Verwunschene Gedanken XXV.


Verwunschene Gedanken XXV.


 
Märchen

Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Mareike vor dem Schlafen ihr kleines Gebet spricht. Sie denkt sich dann immer wieder etwas Neues aus, sodass ich manchmal staune, woher sie die ganzen Ideen nimmt.
      Seit einiger Zeit nun ist die Zeremonie der Gute-Nacht-Geschichten hinzugekommen. Zugegeben, keine große Angelegenheit und wie ich auch denke, eine richtig schöne Sache. Wie gesagt: wie ich denke! Leider entwickelt sich diese feste Einrichtung immer mehr zu einem Diskussionsabend. »Pappi, tu das Buch weg. Nix vorlesen. Das kann ja jeder.« Sie rümpft ihr Näschen:
»Du sollst was erzähln!«
      Ach du lieber Himmel. Jetzt wird es ernst. Zu meiner augenblicklichen Schreibblockade muss ich mir nun noch eine »weiß - nicht - was - ich - erzählen - soll« - Stunde ins Notizbuch schreiben. »Was möchtest du denn hören?« frage ich die Kleine. »Ach«, sie verdreht ihre Augen, »ein Märchen, is doch klaa.«
Also doch das Märchenbuch. Ich lange ins Regal und hole erneut die Grimmschen Märchen heraus.
»Ach Pappi!« Sie schlägt mit ihren Händchen erbost auf das Kopfkissen.
»Ich hab doch gesagt erzählen, hass du das nich verstann?« Woher soll ich nun bitte sehr die Märchen der Brüder Grimm auswendig wissen? Ich hab die doch nicht alle im Kopf gespeichert?
»Na gut, mein Mädchen, welches Märchen hättest du denn gern gehört? Du kennst doch schon so viele.« Sie macht mit den Armen eine weit ausladende Bewegung. »Ganz viele, weiß ich doch. Aba du kenns' doch auch viele Büchers un kuckst die doch auch mal wieder an, nich?«
All right, ich gebe mich geschlagen, manche Tiefen erfährt man halt eben beim zweiten, dritten Lesen.
»Also, was willst du hören?«
»Das mit die böse Fee un das Königsschloss.« 
»Du meinst Dornröschen?«

»Ja, Pappi! Und dass die alle so lang geschlafn hab`n.«
      Na, dann will ich es mal versuchen. Ich setze mich auf die Bettkante, sie kuschelt sich eng an mich und schaut mich gespannt an.
»Es war einmal ein König und eine Königin. Die wünschten sich so gern ein Kind und waren schon ganz traurig, weil sie keins bekamen. Dann irgendwann bekam die Königin doch ein kleines Mädchen. Das war so schön, dass ...« Mareike richtet sich im Bettchen auf.
»Pappi, du hast vergessen, dass die in ein schön'n Schloss wohnten!«
Oh Hagel, warum erzählt die Kleine dieses Märchen nicht mir? Sie kennt es doch besser als ich?
»Ja gut, sie wohnten in einem wunderschönen Schloss ...«
»Mit so kleine Türmchen drauf, nich Pappi? Un viel Wasser drumrum?«
»Ja, das kann schon sein. Jedenfalls feierten sie alle ein großes Fest und luden viele Leute dazu ein. Da lebten auch dreizehn weise Frauen in dem Königreich. Die wurden auch eingeladen, damit sie dem kleinen Mädchen gute Geschenke mitbrachten.«
Ich erschrak, als Mareike ganz laut mit ihren Händchen klatschte. Dieser Salut kam ganz überraschend.
»Au fein, da hat sie aba viele gekriegt, nich?«
»Ja, sicher, aber ich denke, das waren eher Geschenke, die man nicht anfassen kann ...« 
»So wie Sommersprossen oder sowas?« Na, ich bin mir da nicht ganz sicher, ob Dornröschen sich darüber gefreut hätte. Ich denke wohl eher nicht.
»... kann schon sein. Aber jetzt lass mich weiter erzählen, bitte.«
»Ja, Pappi, nu kommt das mit die goldnen Tellers un wo die bloß zwölf hatten und die eine Frau darum nich eingeladen war.«
      He, my dear, ich frage mich, warum ich das erzählen muss. Sie kennt das doch alles. Würde mich nicht wundern, wenn sie die Namen der Feen auch noch wüsste, obwohl die nirgends verzeichnet sind.
»Ja, mein Schätzchen, die dreizehnte weise Frau wurde nicht eingeladen, weil die Königin nur zwölf goldene Teller hatte. Darüber war sie bitterböse!«
»Wär ich auch gewesen, glaub ich.«
Ich sehe mein Töchterchen an und weiß sofort, dass sie in diesem Fall recht hat. Das hat sie wohl vom Papa. »Ja, liebe Mareike, aber die böse Fee kam trotzdem zu dem Fest.«
      Und nun komme ich endlich ohne Zwischenrufe dazu, dieses Märchen weiter zu erzählen. Das ist gar nicht so einfach, wenn man nicht genau weiß, wie es weitergeht. Jedenfalls versuche ich mein Bestes.
Was ist denn das jetzt? Hör ich da ein leises Schniefen? Ich versuche aus dieser bösartigen Geschichte das Beste herauszuholen und die Kleine ist schon lange eingeschlafen.

Morgens beim Frühstück erlebe ich unsere Mareike, wie sie wie selbstverständlich sagt: »Also wenn ich mal groß bin, kauf ich aba ein golden Teller mehr, damit sowas nich nochmal vorkommt ...

©by H.C.G.Lux


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Kommentare (1)

Syrdal


Die ungemein phantasievolle Welt der noch völlig unbedarften Kinder ist  in der tiefen Erlebnisschärfe den Erwachsenen nicht selten ein wahres Lehrstück, wie man es sich nicht ausdenken kann, wenn man der Kindheit schon ein Stück entwachsen ist…

...staunt immer wieder
Syrdal


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