Obstbaumschnitt
(Eine wahre Geschichte)
Februar ist der Monat, in dem man die Obstbäume beschneidet. Und das erinnert mich an den Winter 1952/53, in dem ich die Landwirtschaftsschule in einer nordwestdeutschen Kleinstadt besuchte. Alles, was mit Landwirtschaft zu tun hatte, wurde gelehrt, u. a. auch das Fach Obst und Gemüse.
Hierfür kam extra ein Lehrer von außerhalb. Hieß er Koch ? Ich weiß es nicht mehr. Wir nannten ihn jedenfalls nur „Obst-und-Gemüse“. Ein älterer Herr, kurz vor der Pensionierung, der seinen Beruf nicht nur sehr ernst nahm, sondern der sich bei bestimmten Themen so in die Materie hineinsteigern konnte, daß er fast alles um sich herum vergaß. Zwei Wochenstunden waren ihm zugeteilt worden, eine am Mittwoch und die andere am Freitag.
Irgendwann im Februar hieß es: „ Meine Herren, (– wir waren nur Jungs in der Klasse –) wir haben heute das Thema Obstbaumschnitt, und wir werden dieses anhand von praktischen Beispielen am Objekt selbst veranschaulichen. Dazu gehen wir heute mal in den Pastorengarten “. Das hörte sich soweit ganz gut an. Aber deswegen nach draußen, wo es doch gerade an dem Tag so lausig kalt war? Doch es gab kein Pardon.
Wir zogen also alles an, was verfügbar war und machten uns auf zum Pastorengarten am Friedhof, ca. einen halben Kilometer weit entfernt. Obst-und-Gemüse stürmte eilenden Schrittes voran.„Ich habe mir meine beiden Wochenstunden zusammenlegen lassen, damit wir vor Ort effektiv arbeiten können,“ ließ er sich plötzlich vernehmen, „ wir werden uns dort also ungefähr 1 ½ Stunden aufhalten!“ Unser langgezogenes „Öööööh“ wurde nicht weiter zur Kenntnis genommen, und deutlichere Proteste waren zu der Zeit an Schulen noch nicht erlaubt.
Im Pastorengarten angekommen standen wir bald im dichten Kreis um einen Apfelbaum herum und hörten, daß dieses ein „Halbstamm“ sei. Wir wußten nach kurzer Zeit auch über „Fruchtholz“ und sogenannte „schlafende Augen“ Bescheid, und es wäre bestimmt ein für den heimischen Obstgarten segensreicher Vormittag geworden, wenn der Wettergott ein Einsehen gehabt hätte und – wenn nicht ganz in der Nähe eine dichte, halbhohe Buchenhecke gewesen wäre. Die sowieso schon niedrigen Temperaturen wurden allmählich noch
von einem aufkommenden schneidenden Nordostwind unterstrichen. Alles bibberte, was das Zeug hielt. Nur Obst-und-Gemüse schien an solche Umstände gewöhnt: er dozierte mit wahrer Begeisterung und schaute dabei nur zum Objekt „Halbstamm“.
Er merkte offensichtlich auch nicht, daß einige ganz mutige „Zuhörer“ sich langsam nach rückwärts in Richtung Buchenhecke orientierten. Und als ein Mitschüler aufgefordert wurde, die mitgebrachte Trittleiter an den Baum zu stellen und zu besteigen, hüpften die ersten beiden Kollegen gerade mit einem gekonnten Satz über die Hecke und verschwanden in geduckter Haltung in Richtung Innenstadt. Obst-und-Gemüse hatte anscheinend in seinem Eifer nichts gemerkt, – was uns Verbliebene natürlich nachdenklich werden ließ.
Ein Mitschüler saß jetzt oben im Baum, schnippelte an den Zweigen herum und zog die ganze Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich. Und als dieser sogar selbst die Trittleiter bestieg, um durch emsiges Gestikulieren und Fingerzeigen auf besonders wertvolle Fruchttriebe hinzuweisen, desertierten gerade drei weitere Schüler über die Buchenhecke.
Um es kurz zu machen: innerhalb einer Viertelstunde war aus dem Zuhörerkreis ein recht dürftiger Halbkreis geworden. Ich selbst gehörte inzwischen auch zu den „Abtrünnigen“ und kann daher über den weiteren Verlauf des Unterrichts im Pastorengarten nur bedingt Auskunft geben. Wenden wir uns also dem ersehnten Ziel der „Flüchtigen“ zu, dem gut temperierten Klassenzimmer.
Dort hatte sich inzwischen in wohliger Wärme eine gute Stimmung breitgemacht. Schlechtes Gewissen? Keineswegs. Bei der Kälte jagte man ja nicht mal einen Hund vor die Tür, trösteten wir uns. „Wenn 2/3 der Schüler etwas machen, was nicht unbedingt den Gepflogenheiten entspricht, muß der Lehrer es tolerieren, auch wenn es ihm nicht gefällt“ wußte jemand zu berichten. „So steht es in der Schulordnung“, meinte er noch. In welcher, das wußte er auch nicht. Die 2/3-Mehrheit hatten wir auch bald erreicht, denn immer mal wieder ging die Tür zum Flur hin auf, eine weitere Gruppe frierender Kollegen kam rein und „schnürte“ sogleich unter dem Gejohle aller Anwesenden zur warmen Heizung. Man saß bald in kleinen Gruppen zusammen und unterhielt sich angeregt über alles mögliche, vor allem natürlich über die noch im Pastorengarten verbliebene Zuhörerschaft, – und das nicht ganz ohne Häme.
„Was die da jetzt wohl machen?“ In einer knappen Stunde würden wir es wissen, solange dauerte die Doppelstunde von Obst-und-Gemüse noch, – und solange konnten wir unsere Fantasie bemühen und uns die Situationskomik im Pastorengarten ausmalen. A`propos ausmalen: wozu hatten wir eigentlich die große Wandtafel? Schon war diese auf ihrer ganzen Breite von ca. vier Meter ausgeklappt, und auf der rechten Seite war bald ein Halbstamm-Apfelbaum mit angelehnter Trittleiter, eine Figur oben auf einem Ast und eine Gruppe von Figuren ringsum zu sehen. Der Mitschüler B., also ich, war in seinem Element! Neben dieser Baum-Szene wuchs mittels kurzen Kreidestrichen schnell eine halbhohe Buchenhecke empor, über die gerade jemand hinweg sprang. Eine weitere Person hatte die Hecke bereits hinter sich gelassen und strebte offensichtlich in geduckter Haltung irgend einem Ziel zu
Alle Anwesenden hatten inzwischen bemerkt, was da vorn an der Tafel abging, und der „Künstler“ stand sehr bald im Mittelpunkt des Interesses. Meine zeichnerischen Fähigkeiten waren zwar begrenzt, aber wenn ich etwas Zeit investierte und bestimmte Merkmale sorgfältig ausführte, konnte man schon erkennen, um wen es sich bei den einzelnen Figuren handeln sollte. Und Zeit hatten wir ja genug, theoretisch noch fast eine Dreiviertelstunde. „Kiek mol, gorkeen Hoor up`n Kopp! Hans, dat büst du jo!“ Großes Gelächter. „Mensch, Heini, mit den grooten Hoot! Ganz genau drapen!“ Was für ein Spaß! Jeder wollte jetzt porträtiert werden, und jede neue Figur wurde lauthals identifiziert und belacht. Nach einigen Minuten war die ganze Tafelbreite besetzt mit kleinen Gestalten, die alle in gebückter Haltung dem ganz links dargestellten Schulgebäude zustrebten. „Muß ober wedder afwischen, wenn Obst-un-Gemüse kummt!“ meinte einer nebenbei. „Natürlich, du Bangbüx! Ober noch hebbt wi jo`n halve Stunn Tied!“
Doch da hatten wir uns wohl versehen, denn plötzlich ging die Tür auf, – und Obst-und-Gemüse mit seinen letzten fünf Getreuen kam in die Klasse. Jeder von uns rannte an seinen Platz und stellte sich kerzengerade neben seinen Stuhl (so war es damals noch üblich, wenn ein Lehrer den Raum betrat). Obst-und-Gemüse schaute uns an, wunderte sich wohl wegen der Stille im Raum und daß viele Augenpaare auf die Wandtafel gerichtet waren. Kurzer Blick zur Tafel: „Aha! Der B. war aktiv! Sehr interessant!“ Er ging nach rechts: „ Das hier soll ich wohl sein. Ja, kann man fast erkennen. Wirklich interessant!“ Er ging etwas dichter an die Tafel: „ Aber man kann ja tatsächlich was erkennen: Bertels, der gerade über die Hecke springt, das sind Sie doch! Und hier, dieser Schlacks, das ist doch Kreite! Das ist ja nicht nur eine Zeichnung, das ist insgesamt ja ein Dokument!“ Was er damit meinte, war uns nicht ganz klar. Das sollte sich aber bald ändern. Obst-und-Gemüse ging gebückt langsam die vier Meter Wandtafel ab, betrachtete jede Figur eingehend und verglich sie mit dem jeweiligen Schüler, indem er sich kurz zu diesem umdrehte.
Am Ende angekommen richtete er sich bedächtig wieder in die Senkrechte, drehte sich ebenso bedächtig um und schaute uns durch seine randlose Brille bewegungs- und wortlos an. Eisiges Schweigen auch bei uns. „Setzen!“ schnauzte er plötzlich in einem uns bisher nicht bekannten Ton. Alles fiel auf die Stühle. „Sie nicht, B.!“ Ich stand unsicher wieder auf. Obst-und-Gemüse kam langsam und Fuß für Fuß ganz dicht an mich heran und fixierte mich.
Ganz dicht vor mir stand er und schaute zu mir hoch, denn ich war ungefähr zwei Köpfe größer als er. Eisiges Schweigen im Raum, nur das Atmen war bei einigen zu hören. Und dann diese verdammt kalten Augen, die regungslos auf mich gerichtet waren!
„Nun sag doch endlich was!“ schoß es mir durch den Kopf, aber nichts kam. Erst nach unendlichen Sekunden sagte er leise, aber unüberhörbar: „Ich muß mich eigentlich bei Ihnen für die Hilfe bedanken, denn erst dadurch kann ich die fälligen Tadel an die richtigen Schüler verleihen!“. Ein erster schmerzhafter Knuff von hinten in meinen Rücken und unterdrückte Unmutslaute unter den Mitschülern ließen für die nächste Pause nichts Gutes ahnen. „Die Klassenkeile sind Ihnen ja schon mal sicher, wie ich feststelle“. Zustimmendes Gemurmel hinter mir.
Dann wieder Stille im Raum. Fast Totenstille. Ab und zu schlurfte jemand hörbar mit den Schuhen auf dem Holzfußboden, wohl auch nur, um die große Verlegenheit zu überspielen. Und immer noch der eiskalte Blick unter den heruntergezogenen Augenbrauen, dem ich nicht ausweichen konnte und auch nicht wollte. Herrgott, wie lange sollte das Spielchen denn noch gehen?
Und dann, nach schier unendlichen Sekunden der Starre lichtete sich das Minenspiel im Gesicht von Herrn Koch. Ganz allmählich. Die Klasse merkte es nicht, aber ich, wo ich doch direkt vor ihm stand, sah, daß sich die zu einem Strich zusammengekniffenen Lippen wieder zu einem normalen Mund formten, zunächst kaum merklich, aber dann doch bald deutlicher. Und dieser Mund wurde – auch ganz allmählich – immer breiter. Auch die Unheil andeutenden Augenbrauen bewegten sich wieder nach oben, und die Augen darunter schauten garnicht mehr so drohend wie vorher.
Im Klassenraum wurde es unruhig. Man schaute sich gegenseitig an wegen dieser veränderten Situation. Und als Herr Koch mit einem jetzt breiten und deutlichen Lächeln die gesamte Klasse wieder ins Auge faßte, brach es wie eine Erlösung über die Mitschüler herein. Alles lachte und sprach durcheinander. Ich durfte mich auf einen Wink von Obst-und-Gemüse wieder setzen und auch teilhaben an dieser Ausgelassenheit.
Und vorn stand Obst-und-Gemüse, die Hände auf dem Rücken. Alle Strenge war verflogen und er schaute stillschweigend mit dem schönsten Lächeln immer abwechselnd zur Tafel und wieder auf uns.
Die verbliebene Zeit der Doppelstunde noch dem Fach Obst und Gemüse zu widmen, lohnte sich nicht. Hätte auch nicht zum Gesamtablauf des „Unterrichts“ gepaßt. Anstatt dessen hörten wir nach gutem Zureden von Herrn Koch einige kleine Geschichten, die er und seine Mitschüler sich seinerzeit geleistet hatten – und die konnten mit unserer heutigen absolut mithalten.
Klostermeier, alias B.

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Kommentare (2)

struppi "Obst und Gemüse" hatte tatsächlich eine ordentliche Portion Humor. Diese Art Lehrer wünschte ich mir für meine Enkel!
Da wäre dir ja, lieber Klostermeier, dein Zeichentalent fast zum Verhängnis geworden.
Auch diese Geschichte von dir ist ein Geschenk. Es macht Freude, sie zu lesen. Und ein Schmunzeln war totsicher auf meinem Gesicht.
Traute hat Recht: du hast uns einen Regentag mit deinen zwei neuen Geschichten ganz toll verschönt.
Ich freue mich auf ein MEHR!
Einen lieben Gruß von Struppi.
Traute Ganz bezaubernd!
Ich habe es mit wachsendem Interesse gelesen. So ungezwungen und
leicht erzählt und doch die Charaktere so eindeutig.
Ein Regentagsvergnügen,
mit freundlichen Grüßen,
Traute

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