Reminiszenzen einer Spurensuche
Eine Woche des Suchens nach Bildern in meinem Kopf ist vorbei. Ein paar vergilbte Fotos auf Papier, ein fast antiker Brief meines Vaters, zerknittert und verschlissen, den er mir kurz vor seinem Tod geschrieben hatte, sind das Basismaterial auf meiner Spurensuche.
Ich stehe vor dem Haus Schiffgasse 8, das ich als mein Elternhaus bezeichne. Es ist nicht die pompöse Villa in der Nachbarstadt, in der ich geboren wurde. Von dieser weiß ich nur aus Erzählungen. Jetzt wohnen dort andere Leute, Menschen, die ich nicht kenne.
Ich sitze auf einer Bank und grabe in Erinnerungen. Szenen beginnen im Kopf zu tanzen, sobald ich darüber schreibe. Mein geistiges Auge breitet ein Band vor mir aus, auf dem ich sehen, riechen und hören kann. Es ist verrückt, aber ich lasse es zu:
Es ist so ein Nachkriegstag, an dem man besser zu Hause bleibt. Böiger Wind treibt den Straßenstaub vor sich her. Es riecht nach Lauge und dem Gestank der nahen Papierfabrik. Über den Hochöfen der steirischen Schwerindustrie schwebt wie immer eine Abgaswolke. Der Himmel ist grau wie die bröckelnden Fassaden der Gebäude. Im letzten Licht des Tages legt sich ein Schleier über die Stadt. An einer Litfaßsäule pinkelt ein Köter auf ein vom Wind abgelöstes Wahlplakat mit dem Spruch: „Aus Brutstätten des Krieges, Werkstätten des Friedens.” Es war nicht zu erkennen, wer das versprach.
Meine Mutter kneift zum Schutz vor den ersten Regentropfen die Augen zusammen und fasst mich fester an der Hand. Sie geht zu schnell. Ich, der Sechsjährige, protestiere …
Bilder kommen und gehen. Vor der Kirche treffe ich im Gedanken eine weitere Figur von damals: Jim Peda, alias Peter Tschimm.
Jim Peda war Bettler. Im Krieg hatte er den rechten Arm verloren – und Deutschland den Krieg. Er wollte nie den Arm zum Gruß heben – jetzt hatte sich die Sache von selbst erledigt, sagte er oft lachend.
Als Kriegsopfer bekam er die Genehmigung zum Handel mit Kleinwaren. Er saß vor der Kirche und verkaufte Ansichtskarten. Viele warfen ihm Geld in den Hut, ohne die Karte zu nehmen. Er war dankbar und freundlich, auch zu denen, die ihn für einen arbeitsscheuen Hallodri hielten. Er wusste es besser.
Jim Peda war ein Freund meines Vaters. Lange vor dem Krieg waren sie gemeinsam als Walzbrüder unterwegs gewesen. Vater hatte den Krieg unbeschädigt an der Heimatfront überstanden und danach schmutzige Geschäfte mit den Alliierten gemacht. Sein Aufstieg zum Glas-Baron war so rasant wie zerbrechlich. Fünf Unternehmerjahre später endete die Reise im Gefängnis. Vater sprach nicht darüber, er betrank sich.
Jim Beda war den legalen Weg gegangen. Er bekam die Konzession zur Führung einer Tabak-Trafik. Der Weg zum Unternehmer war plötzlich offen. Meinen Vater wollte er als kaufmännischen Berater engagieren, doch der lehnte ab. Mit einem Bettler wollte er keine Geschäfte machen. Die Moral von der G’schicht? Verachtet mir die Bettler nicht.
Jahre später war Jim Peda Besitzer meines Geburtshauses.
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