Mein französischer Freund - ein Kriegsgefangener


Etwa auf halbem Weg zwischen der Fabrikkolonie Liebauthal in Westböhmen und der nahen Kleinstadt Königsberg an der Eger befand sich das ehemaligen Gasthaus "Weißer Stein". Ihm gegenüber zweigte von der Straße ein Weg ab, auf dem man nach wenigen Schritten einen großen Bauernhof erreichte. Als Kind kannte ich den Hof nur als "Voglmühle". Ehe Hof und Mühle von einem Müller namens Vogl betrieben wurden, soll das Anwesen nach dem Vorbesitzer "Grasermühle" geheißen haben. Die Voglmühle war das letzte Glied einer Kette von Mühlen entlang dem Liebaubach, der vom Kaiserwald aus der Eger zufließt.

An einem schönen Sommertag des Jahres 1973 kehrte ich für ein paar Stunden nach Liebauthal, den Ort meiner Geburt und frühen Kindheit zurück, aus dem wir knapp drei Jahrzehnte vorher als Folge des 2. Weltkrieges vertrieben worden waren. Nachdem ich die vertrauten Straßen und Pfade zwischen den unversehrten Mietskasernen der Kolonie durchstreift hatte, machte ich mich auf den Weg, um auch die nahe Voglmühle in Augenschein zu nehmen. Für meine Absicht, damals unbedingt die Mühle in meine Inspektion der verlorenen Heimat einzubeziehen, gab es Gründe. Hier hatte ich als kleiner Bub im seichten Wasser des Mühlbaches meine frühesten Schwimmversuche unternommen und mit dem Müllersohn, der etwas älter war als ich, durch das Loch des Abortes hinuntergeschaut in einen tiefen Abgrund, wo sich in schnell fließendem Wasser die Turbine zum Betrieb der Mühlen befand.

Zwar fand ich den Weg zur Mühle leicht wieder, das einmal imposante Anwesen mit seinem geräumigen Hof markierten aber lediglich noch ein paar Mauerreste, zwischen denen sich mittlerweile Bäume und Buschwerk angesiedelt hatten. Der Mühlgraben, dereinst vom Liebaubach gespeist, lag halbverschüttet trocken. Der Voglmühle war es nach der erzwungenen Entleerung des Egerlandes von seinen Menschen offenbar ergangen wie vielen anderen Wohn- und Arbeitsstätten: Weil sie niemand mehr bewirtschaftete, verfiel sie zu Ruinen.

Mit der Voglmühle meiner Kindheit hat es neben Erinnerungen an Wasserplantscherei und den Müllersohn eine weitere Bewandtnis, die mich zu ihr hinzog: Es hatte dort einen Menschen gegeben, mit dem ich, wenn auch nur für kurze Zeit, freundschaftlich verbunden war. Das war keine Freundschaft alltäglicher Art, denn sie verknüpfte Angehörige zweier Völker, die damals eigentlich verfeindet sein mussten. Ich, der kleine Deutsche, dessen Vater sich als Soldat im von Deutschland besetzten Frankreich aufhielt, pflegte Freundschaft mit einem Franzosen, den es als Kriegsgefangenen ins Egerland verschlagen hatte. Ganz und gar vergessen habe ich allerdings, auf welche Weise unsere Bekanntschaft überhaupt zustande gekommen war.

Von dem Franzmann lernte ich, wie man Zugpferde mit Worten und Zügel lenkt, ihr Fell mit Bürste und Striegel pflegt oder dass Pferde zwar zum Wasserlassen aber nicht beim Absetzen ihrer Äpfel anhielten. Doch mein französischer Freund war nicht nur für die Mühlenpferde zuständig, er musste auch für das andere Getier des Hofes sorgen. So verdanke ich ihm die allererste Begegnung mit lebenden Schweinen im Koben der Mühle. Sah er mich, wenn er mit seinen beiden Rössern irgendeinen Frachtauftrag für die Fabrik erledigte, hielt er den Wagen an, und ich durfte ganz selbstverständlich neben ihn auf den Bock klettern und ein Stück mitfahren. Da keiner die Sprache des anderen beherrschte, verständigten wir uns ohne große Schwierigkeiten ohne Worte.

Wortlos musste demnach auch die längste Reise verabredet und verlaufen sein, die wir gemeinsam eines Tages antraten. Es ging dabei um eine Ladung Sand, die mit dem Gespann der Voglmühle aus dem Ort Leibitsch heranzuschaffen war. Bei Leibitsch gab es ergiebige Sandvorkommen, die sich in lange zurück liegenden Erdzeitaltern hier abgelagert hatten. Weil das Unternehmen einen ganzen Nachmittag beanspruchen würde, musste ich mir dafür die Erlaubnis von zuhause einholen, eine Hürde, die mich keine große Mühe kostete. Nach dem Mittagessen also trabte ich zum Treffpunkt an die Mühle, von wo aus wir zum fernen Reiseziel Leibitsch aufbrachen.

Als wir die Sandgrube erreichten, musste es recht kalt geworden sein. Denn noch ehe der Fuhrmann begann, schaufelweise den Wagen zu beladen, hängte er mir fürsorglich seinen Soldatenmantel um. Da stand ich nun, gänzlich eingehüllt in französischer Montur, und staunte über den vielen Sand, der uns von allen Seiten umgab. Sandig war auch der Weg, auf dem wir schließlich mit unserer braungelben Fracht gemächlich wieder heimwärts rollten. Hoch vom Bock aus konnte ich beobachten, wie die Pferdehufen bei jedem Schritt im weichen Boden versanken, wo sich bereits als Zeugnis der regen Inanspruchnahme des Leibitscher Sandschatzes tiefe Radspuren eingezeichnet hatten. Gegen die Kälte schützte mich weiterhin der Mantel meines Freundes, und zeitweise überließ er mir sogar Zügel und Peitsche, die Insignien der Kutscherzunft.

Es begann schon langsam zu dämmern, als wir die Königsberger Egerbrücke passierten. Am Weißen Stein, wo sich unsere Wege wieder trennten, gab ich den Mantel zurück, sprang vom Wagen und lief kurz vor Einbruch der Dunkelheit den knapp halben Kilometer nach Liebauthal hinauf.

Zugegeben, meine Erinnerung an die Exkursion nach Leibitsch beschränkt sich auf ein paar Eindrücke, die wie fotografische Momentaufnahmen oder kurze Filmsequenzen im Gedächtnis aufscheinen. Etwas Sensationelles hatte sich auf dieser Reise ja auch wirklich nicht ereignet. Aber hätte ich diesen Tag in Liebauthal vertan, die Leibitscher Sandgrube wäre mir vermutlich immer unbekannt geblieben. Dazu war es ein kriegsgefangener Fremder, der mir auf seine Weise ein Stück bald darauf verlorener Heimat näher gebracht hat. Und das mit bis heute unvergessener Wirkung.

Siegfried Träger



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Kommentare (1)

tilli Du hast es auch erlebt. Ich war damals etwas älter ,aber noch ein Kind. Die Erinnerungen aus dieser Zeit wird man nicht los. Ich schrieb auch eine Erinnerung aus dieser Zeit.
Heute ist die Welt anders geworden. Menschen wollen schon nichts mehr wissen, was schlimmes war. Zur Zeit sind die Kriegen in Afghanistan. Junge deutsche und andere junge
Menschen müssen sterben - wegen eines unbarmherzigen Terror die ,die ganze Welt im Atem hält.
Ich grüsse dich Tilli.

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