Schicksal auf der Flucht

Autor: ehemaliges Mitglied



Ein Treckwagen auf der Flucht vor den russischen Eroberern rollte durch die dichten stillen Wälder Niederschlesiens. Der Vorfrühlingstag war sonnig. Die Schneekanten längs des Weges gleißten. Irgendwo im Dickicht schlug ein Vogel an, verstummte vor ein paar fernen Schüssen, schlug wieder an.
Der Wagen überholte eine Frau in einem schäbigen Wintermäntelchen. Sie hielt ein Bündel behutsam vor der Brust. Der andere Arm schob den mit einem zusammengeschnürten Bett und einem prallen Rucksack beladenen alten Kinderwagen.
Der Bauer auf dem Treckwagen lud die Frau zur Mitfahrt ein. Sie starrte in die Weite und zirpte schließlich: "Finde meinen Weg allein". Erst als das rötliche Mondgesicht der Bäuerin untere der Plane auftauchte, änderte sich die Haltung der Frau. Sie knickste auf die strenge Frage der Bäuerin, ob sie in Unsicherheit und Kälte ihr Kind umbringen wolle…"Die ganz kleinen halten doch nichts aus. Wie alt ist das Eurige?"
Die Frau hob das Gesicht das wachsgelb war. Ihre zittrigen Lippen formten ein paar Laute, die abermals wie Grillenzirpen klangen: "Elf Monate…Und Dank auch der Güte…Puppi ist kränklich…ich persönlich habe offene Beine…"
Die Bauersleute sahen einander an. "Steigt hinten ein!" rief die Bäuerin. Dann bat sie den kriegsgefangenen Franzosen, den Kinderwagen zu verstauen. Die Frau mit dem Bündel trippelte unterdessen um den Wagen herum. Das sah so spaßig aus, dass die lebensfrohe Bäuerin lachend ausrief: "Warum verbergen sie ihr Kind vor der wärmenden ersten Frühlingssonne?"
Die Frau fuhr aufgeschreckt herum, knickste abermals und wies auf die trichterförmige Wölbung am Kopfende des Bündels. "Mein hygienischer Einfall. Puppi genießt die Gottesluft und ist doch vor dem tückischen Wind geschützt." Und sie wiegt das Bündel innig im Arm.

Der Zufall wollte es, dass der Treck die Nacht in dem berühmten Wallfahrtsort Grüssau verbrachte. Die kleine Gesellschaft hatte beschlossen, vor der Weiterfahrt am nächsten Morgen den Segen in dem Marienmünster zu erflehen, dessen sie in ihrer Ausgesetztheit dringlicher als sonst bedurften.
Im Morgenrot stand Gottes schlesisches Barockschloss wie eine uneinnehmbare Festung vor dem noch stehend weißen Gebirge. Auf dem unteren Sims der Fassade standen die Träger des alten und des neuen Bundes, Moses und Gregorius, und schauten zu der strahlenden Maria mit dem Kinde hoch über dem Portal.
Und damit des Innen und dem Außen sinnvoll entspräche, zeigte der noch dämmrige Hochaltar die Himmelfahrt Mariä. Der prachtvolle Riesenraum des Münsters mit dem Vollkommenen Zusammenklang von Farbe und Licht war an dem Wochentag fast leer. Nur die Arbeiter des Klosters, ein paar Einheimische, Soldaten, Flüchtlinge, Kinder saßen oder knieten über das Mittelschiff verstreut. Die Leute des Trecks setzten sich nebeneinander in eine Bank. Nur die Frau mit dem seltsamen Gebaren blieb am Portal zurück. Ihr Gesicht war über das große wollene Bündel innig geneigt.
Als die Benediktiner ihren Einzug gehalten und auf dem reichgeschnitzten Seitengestühl Platz genommen hatten, erhob sich die unscheinbare Frau mit dem riesigen Umschlagtuch. Sie trippelte den langen Mittelgang heran. Das wächserne Gesicht starrte auf das Bündel. Die Stimme zirpte in träumerischer Entzückung: "Puppi, sei ohne Furcht!" Erstaunte Blicke wendeten sich der Frau zu. Und wieder zirpte die Stimme durch den gewaltigen feierstillen Raum: "Ich bringe Dich zu IHM, der mächtiger ist als Dein flüchtiges Mütterlein. ER wird Dich in die Arme schließen und seiner Herrlichkeit zuführen…"

Sie kniete vor dem Hauptaltar nieder und legte das Bündel auf die Kommunionbank. Ein junger Mönch trat heran. "Bitte nehmen Sie das Paket weg!" flüsterte er mit sanfter Dringlichkeit. Die Frau neigte den Kopf zu Boden und küsste den Marmor vor seinen Schuhen. Dann hob sie blitzschnell die Arme und öffnete das Bündel. Sie sah zu dem Mönch auf. Das Umschlagtuch fiel über die Schulter zurück. Ihr tränenloses Gesicht war ein Brachfeld des Schmerzes.

Der junge Benediktiner starrte auf das Kind. Der süßliche Geruch der Verwesung erreichte ihn. Er beugte das Knie, zeichnete das Kreuz über dem kleinen Leichnam und murmelte: "Requiseat in pace." Dann trat er lautlos zu den Brüdern auf dem barocken Seitengestühl.
Bald danach begann der Abt die Messe. Der gewaltige goldene Hochaltar mit der Himmelfahrt Marias war im Sonnenlicht aufgestrahlt. Die Stimme des Zelebranten ertönte .Die Orgel brauste. Lerchenhelle Knabenstimmen mischten sich mit den dunklen der Mönche. Die Benediktiner feierten das Mysterium der Versöhnung aller Menschen in Christi sinnvoll freiem Opfer. Und der der kindliche Tote, der aus dem Ungefähr des mütterlichen Schmerzenswahn vor ihrem Altar lag, war einbezogen in die Gnade.

Nun begannen die Tränen der Frau sachte zu rinnen. Der Krampf hatte sich gelöst. Auch sie war von dem starken Licht getroffen - eine der modernen Schmerzensmütter, denen die Verräter Gottes die sinnlosen Opfer ihrer Gewaltsamkeit schändlich abverlangten. Ihr schleirichter Blick umfasst die im Triumph entschwebende Urmutter des Schmerzens, über deren Bild die beiden "Princeps pacis" standen. Der Friedensfürst hatte auch sie erlöst…

Erzählung von Gerhard Pohl

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