Wie Rübezahl zu seinem Namen kam

Autor: ehemaliges Mitglied



Kaum konnte ich lesen, war eines der ersten Bücher, die unter dem Weihnachtsbaum lagen, die Geschichten von Rübezahl. Dieses Buch besitze ich heute noch und habe jetzt wieder einmal darin gelesen. Vielleicht macht es außer mir auch noch Anderen Freude, eine dieser Geschichten hier zu lesen.

Wie Rübezahl zu seinem Namen kam


Oben am Steilhange des mächtigen Brunnberges im Riesengebirge liegt Rübezahls Lustgarten, ein wildes Geklüft von Felsen, zwischen denen auf wiesiger Lehne Knieholz wächst und seltene Kräuter und Blumen blühen. Nicht nur die Springwurzel und den grauen Teufelsbart gibt es dort, sondern auch Edelweiß und das kleine geheimnisvolle Blümchen mit dem schönen Namen Habmichlieb.
Der Berggeist hält sich gern in seinem Garten auf, weil er fern liegt von den Wohnungen der Menschen, die ihn oft genug enttäuschten. Wanderer, die von der Schneekoppe in den Riesengrund hinabsteigen, können ihn zuweilen dort oben sitzen sehen. Er erscheint ihnen dann als unscheinbarer grauer Felsblock, der von rostbraunen Flechten überzogen ist, doch das ist nur sein langer rötlicher Bart, der ihm über die Knie herabhängt.
Wehe aber dem, der tollkühn bis zu seinem Lieblingsplatz vordringt! Er muss gewärtigen, von dem Erzürnten in den Abgrund gestürzt zu werden.
Eines Tages tummelte sich die schöne, junge Fürstentochter Emma mit ihren Gefährtinnen dort in der Nähe. Die Mädchen pflückten Blumen, sangen und trieben allerlei Kurzweil. Auf einer sonnigen Wiese an der rauschenden Aupa ruhten sie aus und badeten in der kühlen Flut. Später stiegen sie, um Beeren zu suchen, in den Wald hinauf.
Rübezahl hatte der munteren Schar schon lange freundlich zugesehen und sich die Störung ruhig gefallen lassen. Seine Augen ruhten mit besonderem Wohlgefallen auf der anmutigen Gestalt der Prinzessin, und sein Herz entbrannte in heißer Liebe zu dem schönen Menschenkinde. Er nahm seinen Wolkenmantel um, der ihn unsichtbar machte, und erwartete die Mädchen vor dem Eingang in sein Felsenschloss. Davor ließ er, um sie anzulocken, in fröhlich zartem Rot tausendfach das Pflänzchen Habmichlieb erblühen. Emma schlug vor Freude über den Anblick die Hände zusammen und begann ein Sträußlein der zierlichen Blümchen zu pflücken.
Plötzlich war sie vor den Augen ihrer Gefährtinnen verschwunden, als sei sie von einer ungestümen Kraft in eine verborgene Höhle hineingerissen worden. Doch die Mädchen standen nur vor kahlen undurchdringlichen Felsenwänden. Da war nirgends eine Öffnung zu finden.
Sie riefen überall nach ihrer Freundin und suchten sie überall bis der Abend hereinbrach. Doch all ihre Mühe war vergebens. Es blieb nichts weiter übrig, als zurückzukehren und dem Fürsten das Unglück zu berichten.
Sogleich machte sich der erschrockene Vater mit bewaffneter Begleitung auf zu der Stelle, welche ihm die Mädchen bezeichnet hatten. Doch wie die Ritter auch suchten und wie tief sie in die Risse und Schrunden der Felsen vorzudringen versuchten, nichts, kein Zeichen der Verschwundenen war zu finden.
So kehrte der bekümmerte Vater unverrichteter Dinge auf seine Burg zurück.
Prinzessin Emma sah sich zu ihrem Erstaunen in einen von Gold und Edelsteinen schimmernden Palast versetzt. Selbst der prächtige Rittersaal in ihres Vaters Schloss war gegenüber diesen Prunkhallen ärmlich. Sie schritt neugierig und verzaubert von der Herrlichkeit der Dinge, die sie umgaben, durch hohe und weite Gemächer mit Säulen und Decken aus Rubinen und Smaragden; sie gelangte durch geöffnete goldene Tore in einen herrlichen Park, in dem köstlich duftende Riesenblumen wuchsen, und sah verschämt auf das dürftige blassrote Sträußlein nieder, das sie noch immer in der Hand trug. Eben, als sie die schon welkenden Blümchen fortwerfen wollte, hörte sie eine freundliche Stimme neben sich. Ein vornehmer Herr, der wie ein Prinz anzuschauen war, verneigte sich vor ihr.
"Schöne Prinzessin", redete er sie an, "bitte, gebt mir Euer Sträußlein, so will ich Euer Diener sein. Ich bin der Herr dieses Gebirges, Mir gehört dieses goldene Schloss samt allem, was Ihr hier seht. Auch verfüge ich über viele dienstbare Geister und geheimnisvolle Kräfte, über die Ihr befehlen dürft, wenn Ihr meine Gemahlin sein wollt".
"Und warum wollt Ihr diese armen Blumen von mir haben?"
"Weil sie mir den schönsten Dienst geleistet und Euch zu mir geführt haben. Deshalb sollen sie nicht dahinsterben. Ich will sie wieder in meinen Garten pflanzen. Dort werden sie aufs neue Wurzeln treiben und solange blühen, wie mein Herz zu Euch in Liebe brennt".
Nun wusste die Prinzessin Emma, dass sie sich in den Händen des Berggeistes befand, und weil sie klug genug war, ihn nicht zu erzürnen, gab sie ihm ihr Sträußlein. Er nahm es mit frohem Dank und führte sie in den Park an eine Stelle, wo noch keine Blumen sprossten. Dort grub er die welken Habmichliebchen sorgsam ein, und sogleich standen ihre Stengelchen wieder aufrecht; ihre Köpfchen hoben sich erfrischt, und die rötlichen Blütensternchen lachten sie an.
Emma sah es mit einem traurigen Lächeln. Da merkte der Burgherr, wie sehr sie seine ungestüme Werbung bedrückte und er sagte:
"Ich will Euch nicht drängen, die Meine zu werden, edle Fürstin. Überlegt es Euch in Ruhe. Inzwischen will ich gehen und meinen Geistern befehlen, dass sie Euch dienen".
Mit diesen Worten verließ er sie.
Wirklich wurde ihr von Stund an jeder Wunsch erfüllt, den sie aussprach. Speise und Trank wurden ihr zugereicht, in ihrer Kemenate das herrlichste Bett bereitet und das Bad gerichtet. Nur die es für sie taten, blieben unsichtbar. Allein durchwandelte sie die prächtigen Räume des goldenen Schlosses und die stillen Wege des Gartens. An dem Beet mit der kleinen Blumenschar blieb sie stehen und seufzte. Da trat der Berggeist zu ihr und fragte sie, warum sie traurig sei.
"Für Eure Güte bin ich Euch dankbar, Bergherr. Doch ich bin so allein und langweile mich. Ich möchte meine Freundinnen bei mir haben".
"Der Wunsch ist leicht zu erfüllen, edles Fräulein".
Er verschwand sogleich und reichte ihr alsbald einen Korb voller Rüben und einen Stab.
"Berührt eine der Rüben mit diesem Stabe", wies er sie an "und ruft dabei den Namen derjenigen, die ihr herbeiwünscht. Dann wird sie bei Euch erscheinen".
Emma tat wie er gesagt hatte und nannte die Namen ihrer Freundinnen einen nach dem andern. Sogleich standen die Mädchen fröhlich und munter vor ihr.
Nun war die Freude groß. Doch nach einiger Zeit machte sie eine seltsame und schmerzliche Entdeckung. Die lieben Gespielinnen begannen sichtlich zu verfallen. Sie magerten ab und wurden hässlich und verdrießlich. Alte, ganz verschrumpelte Jammergestalten umgaben sie. Entrüstet über diese Veränderung der jungen lustigen Mädchen stellte sie Rübezahl zornig zur Rede.
"Euer Missvergnügen ist begreiflich, edle Herrin", erwiderte er auf ihre Klagen. "Der Verfall Eurer Lieblinge erklärt sich auf ganz natürliche Weise. Bedenkt, sie sind doch nichts anderes als Rüben, die wie andere Pflanzen welken und absterben. Alte Rüben sind freilich nicht so schön wie junge. Doch dem ist leicht abzuhelfen".
Und er berührte die Greisinnen mit dem Stabe. Sofort wurden sie wieder zu Rüben.
"Schafft mir neue Rüben!" befahl sie.
"Ein ganzes Feld will ich sofort für Euch pflanzen. Habt nur ein wenig Geduld"!
Aber Geduld war unendlich schwer für sie. Eine lange Zeit verstrich. Angst und bange wurde ihr in dieser trostlosen Einsamkeit. Auch erschien ihr der Bergherr nicht mehr so vornehm und freundlich wie zuerst, sondern alt, herrisch und wild. Sie wünschte sich fort, weit fort aus dieser gespenstischen Herrlichkeit, in der sie gefangen war. Auch sehnte sie sich nach dem jungen Herzog Albrecht von Liegnitz, mit dem sie verlobt war und dem ihr Herz gehörte.
Eines Tages sah sie auf einer Parkwiese den "Morgenwind", den flinken Apfelschimmel Rübezahls, grasen. Mit dem edlen Tiere hatte sie sich angefreundet. Es kam zu ihr heran, wenn sie es rief, und ließ sich von ihr liebkosen. Da kam ihr der Gedanke, mit seiner Hilfe zu fliehen. Doch sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, ungesehen vom Berggeist davonzureiten.
Mit solchen Gedanken beschäftigt, wandte sie sich dem Hause zu. Da kam ihr der Berggeist mit einem Korbe frischer Rüben entgegen.
"Nun könnt Ihr Euch nach Herzenslust wünschen, soviel Ihr wollt", sagte er. "Seht dort! Der ganze Acker steckt voller Rüben. Doch nun mögt Ihr auch wissen, schöne Prinzessin, dass Ihr Euch mir nicht länger vorenthalten dürft. Ihr seid mir verfallen und sollt nun meine Gemahlin sein".
In ihrer Sorge, wie sie ihn noch hinhalten und loswerden könnte, fiel ihr eine List ein.
Ich will gern die Eure werden, Bergherr. Aber zuvor möchte ich erfahren, wie viel Wünsche ich noch tun kann. Geht und zählt mir die Rüben auf dem Felde, damit ich es genau weiß".
Da ging er, froh über ihre vermeintliche Zusage, sogleich auf das Feld, um die Rüben zu zählen.
Rasch berührte nun Emma mit dem Stabe eine der Rüben im Korbe, der vor ihr stand, und wünschte sich einen klugen Raben vom Liegnitzer Schlossturm herbei. Da saß der schwarze Vogel auch schon auf ihrer Hand und blickte sie zutraulich an.
"Lieber Schwarzrock", gebot sie ihm, "flieg zu Herzog Albrecht und raune ihm dieses Sprüchlein ins Ohr: Emma lebt, komm zur Grenzeiche!".
Da nickte der verständige Rabe und schrie: krah, krah, krah, was so viel wie: ja, ja, ja heißen sollte. Er schwang sich auf und überbrachte dem jungen Herzog die frohe Kunde. Dieser ließ sein schnellstes Ross satteln und galoppierte zur Grenzeiche. Zugleich sandte er einen reitenden Boten mit der guten Nachricht zu Emmas Vater und ließ ihn bitten, alles zur Hochzeit seiner wiedergefundenen Tochter vorzubereiten.
Inzwischen zählte der Berggeist eifrig die Rüben. Das war freilich keine leichte Arbeit, denn sie standen sehr unregelmäßig nebeneinander. Immer wieder verzählte er sich und musste von vorne beginnen. Als er sämtlich Rüben zum drittenmal sorgsam durchgezählt hatte, waren viele Stunden vergangen. Es waren genau siebenhundertachtundzwanzigtausendfünfhundertzweiundsechzig Rüben. Glückstrahlend kehrte er in den Palast zurück um Emma das Ergebnis zu melden.
Doch Prinzessin Emma war nirgends zu finden. Auch der "Morgenwind" war verschwunden. Da erkannte er, dass sie ihm entflohen war. Heller Zorn erfasste ihn. Er verwandelte sich in eine Sturmwolke und führ auf den höchsten Berggipfel, um nach der Reiterin Ausschau zu halten. Er sah sie schon fern, nahe der Grenze seines Reiches dahin sprengen. Im Nu ballte er eine Wetterwolke zusammen, zog einen Blitz daraus hervor und schleuderte ihn der Entwichenen nach. Doch es war zu spät. In diesem Augenblick war Emma über die Grenze entkommen und befand sich in Sicherheit. Der Blitz fuhr hinter ihr in die alte Grenzeiche, die in Flammen aufloderte. Das gute Ross aber, das ihr zur Flucht verholfen hatte, löste sich zugleich in einen weißen Schemen auf und zog wie ein Wölkchen in der Luft davon.
Prinzessin Emma stürzte zwar; sie wurde aber von den Armen ihre Verlobten aufgegangen, der ihr nach der Weisung des klugen Raben entgegengeeilt war.
Der geprellte Berggeist grollte. Er hüllte die Kuppen und Täler des Gebirges wochenlang in schwere graue Wolken und zog sich tief unter die Erde zurück. Lange Zeit ließ er sich unter den Menschen nicht mehr sehen.
In den Bauden und Dörfern des Riesengebirges sprach es sich aber bald herum, dass der Bergesalte von einem klugen Mädchen überlistet worden war, und die Menschen waren schadenfroh genug, ihm einen Spottnamen anzuhängen. Sie nannten ihn seitdem den Rübenzähler oder kurz: Rübezahl.
In seinem Lustgärtchen am Brunnberge aber und auch an anderen Orten des Gebirges blüht noch heutzutage das Blümchen Habmichlieb mit seinem rosa Blütensternchen fröhlich fort. Der Berggeist hat es vor allen anderen Blumen in sein Herz geschlossen. Es steht unter seinem besonderen Schutz und kein noch so arger Wettergrimm vermag der zarten zierlichen Pflanze etwas anzuhaben.

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