Misteln und Maroni



Mein Nachbar Kurt war Maronibrater. Manchmal besuchte ich ihn bei seinem Stand am Alten Markt, wärmte mir an seinem Ofen die Hände und vertrieb mir die Zeit bei ihm. Wir kannten uns seit ein paar Monaten, er bewohnte die zweite Garconniere im Souterrain neben mir. Ich wohnte allein – er auch. Es war Adventszeit, zwei Wochen vor Weihnachten. Ich war arbeitslos, selbstverschuldet, weil ich wieder einmal über die Stränge geschlagen hatte. Der Alkohol hatte mich damals fest im Griff, aber das ist eine andere Geschichte. Es soll auch keine Ausrede sein. 
 
Ich war chronisch pleite und überlegte krampfhaft, wie ich meine Situation verbessern könnte – da hörte ich im Radio zufällig eine Geschichte über die mystische Kraft von Misteln. Sie sollen Glück bringen und gegen viele Krankheiten gut sein. Man sprach von wiedererwachtem Brauchtum und dass die Leute, jetzt vor Weihnachten, ganz verrückt seien auf diese Mistelbüsche und dafür gutes Geld zahlen würden. Das hörte sich wie ein Konzept an, mein Loch in der Kasse zu stopfen. Das ist die Idee! Das ist meine Chance, sagte ich mir, zog meine dicksten Stiefel an und begab mich auf den Weg. Ich wohnte am Stadtrand von Salzburg; hinter meinem Haus lagen die abgeernteten Felder, weiter hinten begann der Wald, dort, so vermutete ich, könnte ich Misteln finden. 

Der Himmel war schwer, selbst die kürzesten Wege schienen sich in einem dicken Nebel zu verlieren. Der frische Schnee machte mich blind. Der Weg wird immer schwieriger und verschneiter. Von dem früheren fröhlichen Knirschen unter den Stiefeln war nichts mehr zu hören, im Gegenteil, es wurde stiller und kälter, der Schnee staubte jetzt weg wie weißes Pulver. Die Vögel sind verstummt, die Wipfel der Bäume rühren sich kaum. Am Rande eines verlassenen Hofes stehen vereinzelt alte Obstbäume. Als ich näher kam, stiegen zwei Krähen auf, sonst bewegt sich nichts. Die Streuobstwiese war mit einem morschen Holzzaun eingegrenzt, etwas außerhalb stand ein verfallenes Steinhaus. Jede Menge Gerümpel dümpelt rund um einen halb zugefrorenen Löschteich. Zunächst interessierte ich mich die herrenlos herumliegenden Geräte – könnte ja sein, dass man daraus Geld machen könnte – dabei sah ich hinter das alte Haus, das wahrscheinlich einmal eine Mühle war und sah einen knorrigen, vom Wind zerzausten, wilden Apfelbaum der über und über von Misteln überwuchert war. Welche Freude. Der Baum hatte seine eigenen Blätter schon lange abgeworfen, vereinzelt hingen noch einzelne Äpfel im Geäst, ansonsten leuchteten zwischen den immergrünen Mistelblättern nur ihre weißen Früchte, die wie Perlen aussahen. 

Geschafft, dachte ich, holte mein Taschenmesser aus dem Rucksack und begann mit der Ernte. Mit klammen Fingern ergriff ich eine Zaunlatte und schlug so auch die letzten Äpfel von meinem Glücksbaum. Mein Sack war prall gefüllt mit den Glücksbringern und zusätzlicher einer Wegzehrung in Form von tiefroten Äpfeln. Auf geht’s auf den Markt, sagte ich mir und stapfte durch den Schnee Richtung Stadt. 
Bevor ich zum Grünmarkt ging, um meine Misteln zu verkaufen, wollte ich Kurt an seinem Maronistand besuchen. Der Grund ist simpel – bei ihm ist es warm und hin und wieder nasche ich bei seiner Speckjause mit. Kurt stammt aus dem steirischen Almenland, wenn er aus einem Heimaturlaub zurückkehrt, schleppt er immer Unmengen von Schwarzgeselchtem mit. Er weiß um meine finanzielle Misere und teilt gerne mit mir. 
 Es ist nicht viel los am Maronistand. Kurt steht mit seinem dicken Schladminger-Lodenrock hinter dem Ofen, die Ohrenschützer lugen unter dem Steirerhut hervor. Er werkelt an seinem Ofen herum, schürt die nicht und nicht richtig brennen wollende Holzkohle. Er flucht leise vor sich hin.
„Was ist los?“, frage ich. „Gibt's ein Problem?“
„Kann man wohl sagen. Die verdammte Kohle ist feucht geworden und raucht mehr als sie brennt.“ Er erklärt mir lang und breit, warum das so ist und was er zu tun gedenkt. Ich zeige mich interessiert und eh ich mich versehe, krieg ich einen Schnellkurs im Maronibraten verpasst. Er scheint beruhigt, die Kohle hat er vergessen, aber ganz der Alte ist er nicht.

„Eigentlich ist das ein schöner Job“, sage ich. „Immer schön warm.“ Kurt antwortet nicht, er grantelt weiter, spricht von Problemen mit seiner Schwester, die einen Christbaumverkauf am Friedhof hat und dass sie überraschend krank geworden sei und er sie vertreten soll.
„Kann ich dir helfen?“, frage ich ohne Überzeugung.
Es schien, als hätte er genau auf diese Frage gewartet. 
„In der Tat, du könntest mir helfen“, sagt er, gar nicht mehr grantig.
„Und wie?“, frage ich. 
„Ich brauche einen Maronibrater!“
„Echt? Du glaubst, ich kann das?“
„Habe ich diernicht vorher gezeigt, wie das geht?“
„Ja schon, aber …“
„Nix aber! Willst du oder willst du nicht?“
„Natürlich will ich. Für wie lange?“
„Vorerst bis Weihnachten oder besser noch bis Silvester, auf jeden Fall solange, bis meine Schwester wieder gesund ist.“
Ich bin plötzlich hellwach. Das ist die Lösung. Wenigstens für dieses Jahr. Weihnachten ist gerettet. Ich frage zögernd meinen liebsten Nachbarn. „Wie viel?” Und reibe Daumen und Zeigefinger.
„Zweihundert Schilling am Tag und Nnaturalien von meinem Bauernhof im Steirischen. Ich bringe dir ein halbes Schwein zu Weihnachten. Bist du einverstanden?“
„Na ja, eine halbe Sau fällt ja dauernd um, hast du keine ganze?“
Kurt braucht einen Moment, dann hat er verstanden und wir brüllen los. 
 


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Kommentare (7)

Maritt

Hallo Eisenwein, ja auch ich bedanke mich für die schöne Geschichte. Als Leser glaubt man ja meistens, dass sich alles genau so abgespielt hat, wie es geschrieben steht, aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ein Autor auch gerne etwas fabuliert. 
Und so frage ich Dich, wie bist Du an die Misteln heran gekommen. Ich hatte auch mal die Absicht welche zu holen, scheiterte jedoch an den notwendigen Kletterkünsten bis hoch ins Geäst. 😉
Wünsche Dir eine schöne Adventszeit.
Maritt

Eisenwein

@Maritt
Was wäre die Literatur ohne die Fabulierer. Es hat halt jeder seine eigene Wahrnehmung- das ist ja das, was die vielen Geschichten unterscheidet …
Du hast Recht, wenn du sagst, die Misteln wachsen meistens so hoch oben in unerreichbaren Geäst. Ich hatte das Glück, dass die alte Mühle und der Zaun mir als Aufstiegshilfe dienten und außerdem war ich damals um ein gutes Stück jünger und kletterfreudiger als heute. 
Liebe Grüße und eine geruhsame Adventszeit! 
Ferdinand🌲

Maritt

@Eisenwein  
Danke für die Antwort, ich hoffte auf genau eine solche. 😉

Muscari

Lieber Ferdinand,

wie Du weißt, lese ich Deine Geschichten immer sehr gerne.

Und nun diese vom Maroni-Stand, an dem ich zu dieser Jahreszeit in unserer Stadt auch nie vorbeigehe ohne ein paar Maronis zu kaufen.
Letztens noch kaufte ich mir einige, ließ mich in der Nähe auf einer Bank in der Sonne nieder, um sie zu genießen.
Tja, und die Misteln erinnern mich an die Bräuche in England.

Herrlich aber dann das halbe Schwein zu Weihnachten, das natürlich umfallen muss... 😄

Danke Dir und liebe Grüße von
Andrea


 

Eisenwein

@Muscari
Hallo Andrea! Mir ergeht es ähnlich mit den Maronis, ich verwende sie als Fingerwärmer in der Hosentasche. 😊 Liebe Grüße! 

indeed

Moin Eisenwein!

Das ist ja schon fast eine Weihnachtsgeschichte, die ich sehr gern gelesen habe. 
Sicherlich hast du viele negative Erfahrungen in deinen Zeiten erfahren müssen, aber die guten und positiven ragen deshalb umso höher heraus.

In wenigen Tagen ist der 1. Advent und damit der Beginn der Vorweihnachtszeit. Ich wünsche dir eine entspannte und besinnliche Zeit.

Liebe Grüße von
indeed

Eisenwein

@indeed  
Vielen lieben Dank! 
Ich dachte, weil es bei uns heute zum ersten Mal schneit, passt diese Geschichte in die Zeit. Liebe Grüße! 
Ferdinand


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