Zum Studium nach Kiel.
(Aus meinen Lebenserinnerungen)
Ich hatte die landwirtschaftliche Lehre im Jahre 1954 mit Erfolg abgeschlossen und war gewillt, mit Beginn des Wintersemesters an der Uni Kiel mit dem Studium der Landwirtschaft zu beginnen.
Aber zunächst wurde das noch nichts, denn ich konnte den Eltern die doch relativ hohe finanzielle Belastung nicht allein tragen lassen. Ich mußte also arbeiten und Geld verdienen, habe daher zunächst nur die Anmeldung weggeschickt und noch bis ca. Mitte November im sogenannten „schwarzen Chor“ gearbeitet, einer Gruppe von Akkordarbeitern, die auf landwirtschaftlichen Ländereien Drainagerohre verlegten. Das Semester war inzwischen längst angefangen, aber ein Bekannter, der das Procedere kannte, versicherte mir, daß das in den ersten Semestern gar nicht so genau genommen würde. Na, denkste!
Ich fuhr also am 17. November mit meinem Motorrad (Geschenk der Eltern) und einem Art Seesack hinten drauf in Richtung Kiel. Ich weiß nicht mehr warum, aber als ich dort ankam, war es bereits fast dunkel. Kann mich noch besinnen: stand mit meiner Habe irgendwo am Güterbahnhof und atmete durch. Da war ich also in Kiel, und zwar ganz allein. Sonst hatte man sich immer noch auf eine Obhut oder gewisse Geborgenheit berufen können. Man wußte, wo man sein Essen bekam und in welchem Bett man schlafen würde. Das war jetzt alles anders. Wilhelm Tell fiel mir ein: „ ....dort in der fremden Welt stehst du allein, ein schwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt!“ Stimmt wirklich, daran habe ich damals gedacht, aber gleichzeitig auch ein leises „ Na, das wollen wir doch mal sehen, wer hier wen knickt!“ gemurmelt.
Ich hatte für den Notfall betreffs Unterkunft vom letzten Lehrherrn eine Anschrift in Kiel bekommen: Ehepaar Goldinger, Deichstraße soundso, Elmschenhagen, ein Offizierskollege aus den gemeinsamen Kriegstagen, glaube ich. Also Elmschenhagen – Deichstraße. Ein kleines Privathaus tat sich vor mir auf, soweit das im Dunkel noch erkennbar war. Ich klingelte, ca. gegen 21:00 Uhr, glaube ich, und eine nett aussehende Dame öffnete: „Ja ?“ „ Schönen guten `nabend, – ich soll einen schönen Gruß bestellen – von Familie soundso, – und ich möchte – nein, ich sollte ......“ – ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch gestottert habe. Zwei freundliche Augen fixierten mich, sahen mein Motorrad im Dunkel stehen, und die Dame meinte: „ Wissen Sie was, kommen Sie man erst mal rein und wärmen sich auf, dann besprechen wir alles weitere. Am besten, Sie legen sich erst mal in die Badewanne!“
Selten habe ich ein Bad so genossen!
Inzwischen hatte man ein Abendbrot für mich bereitet, und ein Bett im Gästezimmer wartete auch schon auf mich. Wahrscheinlich hatte man während meiner Aufwärmphase in der Wanne mit meinem ehemaligen Chef telefoniert („Hier liegt jemand bei uns in der Badewanne ...“.oder so ähnlich!), denn das Ehepaar Goldinger wußte schon einiges über meinen Werdegang, wie ich an einigen Bemerkungen feststellen konnte. Bis Mitternacht hatten wir ein sehr nettes und für mich auch hilfreiches Gespräch: Ich sollte am nächsten Tag auf der Uni vorstellig werden und mir dann in aller Ruhe ein passendes Zimmer suchen. Solange könne ich kostenfrei im Gästezimmer übernachten.
Zwei volle Tage nutzte ich die Gastfreundschaft des Hauses, dann verabschiedete ich mich mit einem hoffentlich passenden Blumenstrauß von den Goldingers.
Übrigens hatte ich vorher noch nie soviel Prunk in einer Privatwohnung gesehen. Wenn ich heute z. B. Stoffservietten sehe, die durch einen Silberring gezogen sind, denke ich an das Haus Goldinger. Dort sah ich diese nämlich zum ersten Mal, für mich damals der Gipfel der Vornehmheit! Herr Goldinger war, wie ich später aus einer Zeitung erfuhr, eine maßgebende Persönlichkeit im Schiffsbau bzw. in der Seefahrt allgemein. Daher rührten wohl auch all` die kleinen Reedereiwimpel auf den Schränken und Borden in der Wohnung.
Am dritten Tag zog ich um, nach Kiel-Holtenau, ganz am anderen Ende der Stadt. In ein Eckhaus, das mit zwei Eingängen zu zwei verschiedenen Straßen gehörte. Ich bezog dort ein Minizimmer mit einem schmalen Sofa, einem kleinen Tisch, Bett und einem ebenfalls klein bemessenen Schrank. Überhaupt war alles sehr eng bemessen und entbehrte nicht einer gewissen Kuriosität : wenn man auf dem Sofa Platz nehmen wollte, schob man den Tisch gegen das Bett und wenn man ins Bett wollte, wieder zurück gegen das Sofa. Und beim Überziehen eines Oberhemdes machte man tunlichst die Tür auf, da man sonst die Arme nicht ausstrecken konnte. Das Zimmer hatte einen trapezförmigen Grundriß und sollte ursprünglich wohl nur als Abstellraum dienen. Der Zugang war nur über ein anderes Zimmer möglich, das an zwei jüngere Werftarbeiter vermietet war. Gab aber nie Schwierigkeiten zwischen uns, und Damenbesuche waren sowieso verpönt. An der Schmalseite des Zimmers gab ein kleines Fenster den Blick zum Hof hin frei. Dort stand auch mein Motorrad, allerdings schon auf dem Nachbargrundstück in einem nicht mehr benötigten Hühnerstall. Als Entgelt hierfür fuhr der Nachbar ab und zu mal als Sozius mit in die Stadt. Das war also meine Bleibe in der fremden Stadt, klein, aber sehr preiswert.
Kommen wir zum ersten Kontakt mit der Uni, vollzogen nach einer herrlich durchschlafenen Nacht bei den Goldingers. „Sie kommen aber reichlich spät!“ meinte man im Sekretariat, das ich nach längerem Suchen endlich gefunden hatte. „Ihnen wird ein Semester verloren gehen, denn der Chemie-Kursus hat schon angefangen und ist außerdem voll belegt! Der nächste findet erst in nächsten Wintersemester statt!“ „Nein, ich möchte ja Landwirtschaft ....“, „Ja, ja, schon richtig, aber die landwirtschaftlichen Fächer kommen erst nach dem Physikum (Vordiplom)! Jetzt sehen Sie zu, daß Sie in die erste Vorlesung kommen, am besten gleich jetzt nebenan im Hörsaal für Chemie!“ Wieder diese Chemie, die ich doch so haßte wie der Teufel das Weihwasser!
Hörsaal soundso, gleich nebenan. Ich klopfte, wie man es als höflicher Mensch tut. „Herrrrein!“ brüllte innen eine Stimme. Also rein. Ein voller Hörsaal schaute auf mich. Auch der Professor am Pult fixierte mich und wartete wohl, was nun kommen sollte: „Entschuldigen Sie bitte mein Zuspätkommen ....“ Er stutzte: „Nehme an, Sie sind neu!“ „Ja, bin ich“. „Nehme an, Sie sind sehr neu!“ „Ja, stimmt, gerade angekommen“. Unterdrücktes Kichern im Auditorium. „Das sehe ich. Na, dann nehmen Sie man erst mal Platz!“Ich schlich mich ganz nach hinten , wahrscheinlich mit hochrotem Kopf. Ein paar mal traf mich noch der eisige Blick des Professors, dann hatte er den Faden wieder gefunden und setzte die Vorlesung fort, über die N-Verbindungen in den Azo-Farbstoffen. Keine Ahnung, was das war, ich verstand nur Bahnhof.
In der Pause erfuhr ich dann von Kommilitonen drei Dinge, die wichtig schienen: 1) Man kommt nicht zu spät in eine Vorlesung, 2) wenn tatsächlich mal, dann entschuldigt man sich nicht, sondern schleicht sich möglichst geräuschlos zu irgendeinem freien Platz, und 3) das allerwichtigste. einen „lesenden“ Professor unterbricht man nicht, nie und nimmer! Das darf nur die Feuerwehr, wenn der Hörsaal abbrennt! Damals war das so, heute hat sich sicher einiges geändert.
Und dann hörte ich noch, wie wichtig Chemie für die Landwirtschaft ist, als Grundlage für z. B. Pflanzenschutz, Bodenfruchtbarkeit, Tierernährung usw. Ohne Chemie läuft also garnichts!
Und das mit dem „Kochkursus“, wie man das Chemiepraktikum allgemein nannte, stimmte auch: fand nur im Winter statt, und den Teilnahmeschein mit Abschlußprüfung benötigte man für die Zulassung zum Vordiplom. Ich hatte also, bevor ich anfing, schon ein Semester in den Sand gesetzt. Nach Hause fahren? Nein, ich war doch stets ein Glückspilz gewesen, warum plötzlich aufgeben? Würde die Zeit schon vernünftig verbringen.
Es gab also a) allgemeine Chemie (nicht so mein Ding), b) spezielle Botanik (recht interessant), c) Anatomie und Physiologie der Haustiere mit Präparierübungen (konnte einem schlecht werden), Geologie (ließ sich anhören), Physik (naja, ging so), Bodenkunde (endlich was handfestes) und Volkswirtschaftslehre (unwichtig, weil kein Prüfungsfach).
Weihnachten fuhr ich nach Hause, bei eisiger Kälte. Eine Sonnabend-Ausgabe der „Kieler Nachrichten“ um Beine, Bauch und Brust gewickelt und dann auf das Motorrad. Nach 5 Stunden Fahrt war ich zu Hause. Alles wartete. „Na, wie läuft es denn?“ Als Mutter was von Chemie hörte, wurde sie ganz nachdenklich, weil das doch schon immer mein Problem gewesen war. Habe aber alle Unwegsamkeiten überspielt und bin offensichtlich frohen Mutes im neuen Jahr wieder gen Kiel gefahren.
Klostermeier

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Kommentare (2)

struppi ich glaube, Hermann Hesse war es, der da sagte: Jedem Anfang liegt ein Zauber inne... (oder so ähnlich). Aber dies war ja ein besonderer Anfang, weg von der Geborgenheit der Familie und rein ins "lustige" Studentenleben. Auch hier wieder bewundere ich deine Gabe der Erzählkunst. Man leidet, freut und friert mit dir.
Aber stimmt's? Wenn man sich erst mit der Chemie angefreundet hat, ist sie gar nicht so schlimm.
Struppi.
Traute Ja so ist das, aller Anfang ist schwer.
Die Rituale bekommt man nach und nach beigebracht.Aber wie es ist,
der Schritt in ein selbstverantwortliche Leben, gut Geschildert.
Da muss man durch und zwischen den Zeilen liest man ja das pure
Vergnügen an der Wissensaufnahme.
Nochmal das gleiche Studium?Sicher? ich glaube es heraus gelesen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Traute


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