Wer war denn dieser Angelo?


Wer war denn dieser Angelo?

 
Da steht er nun. Schaut mich treuherzig mit wasserblauen Augen an. Sein verwilderter grauer Vollbart lässt ihn nicht unbedingt vertrauenerweckend aussehen. Der uralte schmutzig-graue Wintermantel reicht fast bis auf die Winterstiefel, die anscheinend völlig neu sind. Über die Schulter gehängt, ein abgeschabter Rucksack; Kordeln ersetzen die Riemen, die ursprünglich vorhanden waren. Sicher enthält er die Habseligkeiten des Mannes. Seine Hände mit den schwarzen Rändern unter den Fingernägeln stecken in alten Fahrradhandschuhen.
     Als er heute an diesem regnerischen Abend am Bahnhof schnurgerade auf mich zukommt, will ich eigentlich schnell verschwinden. Hab ich doch selbst genügend Probleme, muss ich mich noch mit denen anderer Menschen befassen? Aber wie auch immer - ich bin wie gelähmt, etwas in mir weigert sich, meinen Gedankengängen zu folgen.
     Unruhig drehen die Finger des alten Mannes an einer Schnur seines Rucksacks. Er schaute mich nur sekundenschnell an, dann irren seine Blicke wieder über den Bahnhofsvorplatz, der im spiegelnden Glanz der bunten Lichter ein werbewirksames Abbild der Vorweihnachtszeit darstellte.
     Der Mann reißt plötzlich seine zerschlissene Baseballkappe vom Kopf und spricht mich leise an.
»Entschuldigen Sie«, sagt er in einer warmen Tonlage, die mich irritiert, »Haben Sie vielleicht eine Maske für mich?«
Ich bin so verwirrt, dass ich zunächst nichts erwidern kann, »Verzeihen Sie«, sagt er dann, »Ich wollte Sie nicht belästigen.« Damit dreht er sich um und will weitergehen.
»Nein, warten Sie«, rufe ich, »So ist das nicht gemeint. ich bin nur überrascht!« Ich lächle ihn an. »Ich habe solch einen Wunsch natürlich nicht erwartet, normalerweise ... «
»Ja, ich weiß, es käme wohl die uralte Frage eines ›Berbers: ›Haste mal ´nen Euro?‹ - nicht wahr?«
Ich nicke beschämt.
»Hm- so ähnlich wohl. Ist ja auch ungewöhnlich, meinen Sie nicht auch?«
Er schmunzelt. »Ich denke, das ist heute schon normal, oder?«
     Ich nicke, krame dann in meiner Umhängetasche, ich muss noch einige Einmal-Masken bei mir haben. Tatsächlich, da ist noch solch ein Fünfer-Päckchen, ich reiche sie dem Mann zusammen mit einem 10-Euro-Schein. Er ergreift diese kleine Gabe, meint dann, indem er mich mit einem langen Blick ansieht: »Ich habe nicht um Geld gebeten, aber danke trotzdem! Aber ich muss Ihnen noch sagen, wozu ich die Maske brauche! Ich kann einen Bäckerladen nicht ohne Maske betreten.
Das ist genauso bitter, als wenn ich kein Geld habe!«
Er zuckt mit den Schultern. Dann jedoch strahlt er mich an:
»Angelo wünscht Ihnen und Ihrer Familie frohe Adventstage!« Er verneigt sich leicht vor mir - ein ungewohntes Bild, wie einem Märchenbuch entsprungen, es fehlt nur das Glitzern der Weihnachtsreklame. Dann fragte er leise, aber eindringlich:
»Kann ICH etwas für SIE tun?«
Ich weiß keine Antwort darauf. Dann ein Wink mit seiner freien Hand - und ebenso plötzlich, wie er erschienen ist, taucht er in der Menge der Passanten auf dem Bahnhofsvorplatz unter.

Lange sinniere ich noch über diese Begegnung. Wer war bloß dieser Angelo?


©by H.C.G.Lux

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Kommentare (11)

Pan

Ich stelle fest - zu meinem Leidwesen - dass die Essenz meiner Geschichte eine andere Auslegung erfährt, als sie eigentlich darstellt. 
Es geht nicht um den Obdachlosen, "gefallenen" Engel, wie beispielsweise Brigitte es sieht.
Im Gegenteil! Es ist der NÄCHSTE in uns, neben uns, der hier gefragt ist. 
Im Evangelium, Matthäus 25.45 heißt es:
"Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten,
das habt ihr mir auch nicht getan!"

Wer es von diesem Gesichtspunkt sieht, kommt der Sache dann schon näher.
💢

Syrdal

@Pan

Genau und einzig allein den NÄCHSTEN habe ich unten im Kommentar als „einen meiner vielen Brüder“ gemeint und benannt…

Gruß Syrdal 

HeCaro

Lieber Pan,
Angelo bedeutet Engel und ich glaube fest , das war einer. Ein Bote,
gesandt  um zu prüfen, ob in den Menschen noch Menschlichkeit oder Nächstenliebe steckt. Ich liebe solche Geschichten, die wie die Deine a bissel übersinnlich sind, ganz besonders zur Weihnachtszeit.
 
Ich wünsche Dir eine frohe Adventszeit
Liebe Grüße, Carola
 

Pan

@HeCaro  
Menschlichkeit, Nächstenliebe - nicht nur in der Adventszeit, sondern stets! - das ist die Quintessenz dessen, was einst verkündet wurde.
Leider sind diese Begriffe in unserer Zeit Fremdworte geworden.
Schade, nicht wahr? Das ist unabhängig von Religionen, ob nun Religionsgemeinschaften oder Atheisten - die Menschheit versteht einfach nicht, dass Schulterklopfen und Umarmung nicht das Gleiche ist wie Boxhiebe und Würgegriffe ...
meint  lächelnd
Horst

Roxanna

Nie weiß man, was da für ein gefallener Engel plötzlich vor einem steht. Was ist er für ein Mensch, wie war er einmal, was hat verursacht, dass es so mit ihm gekommen ist. Und vor allem, warum schafft es ein solcher Mensch nicht, wieder sozusagen in die Gesellschaft zurückzukehren, wo es doch heutzutage so viele Hilfsangebote gibt. Das ist schwer zu verstehen. Danke für diese Geschichte, lieber Horst und herzlichen Gruß

Brigitte

indeed

@Roxanna  

Liebe Brigitte,

ich frage mich, warum du davon ausgehst, dass es ein gefallener Engel gewesen sein musste?
Es könnte doch auch ein gesandter Engel gewesen sein, der den Menschen prüfen wollte? Muss ein Engel denn unbedingt gut gekleidet sein? Es kann zwar sein, muss aber nicht. Denn in dieser "Verkleidung" ist die Prüfung vielleicht sogar zweckmäßig? Wenn man dann die Stimme und Wortwahl des Engels berücksichtigt, merkt man doch den krassen Unterschied zur äußeren Aufmachung - oder nicht? Ist es nicht so, das Gut oder Böse unabhängig ist vom äußeren Aussehen?

Ich bin ein wenig verdutzt über dein schnelles Urteil, obwohl streng genommen, deine Version nicht auszuschließen ist. Für mich aber nicht nachvollziehbar.

Nichts für ungut, liebe Brigitte. Jeder hat seine Sichtweisen, aber ich musste dies einfach als Gegenbeispiel bringen.

Eine schöne Adventszeit wünsche ich dir mit viel Entspannung, Besinnlichkeit und schönen glücklichen Momenten.

Ingrid

Pan

Leider, liebe Brigitte, hast Du die Geschichte völlig missverstanden.
Hab mich dann wohl nicht konkret genug ausgedrückt ...
Grüße von 
Horst
 

Roxanna

@Pan  

Warum mir nun als erstes die obdachlosen Menschen bei deiner Geschichte, lieber Horst,  in den Sinn kamen, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich gerade zur Zeit sehr nahe an diesem Thema dran.

Nimm es mir bitte nicht übel, dass deine Geschichte in mir etwas anderes ausgelöst hat, als von dir beabsichtigt.

Herzliche Grüße
Brigitte

Pan

@Roxanna  
Is all Okay, Brigitte. 
🍀

Syrdal


...wie einem Märchenbuch entsprungen.“
...und dann abschließend die Frage „Wer war bloß dieser Angelo?“ Sogleich hallt es in mir:
„Das war einer meiner vielen Brüder, einer von den gefallenen Engeln“.

...berührt und fröstelnd bleibt auf dem nasskalten Bahnhofsvorplatz sehr nachdenklich zurück
Syrdal

Pan

Lieber Syrdal,
mir fiel es selbst schwer, diese Idee in eine Erzählung zu übertragen.  Das Leid der "Brüder auf der Straße" hat mich schon immer erschüttert.
Wie oft standen sie vor meiner Tür, als ich noch im kirchlichen Dienst war. Oft wurde ich von ihnen enttäuscht - aber wenn ich auch nur "einem" von ihnen wirklich helfen konnte, habe ich dem "Nächsten" geholfen. Deshalb war ich dann nie enttäuscht.
Ich danke für Deinen sinnvollen Kommentar!
Horst


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