Verwunschene Gedanken XXIII.


Verwunschene Gedanken XXIII.

 
Mädchen aus dem Moor
 
»Swentje!« Der Schrei des hochgewachsenen Mannes klingt hohl, ohne jedes Echo, wie eben ein Ruf in einer offenen Landschaft klingt. Die Akustik innerhalb eines Moores hat nun mal keine Tragkraft. »Swentje!« Orwins Stimme klingt nun schon ungeduldiger lauter, »Swentjetochter, wo steckst du?«
        Er lauscht, dreht sich langsam um, stützt sich auf seinen Stab und schaute dann in alle vier Himmelsrichtungen. Geht dann langsam einige Schritte auf dem schmalen Pfad zurück. Seine Schritte erzeugen dabei ein saugendes, schmatzendes Geräusch, in den Fußspuren sammelt sich sofort bräunliches Wasser.
»Swentje?« Sein Rufen klingt nun gedämpfter, fragender. Der grauweiße Nebel über dem Moor verschluckt alle Farben, lässt die ganze Natur in einem schmutzig-braunen Halbdunkel verschwinden. »Sweeentjeee!« Der heisere langgezogene Ruf des Mannes verklingt ohne jede Resonanz, wie im luftleeren Raum. Nirgendwo ein Widerhall, keinerlei Zeichen einer Antwort. Der Nebel verschluckte jeden Ton bereits nach wenigen Schritten.
        Der Mann bleibt immer wieder stehen, schaute in die Runde. Eine wie hingeworfen wirkende Gruppe von Zwergbirken mit traurig herabhängenden Zweigen ragte in den grauen Himmel. Niedere Blaubeersträucher versuchen mit trockener Glockenheide und silbernem Wollgras eine malerische Verbindung einzugehen. Doch der fahle Himmel vermischt alles zu einer unheimlichen, bedrohlich wirkenden Melange.
        Lediglich die Blüten des Sonnentaus vermögen einen farbigen Klecks in das nebelgraue Kaleidoskop zu zaubern. Orwin geht nun behutsam und vorsichtig die Strecke zurück, die er mit seiner Tochter gekommen war, immer darauf bedacht, den Weg nicht zu verlassen.               
        Dieser Pfad durch das Moor war nur ein und eine halbe Elle breit, die meisten Bewohner des Dorfes mieden diese Abkürzung, die direkt zu den Angerwiesen führte. Alle wussten um die Gefährlichkeit dieses Weges. Es war an nebligen Tagen schon vorgekommen, dass einer aus der Dorfgemeinschaft vom Weg abgekommen und in dem tiefgründigen Moorboden versunken war. 
        Vor vielen Monden war auch Orwins kleiner Neffe von einem Gang über diesen Moorweg nicht zurückgekehrt. Darum nahmen die Bewohner des Dorfes auch lieber den Weg um das Moor herum, obwohl dieser sehr viel weiter war, als der mitten hindurch.
        Immer und immer wieder ruft Orwin den Namen seiner Tochter. Aber es ist keine Spur von Swentje auszumachen. Kein Anzeichen, dass sie jemals hier war, lässt sich erkennen. Auch an der Stelle, an der sich zwei Pfade trennen, um danach gegensätzliche Richtungen einzuschlagen: nicht die kleinste Spur der Tochter. Er fragt sich, ob sie vielleicht den anderen Weg zum Kiefernwald genommen hat? Aber nein, das kann nicht sein, Swentje kennt das Moor genau so wie ihr Vater; beide waren schon unzählige Male hier durchgewandert, um zu den Wiesen zu gelangen. Sie wusste ja, dass Vater die Ziegen nach Hause treiben wollte und dass sie ihm dabei helfen musste.Sy_1.JPG
     »Swentje!« Der Ruf des Vaters ist leiser geworden. Tränen laufen über sein tiefbraun gebranntes Gesicht. Swentje ist sein einziges Kind, das letzte, das ihm von Fünfen geblieben war. Die beiden anderen waren ihm im letzten harten Winter schon im Kleinkindalter genommen worden. Helgard, sein Weib hatte diesen Schmerz nicht überwunden und das Moor als letzten Ausweg gewählt. Niemand kannte die Stelle, an der sie ihre letzte Ruhe gefunden hatte.
        Immer wieder schlägt Orwin mit seinem Kopf aus Verzweiflung gegen den Stamm einer Birke, die am Rand des Pfades wächst. Er spürt diesen Schmerz kaum noch, weinte dann mit heiseren, laut ansteigenden Tönen, schreit seinen Schmerz laut hinaus in das Nichts.
Inzwischen schleicht die Dunkelheit ganz sacht durch das Moor. Irgendwo in der Ferne schreit ein Käuzchen, eine Vielzahl von anderen Geräuschen mischen sich in das abendliche Rauschen des Moorgrases und der Zweige der krüppeligen Birken.
        Langsam geht der Vater mit müden Schritten zum Dorf zurück, seine nun leere Hütte scheint ihm der einzige Zufluchtsort zu sein, die noch auf ihn wartet. Seine Ziegen müssen erst einmal ohne ihn auskommen. Vielleicht kommt er morgen vorbei, oder übermorgen, vielleicht. Das Moor aber wartet auf sein nächstes Opfer, wie es schon seit Hunderten von Jahren gewartet hatte. Irgendwann aber, nach unendlich langen Zeiten wird es seine Opfer wieder freigeben. Die Menschen versuchen dann, das Rätsel dieser Moorfunde zu lösen. Es wird ihnen aber niemals ganz gelingen.
 
Immer wieder werden Moorleichen in den Mooren gefunden. Allein in Deutschland sind bisher einige hundert bei Torfabbauarbeiten gefunden worden
Das sogenannte »Mädchen von Windeby« ist darunter einer der bekanntesten Funde. Man nahm damals an, es wäre ein etwa 13-jähriges Mädchen, das rund 2000 Jahre im Moor gelegen hatte.
        Funde von solchen Moorleichen geben Aufschluss über Leben und Tod in der Eisenzeit und früher. Es sind Fenster in die Vergangenheit, wenn solche Funde gemacht werden. Heute nun kommt die moderne Wissenschaft zu immer neuen Erkenntnissen, da die Funde nach den neuesten Methoden untersucht werden können. Endgültige Gen-Untersuchungen haben ergeben, dass dieses ›Mädchen von Windeby‹ ein Junge gewesen sein muss!
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        Diese Moorleiche hat heute ihre letzte Ruhestätte im Museum von Schloss Gottorf bei Schleswig gefunden, wobei Ruhe das falsche Wort ist, denn sie kann immer besichtigt werden!

©by H.C.G.Lux

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Kommentare (3)

Syrdal


Niemand weiß wirklich, was sich so alles abgespielt hat in den vielen Jahrhunderten vor unserem auch nicht gerade rosigen Heute dort im Moor und anderswo… in der weitläufigen Heide, in endlosen Wäldern, reißenden Wellen, tiefen Höhlen, in Felsschluchten oder Gletscherspalten – namenlose Schicksale mit unbekanntem Grund: Unfall, Suizid, Kriegsopfer, Mord? Späte Spuren deuten nach langer Zeit auf dieses oder jenes, doch Gewissheit gibt es selten und vieles bleibt offen und ist somit Stoff für solch dramatische Geschichten, wie diese vorzüglich und bildhaft von dir erzählt.

Mit ähnlichen und anderen (schlimmen) Bildern vorm geistigen Auge grüßt
Syrdal

Pan

Das Schlimme dabei ist m.E. die Tatsache, dass immer wieder von der "Guten, altenZeit "geredet wird! Dabei möchte ich zu keiner Stunde in diesen Zeiten gelebt haben. Für mich ist - und sei sie noch so schlecht - immer die Zeit am eindrucksvollsten, in der ich gerade bin!

meint nachdenlich
Horst

Syrdal

@Pan

Sehr richtig, wir leben im Hier und Jetzt und haben somit die Aufgabe und auch die Chance, dieses gegenwärtige Leben zu gestalten. – Was vergangen ist, ist vergangen, das Heute zählt und darauf bauen unsere Nachkommen auf. Gestalten wir es also nach unseren Kräften und unserem Wissen so gut wie möglich…

...meint Syrdal  


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