Persönliche Zeit- und Personenbilder 1915 – 1981 Kapitel 13


Teil III

Resonanzen und Personenbilder


Soeben sind sie wieder fort, meine Amerikaner, im Grunde alte Freunde, die ich 44 Jahre nicht gesehen habe. Ihr Besuch war die für mich stärkste Reaktion auf die Polak-Story, die ich ihnen vor einem Jahr nach Santa Barbara geschickt hatte. Die erste Antwort, um die wichtigsten Resonanzen seitens nicht-oldenburgischer Bekanntschaften aufzuzählen, kam jedoch aus Ost-Berlin mit dem Ausdruck tiefster Befriedigung. Es sind immerhin Worte von grossem kritischen Geiste eines Philosophen von Rang und Namen (Rudolf Schottlaender), die man ruhig zitieren kann. „Wie überzeugend Sie die Schauermär von dem „Viehjuden“ entlarven! Das kann man nicht widerlegen und wird man behalten. Auch, dass Sie den Antisemiten nichts ersparen, aber unter ihnen differenzieren, zeugt für das Bemühen um Gerechtigkeit. Die 20 Seiten lesen sich so, als würden sie fortgesetzt werden. Haben Sie das vor?“

Ich verstehe den Appell und darf mich dem wohl nicht entziehen, umsomehr es mir so vorkommen muss, diese nun schon begonnenen Zeilen als Fortsetzung betrieben zu haben. So nehme ich mir als Konzept für einen Teil III die kleine Wirkungsgeschichte meiner Erzählung vor und fahre in eben dieser Weise fort, um zuletzt nochmal auf meine Freunde in Amerika zurückzukommen, was nun allerdings keine Kleinigkeit von Folgen meiner Polak-Geschichte ist.

Eine andere Antwort auf mein Manuskript, das ich gezielt an 5 mit Sicherheit daran interessierte Leute geschickt hatte, lautet: „...ich habe gestern, am Sonntag, nochmals in Ruhe gelesen, und es gibt mir doch sehr viel an Information, Gedankengut und Geisteshaltung. Wenn doch viel mehr so gedacht hätten... Dein Manuskript ist ein wichtiger Beitrag im Chor der Mahner, nicht zu vergessen, sich immer wieder zu erinnern. Es ist soviel Interessantes darin auch enthalten, über das wir noch sprechen müssen, wozu ich Fragen hätte. Sehr interessiert hat mich der P.-de-Mendelssohn-Besuch und besonders sein Zusatz über die Freundschaft mit Klaus Mann, der ja wirklich ein füher Mahner und Warner ersten Ranges war. Ich habe gerade seinen „Mephisto“ gelesen. Du auch schon?“

Schreiberin dieser Zeilen kennt sich in der Literatur aus, wie keine zweite in meiner Bekanntschaft. Sie lehrt in einem Goethe-Institut, ist befreundet mit Wolfgang Hildesheimer und Frau und reist oft zu Verwandten nach London, New York und Pakistan, von wo ihr Mann, ein promovierter Chemiker, herkommt. Mit diesem bekleidet sie nebenbei noch eine Tutorenstelle an einem berühmten privaten Schulinstitut in Süd-Deutschland.

Der Brief geht noch einige Seiten weiter, aber hierzu, dem Zitierten, heisst es dann noch: „L.H., ich bin sehr stolz darauf, dass ich das Manuskript besitzen darf, in Euch solchen Vorkämpfer für den Geist (gegen den Ungeist, gegen das Philistertum) als Freunde zu haben, und dazu noch in Oldenburg, dem ich mich doch so tief-heimatlich verbunden fühle, wie auch wieder beim Lesen bedenken musste.“

Besonders ansprechend ist mir dies „tief-heimatlich verbunden“. Es ist neben mir also auch sonst noch jemand, der gleichzeitig mit seiner Heimatliebe absolut weltbürgerlich gesonnen ist und keine Rassenschranken kennt. Dort eine, die danach gehandelt hat, aus einem Gefühl, von dem man sich fragt: Woher kommt das? Können das nur Einzelfälle sein?

Zu einem Teil ist es gewiss die Erziehung, die in meinem persönlichen Fall nun mal durchschlagend gewesen sein muss und die ich also meinem Elternhaus und zwei hervorragenden Lehrern meiner Schulzeit zu verdanken habe. Zum anderen ist es alsdann sicherlich der Bildungsgang, der nun ja wiederum von der Erziehung bzw. der Umwelt bedingt und ausgelöst ist. Der 3. Grund möchte in der schon banal klingenden Redensart liegen: „Gegensätze ziehen sich an.“ Es gibt da Gradunterschiede, wie weit mit den Gegensätzen gegangen wird. Dass es der geheime Wille der Natur ist, die nach Ausgleich strebt und auf Komplementierung drängt, scheint mir sicher. Rassenschranken kehren sich darum leicht und gerne ins Gegenteil um. So also können Menschen zu Freunden aus ganz anderen Lebenskreisen kommen, ähnlich wie Männer bei ihrem Ausblick nach der Weiblichkeit auf das „fremde Blut“ verfallen. So stehen „Mischehen“ eigentlich oben an. Sie sind Zeugnis des Bemühens oder der Lust und Freude daran, sich aus dem so reichen Angebot der Natur zu bedienen und einen Grund für die eigene Ergänzung, für die innere Bereicherung zu legen. Als Beispiel sollte ich ein paar sog. Mischehen vorführen. Mischehe ist eigentlich jede Mann-Weib-Verbindung rein physiologisch. Sogar die von Konvention getragene und verordnete, aber in ihrem Ungeist kulturell zweifellos retardierende alte Einrichtung des Verheiratet-werdens.

Die neue, freie, vorurteilsfreie Gattenwahl gerät vollends in das Kraftfeld der „Anziehung der Gegensätze“. Ich fühle mich selbst da einbezogen, indem ich mich als freiheitsliebender Friese vom Lande mit einer Tochter der Polizei aus der Stadt verheiratet sehe.

Wer sind nun unsere speziellen Freunde, wo leben sie und wie sind sie verheiratet? Das sind Fallstudien, denen ich einen besonderen Fall, der sich in persönlicher Distanz abspielte, voranschicken muss und der dennoch mein Leben in den entscheidenden Jahren begleitet hat. Es liegt nicht auf der Linie der üblichen Aussage, etwas habe einem das ganze Leben überschattet. Im Gegenteil! Ich meine die mir immer wieder Bewunderung und Vertrauen einflössende Figur des Philosophen Karl Jaspers.

Das hat gewiss einen Grund darin, dass er Landsmann war. Sogar in einem engeren Sinne als Neffe unseres großen Butjadinger Theodor Tantzen, dem Ministerpräsidenten von Oldenburg nach dem 1. Weltkrieg und langjährigem Reichstagsabgeordneten. Karl Jaspers besass die freisinnig liberale Haltung, philosophisch vertieft, seiner Familie in Oldenburg. Sobald mich die alma mater aufnahm, hatte ich es nicht schwer, nach Identität und Orientierung Ausschau zu halten. In meinen Aspirationen überhaupt ziemlich hochgesteckt als stud. rer. pol. et phil. in Berlin, kaufte ich mir gleich das 300 Seiten starke Werk von Karl Jaspers, Heidelberg: „Psychologie der Weltanschauungen“, 3. Auflage 1925. Allem voran las man gross: „Gertrud Jaspers gewidmet.“ Er, vom Typ eines Friesen, war also mit der Tochter eines Berliner Rabbiners verheiratet. Diese Tatsache war mir sozusagen ständig bewusst, anfangs und dann nochmal verstärkt im Kriege, als „Kalli“, so nannten ihn seine uns befreundeten Verwandten, seine Frau versteckt halten musste. Als ich in den Ruhestand ging, lebten die zwei, Kalli und die Flamme, in vollster geistiger Aktivität, miteinander in Basel. Sie sind mittlerweile hochbetagt gestorben. In Oldenburg hat man wohl eine Gesamtbibliograhpie erstellt, aber eine eigentliche Karl-Jaspers-Gesellschaft gibt es nur in Japan und in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Nun denn zu meinen lebenden, uns freundschaftlich verbundenen Kronzeugen einer Mischehe, die auf geistigem Fundament ruht, wie ich es mir seit Jaspers vorgestellt hatte.

Rudolf und Edith (Schottländer) haben mir 10 Jahre Lebensalter voraus, ich sage „Sie“ zu ihnen, obgleich wir uns schon 20 Jahre kennen. Sie sind beide echte Gross-Berliner. Erst Ost-, dann West- und jetzt wieder Ost-, mit fortlaufenden Publikationen in West- ! (Deutschland). Ihr dauernder Wohnungswechsel, so sehr er auch unter Druck von aussen geschehen ist, änderte nichts daran, dass Rudolf, der aktivere Teil der Ehe, jedesmal als Nonkonformist in Erscheinung trat. Im Osten war das immer klar und umso interessanter, als er dort geduldet wurde, während im Westen, seitens Kollegen und Behörden, Heimtücke im Spiel war. Edith konnte sich im Krieg für bevorzugt und besonders begehrt halten, weil ihre Eltern einen Metzgerladen hatten. Rudolf, mit einer ängstlich auf Distanz gehenden Christin verheiratet, war der Ärmsten einer, der sich in einer Laubenkolonie versteckt halten musste (wo er seinen Sophokles neu übersetzte). So kam, nach dem oft so geheimnisvollen Gesetz des Ausgleichs, die Edith zu ihrem Rudolf. Edith, die da darbte in ihrem Bildungshunger und die von Geist etwas erahnen mochte, auf der einen Seite, und Rudolf, der soviel abzugeben hatte, was an Gelehrsamkeit in ihm gediehen war, auf der anderen Seite. So tauschten sie aus, was sie zum Leben brauchten und so mühelos nicht haben konnten, schrecklich zu sagen: Wurst gegen Wissen, aber so war die Zeit. Der wechselseitigen Anziehung, diesem großen Phänomen, folgte die Ehe, aus der Kinder und nun schon Enkelkinder entsprangen. Im Grunde Gräzist, dampft Rudolf aber in allen Gassen und zu allen Tagungen in West und Ost, wo Philosophen sich treffen. Seine Veröffentlichungen übrall und Fernseh-Interviews erwecken den Eindruck, dass er von beiden deutschen Seiten als Paradefigur für Toleranz geduldet wird oder gar erwünscht ist.

Salman und Ingrid, das zweite hier vorzustellende Paar, wie fanden sich denn die? Salman besuchte neben der Technischen Universität in Darmstadt, ein Goethe-Institut. Die junge Lehrerin Ingrid aus Nord-Deutschland zeigte sich dem besten ihrer Schüler sehr geneigt. Unter seiner Haut, wie man sie in Indien trägt, erblickte sie einen enorm hellen Geist. Ingrid besass davon gleichermassen, wie auch hätte sie es anders erkennen können! Es klingelte auf beiden Seiten, und nach Salmans Promotion zum Doktor der Chemie heirateten sie, unter gewissen Widerständen in der Familie. Gegensätze, die sich angezogen hatten? Ich weiss es nun auch nicht mehr, wenn ich doch auch glaube sagen zu müssen: sie fühlten sich auf gleicher Wellenlänge. Vielleicht ist es trotzdem ein Gesetz des Ausgleichs: östlicher Geist und westlicher Geist – falls es sowas gibt. (Ich glaube es nicht, aber ein „etwas“ würde ich zugeben, und das kann genügen.) Der Gegensatz eines vermuteten äusseren In-Erscheinung-tretens von etwas Asien und etwas Europa bleibt hier höchst selten auf ein sehr „etwas nur“ beschränkt. Ein Junge ist da, ein famoser Bengel, der jetzt zur Schule kommt. Wir sind gespannt, was da in einer Atmosphäre von Welt, Reisen und Verkehr mit den großen Geistern der Zeit heranwächst.

Nun das Paar Nr. 3, Kurt und Elisabeth (Nathan), meine Amerikaner. Kennen gelernt habe ich sie schon vor 46 Jahren, sozusagen im Anschluss an meine Schuljahre mit den Polaks. Das war in Kiel, am „Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr“. Elisabeth kam jeden Sonntag von Hamburg, wo sie, älter als er, ihren Kurt in einem Exportfirmenbüro kennen gelernt hatte. Kurt war da ein kleiner Volontär gewesen, als Elisabeth schon irgendwie als Auslandskorrepondentin dort thronte. Kurt hatte es, erst eine kleine Praxis absolvierend, auf „Seeverkehr“ abgesehen, er war Mitteldeutscher aus Magdeburg, und Elisabeth, von echtem Hamburger Geblüt, hatte das richtige Gespür: ein zweiter Albert Ballin ist im Kommen. Heute haben wir die Beweise, dass Elisabeth sich nicht getäuscht hat. Es nahm nur einen ganz anderen Weg, als Kurt und Elisabeth sich das gedacht haben. Über die 40 Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, weil mein sensibler Kurt dies Deutschland mied, trug er seine Fracht an geistigem Kapital rund um die Welt. Washington setzte ihn an allen Brennpunkten der überseeischen Wirtschaft ein, wo die amerikanische Entwicklungshilfe der Absicherung einer vernunftgemässen Verwendung der Dollarmillionen bedurfte. In Ostasien, von Korea bis Djakarta, in Brasilien und Columbien, um die Hauptpunkte aufzuzählen, wohin die US-Regierung ihn mitsamt seiner Familie ( 3 Töchter ) schickte. So musste Kurt unauffällig als Wirtschaftsberater tätig sein und Elisabeth eine gewichtige Rolle im diplomatischen Korps spielen, Kurts Mission unterstützend.

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