Unser Förster
Er ruht in den Wäldern des Riesengebirges, und die Wipfel über seinem Grabhügel rauschen wie früher, als er noch lebte.
Als er noch lebte, spiegelten seine Augen das Sonnengold, das durch die Gipfelkronen filigrangleich gebrochen wurde - die schwarze Wolke der Nebelkrähe freilich verdunkelte es.
Er liebte die Wälder der Heimat, auch alles, was da drin zu Hause war. Wachsam durchstreift er das Revier. Oft ohne umgehängte Flinte. Aber nie ohne Rolf, dem dressierten Schäferhund-Rüden und ständigem Gefährten da draußen, der flink vorneweg huschte, die Schnauze schnüffelnd am Boden. Verstreute Kiefernnadeln knisterten unter den Schritten, brennenden Kerzen gleich. Das Brennholz knackte. Wie schroffe Säulen ragten die Baumstämme auf. Rehbraun glänzte das Moos.
Wenn er heimkehrte, von uns Mädchen und Knaben sehnsüchtig erwartet, bildeten seine Taschen Fundgruben wunderbarer Schätze. So zeigte er uns die Spielhahnfeder, die er nahe einer Esche entdeckt hatte, ferner glänzende und seltene Waldschneckenhäuschen, geäderte Kiesel, auch blau-weiß gesprenkelte Federn vom Eichelhäher. Ein faustgroßes Stück getrockneten Tannenharzes zauberte er aus den Taschenhöhlen hervor, Galläpfel auf einem Eichenblatte, spröde Kiefernzapfen und die elfenbeinernen Eckzähne eines verendeten Hasen.
Wir Kinder umschwärmten ihn, liebend, verehrend, obwohl er nicht unser Vater war. Wo sind die Abende hin, da uns seine Geschichten von holden Waldfeen und verkrüppelten Gnomen das Herz erhitzten oder prickelnde Schauer über den Rücken träufelten? Wo sind die Abende hin, da er uns Dreikäsehochs, die am offenen Fenster des Försterhauses lehnten, den märchenhaft flimmernden Mond beschrieb und die Sterne deutete, die kristallen flackerten?
Dann und wann durften wir ihn begleiten. Innerlich jubelnd taten wir`s, denn solche Wanderungen beglückten jeden. Er zeigte uns verschiedene Vogelnester, die - geschickt getarnt - im Gipfelgeflächt klebten, die aber sein geübtes Auge flugs erforschte. Durch ihn lernten wir Laien die Vogelpfiffe unterscheiden, die das grüne Gewölbe zuckend erfüllten. Es dauerte lange, aber schließlich beherrschten wir die Tonstufen. Der Pfiff klang schrill wie das Signal einer Lokomotive und dieser da tönte gedämpft wie aus einer Hirtenflöte.
Er sammelte Kräuter, die Schlagfuß, Grippe, auch sonstige Gebrechen heilen, und kniete oft bei den Blumen nieder, die uns auf unserem Streifzug grüßten. Liebevoll nannte er ihre Namen, zärtlich erläuterte er ihre Eigenschaften. Bevor er weiter wanderte, beschwingt und wie träumend, streichelte er sie mit den Augen. Ja, das tat er. Alle Blumen, die wir Jungen und Mädchen, neben ihm schlendernd, trafen, und bei denen wir mit blanken Augen verweilten, schlugen ihre Wurzeln tief in unsere Brust, weil er sie streichelte.
Unterwegs pflückten wir Preiselbeeren, die unseren Durst löschen; und er lächelte, weil ihr rötlicher Saft unsere Lippen grell befleckte - gütig, begreifend lächelte er.
Selten sahen wir ihn traurig. Das geschah, wenn ein Wilderer ein zartes, braunes Reh erschossen und verschleppt hatte. Trotz aller Schlupfwinkel und Listen stellte er den Schützen, als dieser erneut freveln wollte. Rolf, der prächtige Schäferhund, half ihm nach Kräften.
Abends, vom Hochsitz einer Buche aus, beobachteten wir, wie die Rehe in kleinen Rudeln den Wald durch trabten. Er lieh uns das Fernglas, das die Rehe scharf begrenzt vergrößerte, ihre dreisprossigen Geweihe, ihre wogenden Kruppen, die bräunlich leuchteten Flanken, den glatten Pelz. Es raschelte und trappelte. Blätter wurden zerrupft und Gräser zerstampft. Zwischen den Wipfeln der Laub- und Nadelbäume blutete das Abendrot.
Wir sahen, wie er sich über den Schnabelbrunnen im Hof beugte, um das kühle, klare Wasser zu trinken. Auch uns erfrischte es; denn ausnahmsweise nur gab er uns Kindern Apfelmost. Geizt er? O nein. Wir Halbwüchsigen sollten das pure Wasser schätzen lernen wie ein Stück trockenen Brotes.
Er starb in den Wäldern des Riesengebirges, aber die Erinnerung an ihn ist geblieben. Obwohl er nicht unser Vater war, hat er uns manchen seiner Wesenszüge vererbt: Die Liebe zu den verschollenen Wäldern und ein Herz, das den Pflanzen und Tieren zugetan blieb.
Wenn wir die nahe gelegenen Wälder durchstöbern, fremd unter Fremden, geht er neben uns, kräftig und tröstend. Und wenn wir nachts am offenen Fenster liegen und zu den Sternen aufschauen, vernehmen wir seine väterlich freundliche Stimme. Das macht uns froh!
Von Karl-Heinz Jarsen
Anmerkung: Diese Geschichte hat mich ganz tief berührt, weil auch in unserem Dorf genauso ein liebevoller Förster war, der uns viel Verständnis für Wald und Flur vermittelte, an dem wir Kinder sehr hingen und mit dem wir manch kleines Abenteuer erleben durften.
Ich bin bis heute sehr naturverbunden und -verliebt und habe dies auch wiederum an meine Kinder weitergegeben. Wir ernten noch heute alle Arten von Waldbeeren, für Marmelade, Gelees und Kompott, als Hausmittel und Tees gegen allerlei Erkrankungen, auch zur Herstellung von Wein, Likören und Rumtopf, Saft zum Haare waschen, Pflanzen als Wildsalate, Pilze aller Art zum frischessen, einkochen, einlegen, einfrieren und trocknen, sammeln Kernfrüchten wie Haselnüssen als Wintervorrat und Eicheln und Bucheckern, zur Winterverfütterung für Eichhörnchen und Vögel. Zudem ist der Aufenthalt in Natur und Wald sehr gesund, vom Sauerstoffgehalt und das Laufen auf dem Weichen und rückfederndem Waldboden gut für die Gelenke.
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