NISCHNI NOWGOROD
NISCHNI NOWGOROD
Herby, eigentlich Herbert, war mir sofort aufgefallen. Er trug nicht nur einen Doppelnamen sondern auch einen Pullover mit prächtigem Hirschmotiv. Da das Wort Hirsch ein Bestandteil seines Nachnamens war, fand er das wohl witzig. Doch es passte gut zu ihm, denn er war ein lustiger Typ, dem der berühmten Schalk immer im Nacken saß.
Er schwärmte oft von seinen Russlandreisen, die ihn bis nach Sibirien führten, und unterhielt sich manchmal mit Natalia, eine frühere russische Eisenbahningenieurin, in ihrer Muttersprache.
Wir nahmen an einem Pilotprojekt des Landes NRW/EU teil, um später nach erfolgreichem Abschluss, als Umweltkaufleute in eine neue berufliche Zukunftsvision zu starten.
Städtische Ämter und Entsorgungsbetriebe würden uns sicher bald händeringend suchen, dachten wir. Auch unser Technologie-Dozent schien von diesem Projekt ganz besonders überzeugt zu sein, denn sein graues "Hässliches Entlein" war mit einer informativen Aufschrift versehen. "Der höchste Berg der Welt wird einmal der Müllberg sein," durfte man dort lesen. Leider konnten wir uns das Lachen nie verkneifen, wenn wir ihn zusammen mit seinem uralte Gefährt sahen.
Die Unterrichtsfächer und alle Exkursionen waren (fast) alle sehr interessant. Bei einer Umweltdemo in Essen standen wir natürlich mutig in der vordersten Reihe. Dabei fiel Herby natürlich wie immer aus dem Rahmen, da er ganz plötzlich mitten auf der breiten Straßenkreuzung stand und energisch versuchte den gestauten Verkehr zu regeln. Zu unserer Überraschung folgten die Autofahrer tatsächlich brav seinen Anweisungen. Als er keine Lust mehr hatte, vergaß er seine wichtige Aufgabe aber sofort wieder und kehrte schnell zu unser lachenden Gruppe zurück.
In der Vorweihnachtszeit, kurz vor der unbeliebten Chemiestunde, überraschte uns Herby mit einem ganz besonderen Geschenk. Er schwenkte ein Papier und verlangte lautstark unsere volle Aufmerksamkeit. Es war eine Einladung der Stadt Nischni Nowgorod! Natalia griff sofort nach dem Schreiben und übersetzte es für uns in deutscher Sprache. Die gesamte Klasse, plus zwei Dozenten, wurde für eine Woche im kommenden Februar eingeladen. Der kostenlose Transfer nach Moskau sollte mit einer russischen Fluggesellschaft erfolgen. Weiterhin standen ein Empfang im Rathaus, Stadt- und Wolgarundfahrt auf dem Programm.
Der Jubel der danach ausbrach fand gar kein Ende mehr. Ja, Herby war jetzt der Größte von uns, denn er hatte vorher mit dem dortigen Bürgermeister, den er persönlich kannte, korrespondiert. Was für eine Aufregung!
Doch bis dahin waren es nur noch sechs Wochen, und es gab noch viel zu planen und zu organisieren. Visa und viele Reisepässe mussten noch beantragt werden. Herby nahm den anderen etwas Arbeit ab, denn er sammelte immer sorgfältig die einzeln mitgebrachten Reisepässe ein, und fuhr sofort danach, zwecks Visaabwicklung nach Bonn.
Vier von unseren Alleinerziehenden benötigten dringend Babysitter für ihre Kinder, und das war gar nicht so einfach. Elisabeth weinte, weil sie eine Todesangst vor dem Flug hatte. Dagegen liefen Natalia Ströme von Freudentränen über ihre Wangen. Nach langer Zeit würde sie in Moskau Familie und Freunde wieder in die Arme schließen können. Sie wollte zu diesem Anlass noch viele schöne Geschenke kaufen. Der Klassenjüngste erzählte strahlend von seiner Omi , die ihm ihr erspartes Geld geschenkt hatte, damit er sich einen neuen Anzug kaufen konnte. Schließlich sollte ihr Enkel "vernünftig" gekleidet zum Bürgermeisterempfang im Rathaus erscheinen. Für diese Exkursion erhielten wir auch EU- Reiseschecks, die für Notfälle vorgesehen waren.
Ich hatte ein ganz mulmiges Gefühl bei der Sache, sagte aber nichts, um den anderen die Freude nicht zu verderben. Ständig erschienen grässliche Bilder in meinem Kopf. Einmal saßen wir alle frierend in einem Zug, der uns vom Flughafen in die die 420km entfernte Stadt fuhr. Im Februar sind dort Temperaturen um -15 Grad normal. Das war mir einfach viel zu kalt! Ich sah auch das Wasser der Wolga, halb zugefroren vor mir, auf deren Oberfläche große Eisschollen trieben. Am meisten Sorge bereitete mir aber die dortige Unterkunft. Hatte Herby nicht etwas von einem "Haus des olympischen Sportes" gesagt? Na, das war doch bestimmt kein Hotel. Vielleicht gab es dort nur einen großen Gemeinschaftsschlafraum, und man musste sich vielleicht zwei Duschen und WC`s mit 20 Personen teilen. Ach ja, wir sollten doch alle Sagrotan mitnehmen, fiel mir wieder dazu ein. Mein Unmut wurde immer größer. Prompt erschien das nächste Bild in meinem Kopf. Hier fand ich mich auf dem harten Fußboden einer Sporthalle wieder. Neben mir lag doch tatsächlich der Technologielehrer, eingerollt in einem alten Schlafsack und schnarchte mir laut ins Ohr. Auch das noch, jetzt reichte es mir! Da wollte ich unter gar keinen Umständen hinfahren. NJET!
Doch dann kam alles ganz anders. Eine Woche vor Reiseantritt erschien Herby nicht mehr zum Unterricht. Wo war der? Alle versuchten Kontaktaufnahmen endeten erfolglos. Das Misstrauen gegen ihn wurde hellwach.
Jetzt wurde die Visastelle und der Düsseldorfer Flughafen kontaktiert, und Natalia führte Ferngespräche mit der russischen Stadt. Doch niemand wusste etwas, weder von beantragten Visas, hinterlegten Flugtickets, geschweige denn von einer Einladung. Auch Herbys Person war gänzlich unbekannt.
Hier hatte er sich offensichtlich einen ganz bösen Scherz mit uns erlaubt. Wir waren fassungslos.
Dann brach die helle Wut aus. Unser Seminarleiter beschwor uns eindringlich, nachdem von einem psychischen Problem die Rede war, diesen Mann nicht körperlich zu attackieren, falls er jemals wieder auftauchen sollte. Doch Herby wurde nicht gelyncht, denn zu seinem Glück ließ er sich nie wieder bei uns blicken.
Alles in allem war es für mich aber ein wunderschönes Jahr, an das ich immer wieder gerne zurückdenke.
Leider konnte das Müllproblem nicht beseitigt werden, denn die Zeit war wohl einfach noch nicht reif für Umweltkaufleute.
Rosi65
NS. Alle Namen wurden von mir geändert.
Kommentare (12)
Die Babuschkas und ich bedanken sich für die schönen Herzchen bei...
Roxanna, Syrdal, Bücherwurm, Muscari und alisika.
Viele Grüße
Rosi65
Bedauern habe ich gespürt beim Lesen deiner Geschichte, liebe Rosi, dass ihr diese Stadt mit dem wundervollen Namen Nischni Nowgorod nicht besuchen konntet. Schon allein wie der Name klingt, ihr hättet sicher wunderbares dort erleben können. Dein Bauch hat dir allerdings gesagt, dass etwas nicht stimmt. Das Schlitzohr Herby hat euch aber eine tolle Zeit beschert, die dir auch noch Stoff für diese Geschichte gegeben hat. Es ist eine zwiespältige Sache gewesen mit ihm, die sozusagen Leben in die Bude, aber auch eine Enttäuschung gebracht hat, wie konnte man so sein! Solche schlitzohrigen Betrüger hat es schon immer gegeben und meistens brennen sie mit Geld durch. Das nun hat er nicht getan. Vielleicht sollte man in seinem Fall Milde walten lassen 😉.
Herzlichen Gruß
Brigitte
Liebe Roxanna,
ja, diese alte Handelsstadt, mit ihren vielen Kulturangeboten und den tollen Sehenswürdigkeiten, ist bestimmt eine Reise wert! Auch den Namen finde ich gut. Er klingt für mich tatsächlich wie Musik.(Könnte man vielleicht sogar auf einer Blockflöte spielen 😂).
Du hast es mit Herby auch richtig eingeschätzt, denn da er ja die Rolle des Klassenclowns übernahm, hatten wir natürlich auch (am Anfang) viel Spaß mit ihm. Doch wer freiwillig diese Rolle spielt, benötigt als Ursache wahrscheinlich viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Irgendein Problem muss er wohl gehabt haben.
Über Dein Interesse habe ich mich sehr gefreut.
Herzlichen Gruß
Rosi65
Liebe Rosi,
ich kann sehr gut verstehen, warum du diese Geschichte nicht vergessen kannst, obwohl es schon ziemlich lange her geschehen war. Ich glaube, manches Verhalten von anderen Menschen macht einfach ganz verwirrt: Wie konnte man nun so etwas...?
Und selbst, wenn man persönlich nicht davon betroffen ist. Ich muss sagen, dass ich nun seit drei Tagen mit einer Sache nicht zurecht kommen kann. Da habe ich nämlich erfahren, dass eine junge Dame aus der Nachbarschaft (36 Jahre alt) ihren Ehemann, und ihre zwei Kinder (12 und 14 Jahre alt) ganz plötzlich für einen anderen Mann verlassen hat, und ist ausgereist. Klar konnte sie sich gelangweilt fühlen, klar ist eine neue Liebe eine starke Kraft; warum hat sie aber die Kinder nicht geschont, sie eventuell langsam darauf vorbereitet? Und wie kann sie jetzt glücklich sein, wo sie wissen muss, wie undglücklich sie sind?
Na ja. Ein weiblicher Herbert ist sie wohl.
Mit lieben Grüßen
Christine
@Christine62laechel
Ich finde es auch ziemlich herzlos von einer Mutter, liebe Christine, ihre Kinder zurückzulassen für ein neues Glück, möchte aber zu bedenken geben, dass Männer das sehr viel öfter machen und man sich scheinbar oder anscheinend nicht ganz so sehr darüber aufregt, wie bei einer Frau. Warum ist das wohl so? Ist es moralisch verwerflicher, wenn eine Mutter ihre Kinder verlässt als wenn es ein Vater tut?
Herzliche Grüße
Brigitte
@Roxanna
Ja, das stimmt schon, liebe Brigitte, dass auch die Männer ihre Kinder zurücklassen, und dass es wohl wirklich öfter passiert. Einerseits hängt es vielleicht damit zusammen, dass ein Gericht bei der Scheidung immer noch eher bei der Mutter die Kinder bleiben lässt, als bei dem Vater. Andererseits damit, dass es nach wie vor mehr Frauen als Männer gibt, die sich für die Kinder auch wirklich kümmern, sie pflegen, das Essen für sie zubereiten, und so. Und das erzeugt wohl auch diese besondere Nähe...
Nicht in allen Familien, natürlich. Manches weiß ich aus eigener Erfahrung, es gibt auch Beispiele in Literatur und Film ("Anna Karenina", "Kramer vs. Kramer"). Was meine junge Bekannte aus der Nachbarschaft anbetrifft, da fürchte ich eines: Dass ihre "neue Liebe" ein so interessanter Mann sein muss, dass er sich lange mit ihr nur nicht begnügen können wird. Solche Typen wollen stets Begeisterung in den Augen der Frauen. Nicht nur der einen Frau...
Mit lieben Grüßen
Christine
Liebe Christine,
,
man könnte in beiden Fällen vermuten, dass es sich hier um egoistische, gefühlslose Menschen ohne Verantwortungsbewusstsein und Gewissen handelt. Doch der "weibliche Herbert" muss ja gewisse Gefühle gespürt haben, denn sonst wäre diese neue Beziehung niemals entstanden.
Es muss noch einen ganz anderen Grund dafür geben, den wir beide aber nicht kennen.
Herzlichen Dank für Deinen Kommentar
Liebe Grüße
Rosi65
Die Geschichte zeigt erneut, dass man eigentlich jedem Menschen zunächst einmal misstrauen sollte. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, denn ohne Vertrauen ist das Leben auf unserer Erde schwierig.
Dein Gefühl hat dich nicht getäuscht, war nur nicht greifbar.
Auch mich würde interessieren, ob ihr eure Pässe wieder zurückerhalten habt.
Gern gelesen.
Gitti
Liebe Gitti,
obwohl es ja schon "ein paar Tage" her ist, erinnere ich mich noch sehr gut an dieses turbulente Jahr.
Da wir uns damals auch privat getroffen haben, war die Kameradschaft, ja Freundschaft, in dieser Gemeinschaft einfach bemerkenswert gut.
Deshalb fand ich Herbys Verhalten auch ganz besonders gemein.
Etwas hatte mich damals doch stutzig gemacht, denn Herby hatte mich nie nach meinem Reisepass gefragt. Das muss er bei seinem Planablauf wohl vergessen haben. Deine Frage nach den verbliebenden Reisepässe habe ich schon unten (siehe Globetrotter) versucht zu beantworten
Danke für Deine Zeilen.
Herzliche Grüße
Rosi
In welcher Zeit spielt die Geschichte? Und was ist denn aus den eingesammelten Reisepässen geworden? Kamen die mit Visum zurück?
Liebe Globetrotter,
habe jetzt mal auf dem Abschlusszeugnis nachgesehen. Dieser Weiterbildungslehrgang "Fachkaufmann/frau für Wertstoffe und Recycling" fand vom Sept.1996 - August 1997 statt.
Da ich Herby meinen eigenen Reisepass nie ausgehändigt hatte, bekam ich nur am Rande mit was mit den anderen Pässen geschah. Ich nehme an, dass er eine Legitimation unserer Schule besaß, um ein Gruppenvisa zu beantragen. Wie sich später herausstellte, ist er aber nie zur Visastelle gefahren. Da aber niemand in der Klasse eine Anzeige bei der Polizei erstattet hat, werden die Besitzer sie bestimmt zurückbekommen haben.
Es war uns aber allen ein Rätsel, was Herby mit seiner Täuscherei und Lügerei bezweckte, denn er hatte ja keinen Vorteil davon. Vielleicht wollte er nur einmal im Mittelpunkt stehen? Viele der Mitschüler hatten ihr Geld ausgegeben, um sich dicke Wintersachen für die Fahrt zu kaufen. Die arme Natalia tat mir besonders leid, denn sie blieb auf den vielen gekauften Geschenken für ihre Freunde sitzen. Es war eine unglaublich gemeine Aktion von ihm, seine Schulkameraden so zu belügen und zu täuschen.
Danke für Deinen Kommentar.
Viele Grüße
Rosi65
Auch über die beiden 💖chen von CharlotteSusanne und Liliom habe ich mich sehr gefreut.😊
Herzlichen Gruß
Rosi65