Titel?
Nun mache ich mich wieder auf die Suche. Schaue nach links, sehe in die entgegengesetzte Richtung, nichts Passendes bietet sich an. Auch unterm Bett, im Heizungsraum, im Carport - nichts sieht so ansprechend aus, dass ich es als Überschrift verwenden könnte.
Was nun? Einfach so einfach ohne Titel absenden, nein, das ist mir doch zu primitiv. Also bitte, ein wenig Geist soll man mir doch zumuten können. Ein Objekt erfordert nun mal die Notwendigkeit, auch irgendwie benannt zu werden. Das ist das Zeichen der Eigenpersönlichkeit eines Autors, dass er es fertigbringt, die Einmaligkeit seines Werkes mit talentiertem Wissen unter die Leute zu bringen. Und dazu gehört doch ein Titel!
Ich überlege. Welche Eigenschaften sollte dieser haben? Ein Wesenszug des Titels sollte ja sein, dass der geneigte Leser mit zackigen und markanten Worten aus dem Tal der Erwartung herausgehoben wird. Er sollte schon mit diesem Grundzug des Textes vor Spannung zittern, es nicht abwarten können, mitten hineinzustürmen in das bereitstehende Dasein des eindrucksvollen Textes.
Meine Erwägungen kommen zu keinem potenten Ergebnis. Meine Geschichte braucht einen Titel, eine Überschrift, eine Ansage. Vieles geht als Darstellung in Form einer Erzählung leicht von der Hand, aus der Feder, auf Papier. Doch dem Kind schließlich einen Namen zu geben - das fällt mir so schwer, als hätte ich noch nie etwas geschrieben. Für jeden neuen Anfang möchte ich die Geschichte in ihrer Kraft darzustellen versuchen. Wie viel Zeit vergeht durch meine Arbeit am Titel?
Ich setze mich, stehe auf, geh zum Fenster und wieder zurück. Trinke, esse und trinke, schreibe und streiche alles durch. Diese Arbeit wird nur durch ihre Eröffnung abgeschlossen. Wie oft habe ich inzwischen auf die Uhr gesehen? Warum bleibt die Zeit in diesem Zustand immer stehen? Ist es noch nicht an der Zeit, ist meine Geschichte noch überhaupt nicht bereit, wenn ich keinen Titel für sie habe?
Verzweifelt schaue ich die Wand an. Die Wand schaut mich an. Ihr rechtes Auge, das mit der Kopie von »Manet«, zwinkert mir heimlich zu. Und dann, urplötzlich geht der Vorhang hoch!
Ich habe jetzt einen Titel für meinen Text - ich habe einen - dass ich da nicht gleich draufgekommen bin! Mein Titel heißt Ohne Titel.
Kommentare (7)
Danke, liebe Freunde -
Unser Wissen ist ein Tropfen.
Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.
Wenn ich fähig war, weiter zu sehen
als andere, dann deshalb,
weil ich auf den Schultern
von Riesen stand.
(Sir Isaak Newton)
Da hat Dir die Wand also etwas vorgesagt... :) Und mein Vorschlag wäre: "Ich hab's!" - damit die von Dir erwähnten Bedingungen irgendwie erfüllt wären.
Mit Grüßen
Christine
Lieber Horst,
wie viele Kilometer werden wohl einige Schriftsteller verzweifelt in ihrer Wohnung hin und her marschiert sein, bevor sie einen guten Titel für ihr neues Buch fanden? Man kann sich deshalb Dein Problem ziemlich gut vorstellen.
Sogar bekannte Autoren wählten dann einfach den Namen ihres Hauptakteurs aus: „Sophia“ (Rafik Schami), „Cecile“ (Theodor Fontane), „Rebekka“ (von Daphne du Maurier) oder „Michael Kohlhaas“(von Heinrich von Kleist). Dabei kann man ja eigentlich nichts falsch machen.😉
Bei manchen Buchtiteln erahnt der geneigte Leser allerdings schon im Vorhinein worum es geht. Siehe „Augustus“ (John Williams), „Die Pest“ (Albert Camus), „Der Überläufer“ (Siegfried Lenz) oder auch „Hexen-Sabbath“ (Ludwig Tieck).
Dagegen muten einige Buchtitel schon seltsam an, denn man kann sich absolut nichts darunter vorstellen: „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ (Christoph Hein).
Und dieser Titel verwirrt total durch Widersprüchlichkeit: „Mit brennender Geduld“ (Antonio Skarmeta).
Lieber Horst, Du hast mal wieder einen sehr interessanten Beitrag geschrieben, der mich nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken angeregt hat.👍
Viele Grüße
Rosi65
...sehr treffend - einfach auch herrlich zum Schmunzeln!
danke fürs Teilen
WurzelFluegel
Lieber Horst, deine interessante Betrachtung zur Titelfindung für einen bereits verfassten Text ist in der Tat ein realphilosophischer Essay mit einer gern anzunehmenden oder aber auch zu verwerfenden Poente. Ganz ähnlich ist es ja auch mit der oft „schmerzlichen Geburten“ des Initialsatzes eines umfangreichen Romans. Hat dieser keine Aufmerksamkeit bewirkende „Zugkraft“, findet das gewichtige Romanwerk bestenfalls im Bücherschrank einen mit der Zeit mehr und mehr verstaubenden Platz, statt seine „weltbewegende Botschaft“ ins lebendige Bewusstsein des Käufers oder wenigstens des mit dem Wälzer Beschenkten zu finden.
Wenn nun die Worte „Ohne Titel“ den Leser vielleicht doch dazu bewegen, wirklich kurz nachzuschauen, was sich da so anonym darstellt, kommt vor allem dem ersten kurz und prägnant dargelegten Gedanke essentielle Bedeutung zu. Gelingt es dem Autor das Interesse zum Weiterlesen zu wecken, ist schon viel gewonnen, ist die Texteinleitung aber von gähnender Langeweile geprägt, versiegt die Lust an der Sache wie ein Wassertropfen im heißen Sand.
Sollte ich nun die Aufgabe haben, einen Titel zu dem beigefügten Foto von der Skulptur des Till Ulenspiegel zu finden, würde er lauten: Daumen hoch! - Dies gilt auch für deinen kurzweiligen Essay...
...sagt mit Grüßen in den Norden
Syrdal
Ein bißchen Narrheit, das versteht sich, gehört immer zur Poesie.
(Heinrich Heine)
Mit der Magnetnadel seitenverkehrt ...
grüßt Horst
Klar, ich verstehe gut dieses Hin- und Her, dieses Her- und Hin auf der Suche nach einem passenden Titel.
Zwar kam ich nie auf die Idee, ihn "unterm Bett, im Heizungsraum, im Carport" oder an anderer Stelle zu finden, denn der Zufall kam mir zu Hilfe:
Als mein Verlag aufgelöst wurde und alle Rechte an die Autoren zurück gegeben wurden, war die Chance da, meiner Autobiografie einen neuen besseren Titel zu verpassen. Und sogar ein neues Cover.
Später dann, für Kurzgeschichten, war auch ich immer wieder auf Till Eulenspiegel angewiesen oder ließ mich vom rechten zwinkernden Auge der Wand inspirieren ...
😄
Nett erzählt, und ich sage Danke.
Andrea