"Island in the Sun”
Ich stand am Bahnhofskiosk, als mich ein Mann, der wie ein Hippie aussah, ansprach: „Darf ich Sie was fragen?”
„Gerne, worum gehts?” In mir keimte die Hoffnung, dass mich der Lennon-Verschnitt auf ein Bier einladen könnte.
„Ich bin Student und arbeite für eine Zeitung.”
„Aha”.
„Heute ist kein normaler Tag, heute ist Heiliger Abend. Wie werden Sie ihn verbringen?”, fragte er mich.
„Wenn es nicht so ein Sauwetter hätte, würde ich sagen, das steht in den Sternen”, sagte ich und zeigte mit der Hand auf die tief liegenden Regenwolken. Sein Blick ging nach oben und dann nach unten zu meinen kaputten Schuhen. Der Typ hatte längst erkannt, dass ich ein Sandler war.
„Sie sind obdachlos; in dieser reichen Stadt?”
„Ja, bin ich.”
„Wie kann so etwas passieren? Wollen Sie mir darüber etwas erzählen?”
Statt Interesse an meinem Schicksal sah ich nur blanke Neugier in seinen Augen. Daher erzählte ich ihm nicht, wie es mit mir so weit hatte kommen können. Er würde es wahrscheinlich nicht verstehen wollen. Ich bot ihm an, über das Jetzt zu reden, dem Status quo. Insideransicht quasi.
„Das ist sehr interessant. Bitte erzählen Sie.”
„Sie haben recht, Salzburg und obdachlos, das passt nicht zusammen. Obdachlos und Alkoholiker geht schon gar nicht. Wenn dann noch Weihnachten, das Fest der Liebe im Kalender steht, wird es eng für Menschen am Rand dieser Gesellschaft. Das ist die Unzeit für Tagelöhner. Die meisten Arbeitgeber schicken ihre Mitarbeiter in die Weihnachtsferien. Bis Dreikönig bleiben diese Rettungsanker geschlossen. Für reguläre Arbeit besteht vor den Feiertagen sowieso keine Chance. Dumm gelaufen, wenn ein Gestrauchelter wie ich bis dahin keine Bleibe gefunden hat. Die Caritas bietet Notschlafstellen in einer alten Baracke an. Zehn Stockbetten auf kleinstem Raum, ein Stuhl pro Person und eine Rossdecke aus Kriegsbeständen. Bis zu acht Tage können Wohnungslose hier für kleines Geld übernachten. Es gilt der hehre Grundsatz: Kinder und Frauen zuerst, dann kommen die Männer dran und ganz zum Schluss die Alkoholiker – nach einer Atemprobe. Ist diese positiv, wird die Aufnahme verweigert; womit in den meisten Fällen die Herbergssuche erfolglos bleibt. Was danach geschieht interessiert niemanden.”
Meine Kehle war vom vielen Reden trocken geworden, ich trank den letzten Schluck aus der Flasche und hielt sie mit einem fragenden Blick hoch, doch mein Zuhörer reagierte nicht. „Na, dann halt nicht”, sagte ich resignierend.
Ich hätte dem jungen Reporter noch viel erzählen können, unterließ es aber, als ich merkte, dass es ihm nur um Reißerisches ging und er nicht bereit war, mein Bier zu bezahlen. Was versteht so ein Schnösel schon vom Leben auf der Straße, von Sozialämtern und von herablassender Behandlung durch sattgefressene Beamtenärsche. Seit damals, als ich das Poster mit dem Verfassungstext – Die Würde des Menschen ist unantastbar – an die Tür geheftet hatte, hatte ich Hausverbot.
Das hätte der Schmierfink von der Zeitung gerne geschrieben in seinem Revolverblatt. „Ohne Geld ka Musi”, sagte ich. Oft genug war mir diese alte Weisheit selber zum Verhängnis geworden.
Ich ging in Richtung Innenstadt, immer knapp an den Hauswänden entlang, um den ärgsten Regengüssen zu entkommen. Nicht nur von oben drohte ich durchnässt zu werden – auch von unten – mein rechter Schuh war im Begriff sich aufzulösen. Die Sohle klappte an der Vorderseite auf wie ein Entenschnabel. Jeder Fehltritt in eine der vielen Wasserlachen bescherte mir ein Fußbad. Endlich erreichte ich meinen Unterstand, das Wartehäuschen an der Bushaltestelle gegenüber dem Schloss Mirabell. Das stand für mich strategisch günstig, denn gleich daneben befand sich ein Würstelstand, der mir so manche Hungernacht erspart hatte. Der Würstelmann leerte nach Feierabend seine unverkauften, vom heißen Wasser ausgelaugten, Würstel in die öffentliche Mülltonne. Dieser Heilige Abend war für den Würstelmann nicht gut gelaufen, er hatte früh geschlossen und keine Restbestände hinterlegt.
Der Tag versank im Nebel, die Lichter der Autos wurden schemenhafter. Mir schien, als ob die Stadt langsam zur Ruhe käme, die Nacht lag vor mir. Ich stand schon einige Zeit an der Bushaltestelle im Wartehäuschen, zum Nieselregen hatte sich ein kalter Nordwind gesellt. Ein dick vermummter Mann räumte beim Weihnachtsmarkt vor dem Schloss die letzten Lebkuchen aus der Verkaufsbude in sein Auto. Für ihn war Feierabend für dieses Jahr. Was mich brennend interessierte, war: Was machten die Glühweinverkäufer mit den übrig gebliebenen heißen Köstlichkeiten? Das nahm ich mir vor, demnächst zu recherchieren.
Ich blieb nicht allein in meinem Unterstand, eine junge Frau und eine Oma mit zwei Enkelkindern warteten mit mir auf den letzten Bus. Für sie war ich ein ganz gewöhnlicher Mann. Wie sollten sie wissen, dass ich nirgendwohin fuhr. Wohin auch? Es gab kein Zuhause. Die Leute wurden immer weniger, die letzten Vermummten hasteten den warmen Stuben entgegen. Der Bus fuhr langsam in die Haltebucht, zischend öffneten sich die Drucklufttüren. Niemandem fiel auf, dass ich nicht einstieg, jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ich war wieder einmal allein.
Vor mir stand die große Weihnachtstanne. Dieses Jahr kam sie aus der Steiermark, meiner früheren Heimat, die auch die Waldheimat Peter Roseggers war, meinem Lieblingsautor aus Kindertagen.
Im Schloss Mirabell wurde die Festbeleuchtung ausgeschaltet, nur eine Tafel mit der Weihnachtsbotschaft des Bürgermeisters war noch zu sehen. Die Kerzen der Steirertanne strahlten wie Sterne. Waren es die Regentropfen die meinen Blick verschleierten oder gar eine Träne? Ich weiß es nicht mehr, ich wusste nur eines, ich musste irgendwo unterschlüpfen, um diese Nacht zu überstehen.
Nachdenklich, aber nicht traurig fing ich an, mich umzusehen. Auf den Wänden meines Wartehäuschens klebten bunte Hinweise auf verschiedene Veranstaltungen. Das schönste aller Plakate war eine Vorankündigung eines Gastspiels von Harry Belafonte: ISLAND IN THE SUN. Ich mochte Harry Belafonte schon immer. Nicht nur seine samtig raue Stimme faszinierte mich, auch sein persönlicher Einsatz für die Schwarzen in Amerika und die Minderheiten dieser Welt hatten mich sehr beeindruckt. Mein Bushäuschen wurde zur Bühne - ich träumte mich in karibische Nächte und summte vor mich hin - die Sentimentalität des Heiligen Abends schien vergessen.
Ich bekam Besuch in meinem Unterstand, ein sichtlich betrunkener Mann schlurfte in meine Richtung, geradewegs auf mich zu. Er fluchte leise vor sich hin, offensichtlich hatte sich bei einer seiner Tragetaschen der Henkel gelöst. Er hatte alle Hände voll zu tun, dass der Inhalt nicht auf den Boden fiel. Bei mir angekommen, stellte er seine scheppernde Tasche auf die schmale Bank, nicht ohne kräftig weiter zu fluchen wegen seines Missgeschicks.
„Kann ich dir helfen?”, fragte ich ihn. Er überhörte mein Angebot. Meine Ahnung, dass er da Trinkbares transportierte, bestätigte sich. Dann begann er zu sprechen: „Ich arbeite als Hausmeister und Portier in einer Privatklinik, gleich da drüben”, sagte er, „heute hatte ich Dienst. Das Klinikpersonal hat sich bei mir bedankt, dass ich immer für sie da bin, wenn sie mich brauchen.”
„Das gehört sich auch so”, sagte ich nicht ohne Hintergedanken. Seine Taschen waren voll mit Geschenken in Form von Wein und Hochprozentigem.
„Schau her, das ist doch was, oder?”, sagte er.
„Boah!” Ich staunte nicht schlecht.
„Das ist bei uns so der Brauch, zu Weihnachten spendiert jeder eine Flasche.” Er zog eine davon aus der Tasche. Wir köpften die Flasche Beaujolais und rauchten Zigarillos, ebenfalls aus dem Geschenkefundus meines neuen Freundes.
Harry Belafonte war vergessen. Wie immer, wenn sich mein Alkoholpegel dem richtigen Level näherte, stellte sich Wohlbefinden ein. Mein neuer Kumpel bekam dann Gewissensbisse wegen seiner Frau, die er schon fast vergessen hatte. Seine Einladung, mit ihm in seine nahe gelegene Wohnung mitzukommen, habe ich dankend abgelehnt.
„Na dann mach's gut, Alter”, brummte er und trollte sich.
„Frohe Weihnachten!”, rief ich ihm nach, aber das hörte er nicht mehr.
Die Anonymität dieser Stadt ließ mich im doppelten Sinne frösteln, aber sie hatte auch etwas Gutes, besonders für einen Unsteten wie mich. Niemand stellte unangenehme Fragen, abgesehen von der Polizei. Solange ich halbwegs nüchtern war, achtete ich penibel darauf, dass niemand meine Not an meinem Äußeren ablesen konnte. Jedenfalls dachte ich, dass es so sei. Ich glaubte an mich, und redete mir ein, dass, solange ich mich selbst als einen guten, ehrlichen Mann sah, es die anderen auch tun würden.
Mit diesen Gedanken im Kopf verließ ich mein Wartehäuschen und begab mich auf die Suche nach einer geeigneten Schlafstelle. Während meiner letzten Streifzüge durch die Stadt war mir eine Baustelle aufgefallen, die meinen Kriterien für eine unentdeckte Übernachtung einigermaßen entsprach. Das Erdgeschoss eines Bürohauses wurde gerade zu einem Geschäftslokal umgebaut. An Wochenenden und Feiertagen war also keine Störung durch Bauarbeiter zu befürchten. Der Bauzaun war kein Hindernis, ich konnte ihn zur Seite schieben, ohne etwas zu zerstören. Das war mir wichtig, denn ich wollte erstens wiederkommen und zweitens nicht als Einbrecher gelten. Zum Glück fand ich im hinteren Teil einen Raum, der nicht sofort von der Straße einsehbar war. An der Rückwand befand sich ein Heizkörper, der etwas Wärme versprach. Schnell suchte ich ein paar Styroportafeln zur Kältedämmung. Zwei Tafeln dienten als Unterlage und eine als Kopfstütze am gerippten Heizkörper. Mein Parka wurde zur Decke und so döste ich leise vor mich hin. Der Kick vom Beaujolais ließ mich zufrieden von der weihnachtlichen Straßenbeleuchtung träumen. Alles wird gut!
Es muss gegen fünf Uhr früh gewesen sein, als ich vor Kälte zitternd wach wurde. Was war geschehen? Der Regen war in Schneefall übergegangen, so viel konnte ich bei einem Blick auf die Straße erkennen, aber warum war es so kalt? Ein Griff an den Heizkörper bestätigte eine Ahnung: abgedreht. Die Ölkrise hatte auch die Bauwirtschaft erreicht, sie hatten die Heizung nachts heruntergefahren. Ein tastender Griff an meinen Kopf erklärte mir auf drastische Weise, warum ich so fürchterlich fror. Auf meinen Haaren lag eine zentimeterhohe Schneehaube. Erst jetzt bemerkte ich, dass über meinem Kopf ein Fenster, eine Oberlichte, angebracht war. Leider ohne Verglasung. Das hatte ich in meinem Dusel übersehen. Aus dem Regen war Schneefall geworden und der Nordwind blies den Schnee auf meinen Kopf.
Ich musste raus hier, brauchte dringend Bewegung. In dieser fatalen Situation kam in mir ein eigenartiger Sarkasmus auf: Ich lachte hellauf. Nie zuvor hatte ich so vor Kälte gezittert. Ich konnte dieses Zittern willentlich nicht abstellen, es ging nicht.
In der ärgsten Not hat man die besten Ideen. So kam es, dass mir Antonia einfiel. Sie war Schwester Oberin in einem geistlich geführten Altersheim. Eigentlich hieß es „Senioren-Residenz“ und lag gleich neben der Weltkugel, einem denkmalartigen Gebilde vor der Nationalbank. Schwester Antonia war in meinen Kreisen dafür bekannt, dass man von ihr in größter Not etwas Bekleidung und Schuhe bekam. Aber niemals Geld.
Es war nie meine Sache gewesen, als Bettler durch die Lande zu ziehen, aber diesen Tag erklärte ich zur Ausnahme und stapfte bibbernd zur Pforte des Hauses. Ich musste mich erst etwas erwärmen, um vernünftig vorsprechen zu können, also machte ich im Vorraum ein paar Turnübungen, bevor ich läutete. Im Haus war geschäftiger Betrieb, da öffnete sich die Tür und eine betagte Dame im Pelzmantel erschien. Sie war eine Bewohnerin dieser Residenz, sah mich entgeistert an und rief: „Um Gottes Willen, wie sehen Sie denn aus. Was ist Ihnen passiert?” Ich grüßte erst höflich und erklärte dann, dass ich zu Schwester Antonia wolle, um ein Paar dringend benötigter Schuhe zu erbitten.
„Warten Sie hier, ich komme gleich wieder und bringe Ihnen, was sie brauchen.” Sagte es und verschwand so still, wie sie gekommen war. Nach ein paar Minuten kam sie mit einer Schachtel und entschuldigte sich: „Schwester Antonia ist krank, daher kann sie nicht kommen. Ich habe Ihnen Schuhe gebracht, sie sind von meinem verstorbenen Mann. Ich hoffe, sie passen. Es sind handgenähte Schuhe und sicher sehr haltbar.”
Größe - 45 - las ich, egal, ich schlüpfte hinein. Besser zu groß, als zu klein. Mit Zeitungspapier ausgestopft und schon war alles gut. „Danke vielmals, sie haben mir sehr geholfen, gnädige Frau”, bedankte ich mich herzlich.
Während ich meine Schuhe wechselte, hatte mich die elegante Dame beobachtet und musste zu dem Schluss gekommen sein, dass ich ein anständiger Mensch sei. Sie zog ein Kuvert aus ihrer Handtasche, schaute mich nochmals prüfend an und sagte: „Eigentlich wollte ich heute in die Pfarre Sankt Andrä gehen und dem Pfarrer eine Spende zur Unterstützung der Bedürftigen seiner Gemeinde geben, aber jetzt habe ich mich entschlossen, Ihnen zu helfen. Bitte sehr, nehmen Sie dieses Kuvert. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Auf Wiedersehen.”
Die Tür fiel mit einem leisen Klick ins Schloss und ich stand da, etwas verschämt, weil ich zum Bettler geworden war. Ich war der Dame sehr dankbar, nicht nur der Schuhe und des Kuverts wegen, nein, auch weil sie mit mir gesprochen hatte, wie mit einem der ihren.
Leise ging ich auf die menschenleere Straße. Erst jetzt wagte ich, das Kuvert zu öffnen und wäre fast aus den Schuhen gekippt. Ein Tausendschillingschein! Ein Vermögen in meiner Situation. Am liebsten wäre ich zurück zur alten Dame, um sie zu umarmen, aber ich wusste nicht mal ihren Namen.
„Was mach ich jetzt mit diesem unerwarteten Reichtum? Du brauchst dringend etwas zu essen. Und rasieren musst du dich, das ist wichtig. Also auf zum Bahnhof, wo sonst ist an so einem Feiertag geöffnet?”, sagte ich zu mir selbst. Ich eilte, so gut es mit den zu großen Schuhen ging, zum Hauptbahnhof. Erst Zigaretten kaufen, dachte ich, dann zum Rasierautomaten und in die Waschräume der Eisenbahner, das musste sein. Als Krönung stolzierte ich in die Restauration erster Klasse, in den Marmorsaal. Zu dieser frühen Zeit waren noch wenig Gäste da. Ich bestellte ohne Hast ein Bier, tat so, als müsste ich überlegen und nahm das Fiakergulasch mit Serviettenknödel. Sogar Stoffservietten gab es zum Gedeck. So kann es weitergehen, dachte ich. Zufrieden schaute ich den Gästen beim Essen zu. Innerlich jubelte ich: „Schaut her, ich bin jetzt auch ein Mensch, bin wieder einer von euch. Was heißt wieder, ich war immer einer von euch, ihr habt mich nur nicht gesehen!”
Kommentare (2)
@Rosi65
Ach ja … oder wie der Salzburger sagt: Jo mei, so ist (war) das Leben, einmal unten - einmal oben. Jetzt , in meinen alten Tagen, würde ich das nicht mehr aushalten. 😉
Liebe Grüße! Ferdinand
Lieber Eisenwein,
man möchte sich diese Lebenssituation eigentlich gar nicht näher vorstellen, in der ein Mensch, durch das Zusammenspiel von schicksalhaften Faktoren, in solch einen tiefen Strudel gerissen wird.
Ich denke, wer solch einen schrecklichen Lebensabschnitt übersteht und mit der Kraft des Willens überwindet, der ist wohl gegen alles gewappnet.
Hoffentlich hast Du Dein Ziel, diese "Sonneninsel" 🌞 zu finden, dann später doch noch erreicht.
Viele Grüße
Rosi65