundet, weil die Großeltern auch schon Freunde waren. Und sie, die Kinder, sind es nun ebenfalls miteinander.
Am nächsten Tag gegen Abend bekommt Roland dicke Wollstrümpfe angezogen und einen neuen Pullover, den die Großmutter gestrickt hatte. Der Vater zieht seinen einzigen guten Anzug an, der zwei Tage vorher an die Luft gehängt wurde, damit der Mottenkugel-Duft verschwand. Seine Mutter sitzt nun im Schlafzimmer vor der Psyche, so heißt bei ihnen der große dreiteilige Spiegel über der Kommode, in dem man sich von allen Seiten betrachten kann. In den Schubladen der Psyche verwahrt die Mutter ihre gestrickten Schals für den Winter und die feinen für den Sommer und die dicken Handschuhe für den Winter und die gehäkelten mit den Löchern für den Sommer und außerdem die mit zarter Häkelarbeit umrandeten Taschentücher; eins davon mit schwarzem Garn, in das sie nur bei Beerdigungen schnäuzt, so wie im vorigen Jahr, als Tante Marie gestorben war. Er beobachtet, wie sie die Haare hochsteckt mit einem Hornkamm, der schön aussieht zu ihren dunklen kräftigen Haaren. Seine Mutter dreht die Flügel des Spiegels nach rechts und nach links und kontrolliert, ob die Frisur auch am Hinterkopf sitzt. Nun steckt sie sich Ohrringe mit Granat-Splittern in die Ohren, zieht den schwarzen einteiligen Seiden-Unterrock an und darüber das rote Samtkleid, passend zu dem Ohrschmuck. Roland steht dicht hinter ihr und beobachtet sie und findet seine Mutter wunderschön. Zum Schluss steckt sie sich noch die Goldnadel mit dem gleichen Stein wie die Ohrringe ans Kleid. Als sie heraustritt, klatscht der Vater in die Hände und küsst sie auf den Mund. Gerade kommen die Großeltern zur Tür herein. Sie behalten ihre Mäntel an, weil sie alle gleich losgehen werden.
Jedoch bevor sie zu den Freunden aufbrechen, zündet Vater die Kerzen am Baum an, und sie stehen nun alle davor, beten ein Vaterunser mit dem Gegrüßet seiest Du Maria für die Lebenden und dann noch einmal für die Verstorbenen und singen „Stille Nacht, heilige Nacht“. Bonzo liegt vor dem Kachelofen auf einer warmen Decke, springt auf, als sie die Kerzen wieder ausblasen, in der Annahme, man würde ihn mitnehmen.
„Heut nicht“, sagt Roland, führt ihn zurück auf seine Decke und streichelt ihm beruhigend übers Fell. Vater und Mutter verabschieden sich von dem Hund, Bonzos Jaulen wird leiser. Nun endlich können sie losstapfen durch den hohen Schnee. Vater trägt seine in dickem Tuch verpackte Zither, der Großvater bringt einen Laib Brot und Haselnüsse vom Herbst aus dem Garten in einem kleinen Leinensack. Mutter hält einen Weihnachtsstollen auf dem Arm. Die Großmutter nimmt Rolands Hand in ihre. So gehen sie zum Haus der Nachbarn.
Als sie dort ankommen, gehen sie durch das schön behauene Backsteintor und überqueren den großen Hof. Der alte Bauer, immer noch ein stattlicher Mann, öffnet die Tür und nimmt Rolands Eltern und Großeltern die Mäntel ab sowie Rolands dicke Jacke. Einen Mantel wird Roland erst ein paar Jahre später bekommen, wenn er mit der Schule fertig ist. Aber zuerst muss er eingeschult werden im nächsten Jahr. Die Bäuerin steht neben dem Großbauern, wischt sich die Hände an der weißen gestärkten Schürze ab und küsst die Freunde. Roland versinkt in den dicken Schichten ihrer vielen Unterröcke, aber er empfindet dabei wie immer eine wonnigliche Geborgenheit. Sie alle tragen ihren Sonntagsstaat, wie man die Sonntagskleidung dort nennt. Der Bauer trägt seinen Samtwanst und die Bäuerin unter ihrer weißen Arbeitsschürze das schwarze Oberkleid. Später wird sie die weiße Schürze eintauschen gegen eine seidene schwarze mit feiner Stickerei.
Elises Eltern kommen die Treppe herunter, um sie zu begrüßen. Ihre Mutter ist in einem hellgrauen Wollkleid gekleidet, das an der Vorderseite gesmokt ist. Sie trägt eine Kette um den Hals mit blauen Glasperlen. Ihr Vater trägt über dem Hemd eine Weste, aber kein Jackett, denn es ist behaglich warm und es wird noch wärmer werden, wenn die Kerzen angezündet sind. Die junge Bauersfrau führt die Gäste in die gute Stube. Dort steht vom Boden bis zur Decke ein Weihnachtsbaum mit bunten Kugeln und Kerzen und Engelshaar geschmückt. Roland entdeckt die bunten und silbernen Vögel, die an die Zweige geknipst sind. Kleines Gebäck hängt mit Fäden am Baum, genau wie an ihrem Tannenbaum zuhause. Der Bauer und Großvater nehmen an der Ofenbank Platz, die Kinder setzen sich neben sie. Der Kachelofen spendet Wärme fürs ganze Haus.
„Setzt Euch bitte alle an den Tisch“ ruft die Bäuerin. Die jungen Mütter gehen zu ihr in die Küche, und die beiden jungen Männer begeben sich in die Gute Stube, wo der große Tisch mit einem weißen Tuch und schönem Geschirr gedeckt ist. Elise nimmt Roland an der Hand und zeigt ihm seinen Platz neben dem ihren. Auf ihren Stühlen sind große Kissen, damit sie über den Tisch schauen können. Elises Vater hebt beide auf ihre Stühle. Vor ihnen sieht das Gedeck mit den glitzernden Gläsern und dem glänzenden Besteck genau so aus wie bei den Erwachsenen. Da sitzen sie nun und schauen und warten.
Das Essen am Heiligen Abend ist seit Ewigkeiten einem bestimmten Ritual unterworfen, denn bevor das Gebet gesprochen wird, gehen die Erwachsenen noch einmal alles durch, was auf dem Tisch steht. Danach darf niemand mehr aufstehen. Es darf nicht zu viel und nicht zu wenig zum Essen bereit stehen. Das, was übrig bleibt, wird anschließend in einer feierlichen Zeremonie zu den Tieren in den Stall gebracht, damit auch sie von allem etwas bekommen. Die Kinder verfolgen die Vorbereitungen mit Neugierde.
Nun endlich scheint alles bereit zu sein. Jeder sitzt an seinem Platz. Elises Vater spricht das Vater Unser und das Gegrüßet seiest Du Maria und auch hier ein weiteres Mal für die Verstorbenen. Nun bekommt jeder einen Schöpflöffel mit heißer Gemüsesuppe in den Teller, danach Kartoffelsalat und ein Schnitzel oder wer will, auch nur ein halbes.
„Esst nicht zu viel, aber esst von allem etwas, und sei es nur eine Fingerspitze“, sagt Elises Großmutter zu den Kindern, und die Kinder kichern. Zum Schluss gibt es Pfefferminztee mit Pfeffernüssen, und Roland bekommt eine Haselnuss, eine Backpflaume und ein kleines Stück von Mutters Christstollen auf den Teller. Er isst alles auf.
Aber dann, als sie satt und zufrieden sind, da kommt der aufregendste Teil des ganzen Abends, auf den die Kinder schon voll Spannung warten. Ein Apfel muss in vier Teile geschnitten werden, die verantwortungsvolle Aufgabe eines der Männer. Voriges Jahr hat es sein Vater gemeistert. Dieses Jahr ist Elises Vater an der Reihe. Aber der Apfel muss nicht einfach nur geteilt werden. Das wichtigste ist: Kein Kernhaus darf angeschnitten werden. „Wenn das passiert, stirbt jemand im nächsten Jahr“ hat Elises Großmutter ihnen im vorigen Jahr erklärt.
Keiner will, dass jemand stirbt. Alles liegt diesmal in der rechten Hand von Elises Vater, mit der er das scharfe Obstmesser ansetzt. In seiner Linken liegt der große rote Apfel. In Rolands Gehirn spukt es wie teuflisch hin und her und er hat ein mulmiges Gefühl. Seine Ohren glühen vor Aufregung. Obwohl Mutter ihm einmal erklärte, als er sie fragte, wie das sei mit dem Tod: „Erst sterben die Großeltern, dann die Eltern und dann nach Deinem ganzen langen Leben, dann erst stirbst Du. So ist der Lauf der Welt“, das hat ihn beruhigt damals. Er bliebe also verschont. Aber wer wäre dran, wenn ein Kernhaus zerschnitten würde? Er schaut hinüber zum Großvater, blickt zu seiner Großmutter, die er beide so sehr liebt. Nein, das darf nicht sein! Aber es gibt ja noch Elises Großmutter, die aber so gutes Heiligabendessen machen kann und in deren Röcken man alles Unheil der Welt vergisst. Es gibt auch noch ihren Großvater, der so gut nach Tabakrauch riecht, auch das wäre traurig. Er merkt, dass sein Herz klopft, so fest und stark, dass er fast keine Luft mehr zum Atmen hat.
Da endlich! Vier Apfelteile liegen in der Mitte. Nun ist kein Halten mehr. Elise und Erika ihre Schwester und Roland stürzen sich über den Tisch und inspizieren sehr gründlich. Kein einziger Kern ist durchtrennt. Die Eltern lächeln und die Großeltern sind glücklich, und Elise rutscht von ihrem Stuhl herunter und läuft um den Tisch herum zu ihrem Großvater. Sie nimmt ihn in den Arm und lacht und küsst ihn und sagt: „Großvater, hast Du ein Glück g’habt. Wenn der Papa das Kernhaus zerschnitten hätte, wärst Du im nächsten Jahr gestorben. Und ich wär’ so traurig gewesen.“ Der alte Mann gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und lacht.
Mit leichten wunderbaren Gefühlen sitzen sie um den Tisch, knacken Nüsse, nehmen noch einen Happen von dem Stollen und trinken Tee. Bevor sie nun ihre Stühle rücken, um sie zum Tannenbaum zu tragen, um zweistimmig oder dreistimmig, wenn man das Brummen des Bauern dazurechnet, die Weihnachtslieder zu singen, da stehen alle auf und bringen das Geschirr in die Küche. Nun liegen nur noch die absichtlich zurück gelassenen Essensteile auf dem Tuch, ein paar geknackte Nüsse, Pfeffernüsse, Apfelstücke. Die Bäuerin teilt sie auf, alle packen am Tischtuch an und gehen betend zu den Tieren in den Kuhstall, in den Schweinestall, an die Tür des Hühnerstalls, zu den Gänsen und Enten und zu den beiden Hundehütten. Alle Tiere bekommen davon.
Noch im Freien legen sie das Tischtuch zusammen und gehen zurück ins Haus. Jetzt erst wünschen sie sich ein frohes Fest. Elise hält Roland fest an der Hand. Die Erwachsenen nehmen die Streichhölzer und zünden erneut die Kerzen am Baum an. Danach sitzen die Freunde aus den drei Generationen beisammen unter dem Tannenbaum und singen vor Glück und vor Freude. Die Älteren kennen alle Strophen, die Kinder lernen wieder, was sie das Jahr über vergessen haben. Der Vater spielt die Lieder auf der Zither, Erika auf der Geige und der Jungbauer begleitet sie auf der Gitarre.
Müde und voll von schönen Gedanken verabschieden sich die Freunde voneinander. Roland schläft ein, hat sein Gebet diesmal nicht vergessen. Am nächsten Morgen wacht er auf mit einem herrlichen Duft in der Nase. Die Eltern sind schon in der Küche, die Mutter steht am Herd. Der Vater hat Kaffee gemahlen, der so wunderbar riecht. Vielleicht ist der Duft auch nur so herrlich, weil er nur an besonderen Feiertagen durch die Wohnung zieht. Vor Roland steht die große Tasse Malzkaffee mit Milch und Zucker. Und heute gibt es Hermann Dex zum Frühstück. „Wer war Hermann Dex“ hat er die Mutter einmal gefragt, als er so alles Mögliche zu fragen begann. „Kind, das weiß niemand“, hatte sie geantwortet.
Die Frage blieb über Jahre offen. Weder die Großeltern noch sein Vater konnten ihm Auskunft geben. Jedenfalls war es ein köstliches Gericht mit Rühreiern und Extrawurst, so nannten sie die Fleischwurst. Erst später dann im Englischunterricht in der Bürgerschule, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen durch nur drei Worte: ‚Ham and Eggs’. Die Leute im Dorf hatten das Wort von den Engländern, die bei ihnen zur Kur waren und die sich das köstliche Gericht zum Frühstück bestellten mit Schinken anstatt Extrawurst. Damals im Unterricht hat er fast so gelacht wie heute, nur da waren seine Knochen noch elastisch, seine Augen weit offen und seine Neugierde unstillbar.
„Lang ist es her.“ Der alte Mann sitzt in seiner Küche und lacht ein gluckerndes Lachen. Sein oberes Gebiss liegt seit dem Morgen im Glas neben der Seifenschale im Badezimmer. Sein unterer Eckzahn ist im Laufe der Zeit immer länger geworden, doch er ist ihm treu geblieben. Die anderen Zähne sind ihm gezogen worden oder haben ihn nach und nach verlassen, auch die Haare. „Alle müssen Federn lassen, das ist das Leben“, denkt er. „Wer keine Haare mehr auf dem Kopf hat, muss sie nicht kämmen, und wer keine Zähne hat, spart sich das Kauen.“ Er tunkt das Brot in den warmen süßen Milchkaffee und lutscht es aus. Den Rest brockt er in die Tasse, holt ihn mit dem Teelöffel heraus und zermalmt die Brotmauke genüsslich auf der Zunge. Ihm wird warm ums Herz. Es ist früher Abend. Die Dämmerstunde hat gerade eingesetzt. „Wie ist es gut, wenn man sich an Schönes erinnern kann“, denkt er, „und wir haben uns alle geliebt, das ist, was zählt.“
„Du hast mindestens zwei Möglichkeiten, die Dinge zu betrachten, eine positive und eine negative“, hat er herausgefunden. Er hat den positiven Blickwinkel trainiert und sich darauf spezialisiert. „Nur achtsam musst Du leben, damit Du später etwas Gutes zum erinnern hast und vor Dir selber grad steh’n kannst.“ Was in seiner Macht stand, hat er getan. Es sind einfache, ehrliche Gedanken, die um ihn kreisen, und es sind vor allem Erinnerungen. Im Alter gehst Du rückwärts, weil vor Dir nur das eine große Abenteuer wartet. Auf dieses große Ziel musst Du nicht zugehen, es kommt Dir entgegen, das ist das Einzige, was gewiss ist.
Er führt jetzt wieder den Löffel zum Mund und schmunzelt, und er träumt noch eine Weile weiter. Niemand wird ihm mehr ein so gutes Frühstück vorsetzen wie damals seine Mutter. „Ja ja, der Hermann Dex“ denkt er vergnügt. Just in diesem Moment hört er an der Tür ein heftiges Klopfen und stürmisches Klingeln. „Polizei. Aufmachen!“
Der alte Mann in der Küche ist aufgeschreckt. Er stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch und erhebt sich schwerfällig aus dem Stuhl. Er muss die Hände aufstützen. Es geht alles nicht mehr so einfach wie früher. Die Krämpfe werden immer schlimmer. Die Tabletten nimmt er regelmäßig. ‚Parkinson’ hat der Arzt es genannt. Er zieht mit tatterigen Bewegungen die Hosenträger hoch, die die weiten Cordhosen halten und die beim Sitzen heruntergerutscht waren. Es ist ihm alles zu groß geworden. Sein Humor hilft ihm noch immer, unangenehmen Seiten des Lebens ein verschmitztes Augenzwinkern abzutrotzen. Zur Nachbarin sagte er: „So kann ich morgens in die Hosen schlüpfen und muss nicht erneut den Latz zuknöpfen, das geht schneller, und die Zeit ist vorbei, dass jemand anderes Spaß daran hatte.
Sein Unterhemd schaut aus dem warmen karierten Flanellhemd hervor, das er nicht ganz zugeknöpft hat. Überflüssige Bewegungen meidet er seit langem. Der Sohn und die Tochter sind gute Kinder, aber sie können nicht oft kommen, haben ja ihre eigenen Familien und wohnen in verschiedenen Städten. Sie rufen gelegentlich an, und jedes Mal sagt er: “Uns geht es gut. Wir Beide haben uns ja noch. Das ist die Hauptsache“. „Ja ja. Ich komm ja schon. Moment!“
Was will die Polizei von ihm? Wo ist mein Freund? Er tastet sich zum Küchenschrank. Dort steht seine Gehhilfe an den Schrank gelehnt. Bis dahin schafft er es Gott sei Dank noch immer, wackelig, aber ohne Hilfe! Er greift den Stock, nimmt ihn in die linke Hand und geht zum Lichtschalter im Flur. Seine Füße schlurfen verkrampft über die Teppichware den schmalen Gang entlang zur Tür. Mit beiden Händen holt er zittrig den Schlüsselbund vom Schlüsselbrett und dreht ihn mit viel Anstrengung um. Jetzt noch oben den Riegel und dann ist die Tür auf. „Was ist denn los?“
Der Mann in der Polizeijacke stößt ihn zur Seite und steht nun in der Diele: „Im Haus wurde vorige Nacht eingebrochen. Ist hier noch jemand außer Ihnen? Der alte Mann schüttelt den Kopf, will etwas sagen, aber der Ton will nicht aus seiner Kehle. „Haben Sie Wertsachen und Geld? Wo? Wir müssen alles sicherstellen.“
Der Alte zeigt hilflos auf die Schlafzimmertür, will sagen, dass er dort nicht hinein gehen soll. Jedoch bevor er antworten kann, drängt ihn die Polizistin mit der Polizeikappe auf dem Kopf, die bisher nur ihren Kollegen sprechen ließ, mit einem weißen aufgefalteten Bettlaken in die Küche zurück und hält es an den oberen Zipfeln fest, so dass er nicht sehen kann, was dahinter vor sich geht. Seine Knie und Hände bekommen plötzlich wieder dieses heftige Schütteln. Ihm wird schwach und die Beine werden noch steifer. Er lässt sich niederfallen auf den Küchenstuhl. Sein Herz pocht. Jetzt wendet sich die Polizistin von ihm ab und folgt ihrem Kollegen nach. Der Alte wird keine Schwierigkeiten machen, das weiß sie instinktiv. Es dauert noch nicht mal sehr lang, da sieht er nicht nur mehr den einen Mann, sondern zwei Männer und diese Frau an der offenen Küchentür vorbei aus der Wohnung eilen und das Treppenhaus hinunter. Der Polizist ruft noch lachend. „Sie können jetzt wieder zu Ihrer Frau.“
Sein Herz klopft noch immer rasend. Die Hände zittern stärker als jemals zuvor, und die Beine lassen sich fast nicht bewegen. Sie sind so fest und hart. Er will aufstehen, aber sein Rücken ist unbeugsam wie Eisen.
„Ich muss mich zusammenreißen. Was ist denn los mit mir? So eingerostet war ich doch früher nicht.“ Mit seinem ganzen Willen, die Hände auf den Küchentisch gestützt, kann er sich langsam hochziehen. In der Sorge um Elise, die im Schlafzimmer liegt, hilflos seit dem Schlaganfall im vorigen Jahr, und die er pflegt so gut er kann mit einer Krankenschwester, die jeden Abend und jeden Morgen kommt und die gerade wieder gegangen war, bewegen sich seine Beine. Niemals würde er sie weggeben, Elise. Seinen Freund in der linken Hand, so trippelt er wackliger als vorher mit kleinen langsamen steifen Schritten zu ihr. Aber er schafft es.
Er geht an ihr Bett. Elise sieht ihn an wie schon lange nicht mehr, so intensiv und so wach, doch sie kann keine weitere Regung mehr zeigen. Die Tür zum Schlafzimmerschrank ist offen, alles ist durcheinander geworfen, liegt auf dem Fußboden. Die Schubladen sind herausgerissen und durchwühlt. Er muss nicht nachschauen was fehlt. Sie waren sicher gründlich gewesen.
An ihrem Bett nimmt er ihre Hand in seine und lächelt sie an. „Alles ist gut. Es ist alles gut. Ich bin bei Dir und wir sind beisammen.“ Genau das hatte er schon einmal gesagt, damals, im März nach dem Krieg, als ihre kleine junge Familie zusammen mit anderen aus ihrer Heimat in einen Viehwaggon hineingesteckt und in Hessen wieder herausgelassen wurden. Und dann hatte er es gleich noch einmal gesagt, als sie am Schulhof dieses fremden Dorfes standen, mit dem Verdikt der Einheimischen, Flüchtlinge und Wildschweine hätten ihnen gerade noch gefehlt, und sie hatten sie „Zigeuner“ genannt. Niemand wollte sie aufnehmen, und Elise hatte auf dem Sack gesessen bitterlich geweint. Dieser sinnlose Krieg, und alles nur, weil künstliche Feindbilder aufgebaut wurden, Menschen, die man nicht lieben durfte, weil sonst das Geschäft des Krieges ins Stocken gekommen wäre.
Als sie eingeschlafen ist, da macht er sich bereit zur Nachtruhe. Mit schweren langsamen Schritten begibt er sich ins Badezimmer, geht auf die Toilette, zieht mühsam sein Hemd über den Kopf, dann das Unterhemd, nimmt ungelenk ein Stück Seife in die kraftlose Hand, lässt Wasser darüber laufen. Er wäscht sich bedächtig. Sein Gebiss liegt noch in dem Glas. Er nimmt es heraus und legt es über sich auf die Ablage. Im Zeitlupentempo lässt er Wasser in das leere Glas laufen, hält es an den Mund, rollt nun das Wasser von einer Backenseite in die andere, spuckt es aus, trocknet sich unordentlich ab, zieht seine Pyjamajacke an, die über der Badewanne liegt und geht zurück ins Schlafzimmer.
Als er mit großer Anstrengung seine verhärteten Beine ins Bett gezogen hat und nun so da liegt und die Spannung abfällt, da laufen Tränen aus seinen Augen. Er kann sie nicht aufhalten, muss nur acht geben, damit er nicht schluchzt. Das dürfte Elise nicht hören.
Erschöpft fällt er nach einer langen Weile in einen Traum, träumt von seinem kleinen Dorf, wo die Kinder glücklich und geborgen leben. Jeder kennt Jeden. Es ist ein kalter trockener herrlicher Wintertag. Schon wagt sich die Sonne heraus. Durch die wohlige Wärme traut sich Roland bei dünnem Eis auf den Dorfteich neben der Schule. Er geht ein ganzes Stück weit hinaus. Plötzlich aber bricht er ein. Er befindet sich in einer anderen Welt, ganz allein. Zuerst ist er fasziniert und schaut sich um, schaut in eine weite Dunkelheit. Nur über sich sieht er Licht, eine Öffnung. Langsam bläst er Luftblase um Luftblase aus seinem Mund. Er kämpft gegen das eisige Wasser und gegen das, was ihm nach einer Weile den Odem nimmt. Er spürt es in seinen Augen, in der Nase und in seinem Schlund. Es ritzt sich messerscharf in seine Haut. Er ist allein und versucht nun, das Licht zu erreichen. Er strampelt und arbeitet mit den Armen. Seine Beine werden aufwärts immer kälter, lassen sich nicht mehr bewegen und verkrampfen sich immer mehr. Er spürt, wie sich seine Füße verkrallen, und dann zieht der unerträgliche schmerzende Krampf hinauf, immer höher, immer näher. Gleich wird es ihm das Herz zerdrücken und er wird ohnmächtig werden. Da ergreift er eine Hand, aber klein ist sie, so zart, und er drückt sie kräftig. Als er wieder an der Oberfläche ist, sieht er eine Kette von Kindern, und Elise ist die erste von ihnen, die er wahrnimmt. Sie hat ein Seil um ihre Taille geknüpft, das von den Kindern festgehalten wird. Sie zieht ihn zu sich und sie lacht. Es ist ein leuchtendes Lachen in ihrem Gesicht. Roland ist gerettet.
Es war noch früh am Morgen. Die Krankenschwester schloss die Tür auf. Herr Roland saß nicht wie er es sonst zu tun pflegte, in der Küche über seiner Tasse Kaffee. Nachdem sie auf ihr Rufen keine Antwort bekommen hatte, ging sie geradeaus durch ins Schlafzimmer. Du meine Güte, was war denn hier los? Ein heilloses Durcheinander. Was hat er denn gesucht? Mein Gott, er scheint richtig gewütet zu haben und hat noch nicht mal mehr das Nötigste aufgeräumt. So kannte sie ihn ja gar nicht.
Frau Elise lag ruhig und entspannt in ihrem Bett. Sie war tot. Der routinierte Blick der Pflegerin erkannte diesen Tatbestand sofort. In dem Bett daneben lag der Gatte der Verstorbenen. Die Krankenschwester war erstaunt. Sie ging um das Bett herum und fühlte seinen Puls. Dann ging sie ins Bad, um einen Spiegel zu holen. Sie kam zurück und hielt ihn an den Mund des alten Mannes. Danach eilte sie zum Telefon. Der herbei gerufene Arzt stellte den eingetretenen Tod fest, der schon in der Nacht zu den beiden Alten gekommen war. Sie scheinen friedlich und ruhig entschlafen zu sein. Welch seltenes Ereignis, ein gemeinsamer natürlicher Tod. Erst jetzt bemerkte die Krankenschwester, dass die beiden Hände des Ehepaares sich ineinander verkrallt hatten. Sie nahm noch einmal den Hörer auf und wählte die Telefonnummer des Sohnes, die in großen Ziffern auf einem Zettel über dem Telefontisch hing.
Kommentare (4)
marlenchen
Wir lieben uns,das ist,was zählt-allein der Titel ist schon schön,es war emotionale Lesung-danke,lg Marlenchen
Linta †
endlich mal wieder eine Deiner wunderschönen Geschichten. Was habe ich sie schon so sehr
vermißt.
Diese Geschichte hier berührt mich ganz besonders...........
Viele Gedanken schwirren grad durch meinen Kopf. "Ich bin bei Dir und wir sind beisammen", und "Wir lieben uns doch" wie oft wohl sprach mein Vater diese Worte zu Mutti. Sechzig Jahre waren sie ein Herz und eine Seele und unzertrennlich gewesen.
Als SIE ging hielt auch IHN nichts mehr auf dieser Welt. Zwar gingen sie nicht an einem Tag
so doch direkt hintereinander und morgen grad ist Jahrestag.
Liebe Grüße
ninna
endlich mal wieder eine Deiner wunderschönen Geschichten. Was habe ich sie schon so sehr
vermißt.
Diese Geschichte hier berührt mich ganz besonders...........
Viele Gedanken schwirren grad durch meinen Kopf. "Ich bin bei Dir und wir sind beisammen", und "Wir lieben uns doch" wie oft wohl sprach mein Vater diese Worte zu Mutti. Sechzig Jahre waren sie ein Herz und eine Seele und unzertrennlich gewesen.
Als SIE ging hielt auch IHN nichts mehr auf dieser Welt. Zwar gingen sie nicht an einem Tag
so doch direkt hintereinander und morgen grad ist Jahrestag.
Liebe Grüße
ninna
Nasti