Mustafas Aufsätzchen

Autor: ehemaliges Mitglied

Stephanie Langen-Vorberg:


Mustafas Aufsätzchen




Na gut, er, der Kleine, zeigt auf, zwar etwas verhalten... - 'Ja, das erste Mal!', denkt Frau P. erfreut, aber auch ein wenig besorgt, 'will er, wie Jutta neben ihm, auch die Hausaufgabe vorlesen?'

Mustafa, neun Jahre, ist vor fast drei Jahren aus dem Libanon gekommen; mit großen Bedenken ist er in die zweite Klasse gekommen, um seiner körperlichen Entwicklung gerecht zu werden. Seine Deutschkenntnisse waren null, als er hier an der Grundschule angemeldet wurde.

Frau P. nimmt ihn dran.
Er liest vor, eine Erzählung zu der Bildergeschichte, die wohl jeder Lehrer für Deutsch, fast jede Mutter...., egal an welcher Schulform, kennt: "Mein kleiner Freund" von dem klugen Zeichner Hans-Jürgen Press, aus: "Jakob und die Fahrradpanne."

"Also, Mustafa. Dann lies du jetzt mal vor!"

Er liest (in deutlichem Ruhr-Slang): "Jak‘b fät den Farat. Tom fät auch Farat. Jakob Farat ist kapputt. Ich hab ne Idee: Solln wia nomal baun?"

Frau P. ist in die dritte Reihe gegangen und schaut ihm über die Schulter. Im Heft ist das Arbeitsblatt eingeklebt, links die zwei lustigen Bilder von Press, rechts der Freiraum mit den Doppellinien für die Hausaufgabe. Sie kann nicht erkennen, was Mustafa da gelesen hat.

Gott sei Dank! Leonie meldet sich und bittet: "Kann Mustafa den Aufsatz noch mal vorlesen? Ich habe nicht alles verstanden. Er hat auch so schnell gelesen."

Ein anderes Mädchen sorgt sich mit: "Das war schon gut, finde ich, weil er ja noch nie vorgelesen hat. Aber wenn du nochmals liest und wir schön ruhig sind, klappt es noch mal so gut!"

Aus dem Nachbarklasse taucht, ohne anzuklopfen, wieder mal Wolfgang auf, ein süßer Clown. "Ich heiße Wölfchen. Ich brauch' Kreide. Zum Fressen." "Willste dich wieder selber anmalen? Damitte größer wirkst?", fragt Yvonne, die Tafeldienst hat. Und die Lehrerin: "Sag' mal höflich ‚bitte‘ und verlaß die Klasse schnell! Ja!" Wölfchen wartet. "Was ist denn?" "Ich warte, dass Sie auch bitte sagen, bitte!"

Mustafa strahlt noch immer. Leonie, die "Klassenmama", die sich durchsetzen kann mit ihrem Körpergewicht, die ihn auch auf dem Schulhof beschützt vor den deutschen Jungen, strahlt zurück. Frau P. freut sich über ein Stückchen Multikulti und lacht unsichtbar über Political Correctness...

"Also, Mustafa, du bist nochmals dran!" sagt die Deutschlehrerin. Nun hat sie das Arbeitsblatt vor sich

und vergleicht Wort für Wort mit dem Gelesenen, was Mustafa geschrieben hat; sie wundert sich, es ist derselbe Text, wie er ihn auch beim erstenmal gelesen hat. Jetzt spricht er sogar "Farrad" langsamer aus. Aber seine Geschichte - wo steht sie? Er kann sie nicht erfunden haben beim Lesen. Und er kann doch nicht vortäuschen und so tun, als lese er sie ab! Aber die Frau Lehrerin kann auch nicht dem Text folgen, der auf dem Blatt rechts steht. Sie lobt Mustafa nach dem Vorlesen und bittet ihn, in der Pause, für die gerade der Gong geht, eben dazubleiben. "Weil wir noch ein bißchen was verbessern können an deinem Text."

Und wieder sitzt die Lehrerin nun, hat das Arbeitblatt vor sich und liest mit den Augen und versteht nix:

Baun

soln wir nomal

hab eine ide

ist kaput ich

jakobs faraht



Fat auch Farht

Farat. Tom

jakob Fat den



Sie streicht sich die Stirn, schaut auf. "Mustafa, setz' dich bitte mal neben mich. Und zeig mir mit dem Finger, wie du den Text liest, dann wird die Betonung noch besser." Da setzt er seinen kleinen, sauberen Zeigefinger unten links an und fährt nach rechts, in der untersten Zeile, dann eins höher, wieder nach ganz links und genau nach rechts, dann in die nächsthöhere Zeile. Und auf einmal versteht die Deutschlehrerin es, sie hört atemlos zu:

jakob Fat den

Farat. Tom

Fat auch Farht

jakobs faraht

ist kaput ich

hab eine ide

soln wir nomal

Baun -



Aber, ja! Das hat ja Hand und Fuß! Frau P. kapiert, dass Mustafa den kleinen Text wie eine arabische Schriftseite von unten nach oben und von links nach rechts geschrieben hat. Da hat ihm wohl seine Schwester Inci geholfen, die sie häufig bei Mustafa auf dem Schulhof sieht, weil sie schon zwei Jahre länger in Deutschland ist. 'Aber Quatsch, dann schreibt sie doch bestimmt richtig! Die muß es doch schon können!' Oder hat seine Mutter, die Frau P. noch nicht kennengelernt hat, geholfen? Die Lehrerin atmet tief durch und stellt sich eine Frage, wie schon oft: Warum werden Familien quer durch die halbe Welt gehetzt? Verdammte Verfolgungen ethnischer oder religiöser Minderheiten! Was können wir den Kindern bieten, um ihnen annähernd gleiche Chancen zu bieten wie deutschsprachigen - die ganz selbstverständlich von oben nach unten und von links nach rechts schreiben: eben deutsch! Und nicht nur beim Fernsehen alle kulturellen Vorteile haben...

Sie atmet tief durch und streicht Mustafa über den schwarzen Schopf: "Da können wir noch etwas dran verbessern. Aber jetzt lauf erst mal auf den Schulhof. Das hast du gut gemacht, prima! Halt - noch eben: Kommt deine Mutter nächsten Dienstag zum Sprechtag?" Sie weiß nicht, wie sie seine Kopfbewegung verstehen soll, nachdem er abgezischt ist.

Im Lehrerzimmer kann keiner den Text lesen, bis Frau P. mit dem Finger drauf zeigt und vorliest: "Jakob fährt das Fahrrad..."

"Das ist ja wie Arabisch!"

"Dann müßte er auch von rechts nach links schreiben; das hat er aber richtig wie deutsch drauf!" "Erfolg von einem halben Schuljahr! Er schreibt von links nach rechts!"

"Da kocht ja der Ruhrpott - und die Lehrer lachn sich kaputt!" "Ratatouille oder was? Wohl libanesisch-muslimisch, aber nicht deutsch! Oder?"
"Ach? Wie lange ist der Junge schon hier, sagst du, Maria?" – „Wahnsinn! Nich mal Schriftdeusch kapiert!“
„Was machste denn jetzt damit?"
"Mit dem Unglückswurm?“
„Ich werde mal den Neuen dransetzen!" - "Meinen Referendar etwa? Meinste den?"
"Ja, der hat Arabisch in der VHS belegt. Oder war's Türkisch?"
"Ach! Weißte selber nicht mehr?"
"Den schlepp ich auf jeden Fall mit zum Elternsprechtag, wenn du mir den für Mittwochnachmittag ausleihst."

"Ja, wo bleibt da denn deine Multikulti-Theorie?"

"Yeah! Es soll ja nicht Theorie bleiben. Außerdem hilft dir vielleicht die Idee, dass wir Glück hatten, dass wir nicht in Europa quer durch die Länder gehetzt wurden, wegen eines schieren Arbeitsplatzes.“

„Was soll das denn heißen?"

„Ja, kannst du denn etwas dafür, persönlich, mein ich, dass wir hier sitzen und die Fremden nach den Begierden des Kapitals rumgescheucht werden?"

„Mein Gott, die alte Achtundsechzigerin! – Wirst du nie erwachsen?“

Lachend, ein wenig zittrig: „Von denen es mehr gibt, als die Presse es glauben machen will. Die arbeiten, statt zu quatschen.“

„Dann viel Glück, mit dem Projekt 'gesamteuropäische Fahrradreparatur'!“

"Da machen wir alle auf Tandem!"

"Kannze den für näcksten PISA-Idi-Test anmelden?!"

"Nänä, keine Perlen für die teuren Obersäue! Die kriegen nix in den Futtertrog!"

"Has recht, altet Schulhaus - du! - Feiaamd für gezz!"

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Kommentare (4)

hafel Da haben die Schulpädagogen noch eine Menge Arbeit vor sich
joan viele Menschen ganz still,zerreden nicht alles und enken nach.
Karl Hallo Hubertine,
 

ich danke sehr für diese Geschichte. Sie hat mich nachdenklich gemacht,


Karl
joana50 oh, ich finde diese Geschichte einfach wunderschön!!!
Ich habe zuerst herzlich gelacht, erst dann ist mir der tiefe Sinn un die wunderbare
Metamorphose klar geworden.
Welch ein flexibles Menschenkind, völlig logisch und verständlich.
Joana

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