Leben - oder was?
»Tür zu!«
Er schreit es hinaus auf den Flur, er brüllt es geradezu.
»Ganz ruhig, Herr Michels, ich mache sie ja gleich zu, aber sie wollen doch ihren Kaffee, nicht wahr?«
Aha, Schwester Anne, das ist Okay, sie darf ihm immer etwas bringen, sogar diese gelben und rosa Pillen. Wenn sie ihm dann dazu das Wasserglas reicht, ist er von ihren Augen entzückt. Sie strahlen in einem wunderschönen Veilchenblau, es wäre wahrscheinlich eine Sünde, davon nicht hochgestimmt zu sein.
Diese feste Regel, dass Schwester Anne den Kaffee zu den Bewohnern in die Zimmer bringt, hat sich fest in den Tagesablauf eingegliedert. Dietmar wartet meist den ganzen Nachmittag auf diese drei Minuten, wenn Schwester Anne den Kaffee bringt. Diese Zeit um Fünfzehnuhrdreissig scheint wie ein fester Block in seinen Gedanken zu liegen.
Vielleicht ist es, weil ihre Freundlichkeit ein Höhepunkt seines Lebens ist? Viel mehr Freuden hat er eigentlich nicht. Seine Erinnerungen treiben ziellos im Fluss des Vergessens dahin, es ist ein stetes Fließen ohne jede Möglichkeit, diesen Strom zu steuern.
Die Synapsen haben sich miteinander verknotet und so werden aus den Bruchstücken der Vergangenheit stets neue Fragmente der kurzzeitigen Zukunft.
Dietmar fragt sich schon lange nicht mehr, wer er eigentlich ist. Er weiß es einfach nicht mehr! Gedankenverloren starrt er auf ein Bild, das auf dem Tisch liegt. Wer diese Menschen wohl sind, die er dort sieht, - und warum liegt das Bild da überhaupt?
Schwester Anne reicht ihm seinen Kaffee.
»Muss eine wunderschöne Reise gewesen sein!« Sagt Anne leise. »Sie waren damals wohl auf Hochzeitsreise? Ihre Frau sieht auf dem Foto aus wie eine Schauspielerin! Das war sicher in Venedig, nicht wahr? Übrigens, sie möchte sie gern heute besuchen!«
Dietmar sieht sie verstört an. Dann schüttelt er mit Vehemenz den Kopf.
»Unmöglich. Ich war nie in Venedig. Und das ist auch nicht meine Frau. Wer soll das sein? Ich habe keine Frau! Und die da soll bleiben, wo sie ist, ich - will - sie - nicht - sehen!«
Er nimmt das Foto noch einmal in die Hände, führt es ganz dicht vor seine Augen. Dann wirft er es zornig auf den Boden und stampft mit einem Fuß darauf herum.
»Ich bin es leid, dass ihr mich immer mit fremden Frauen verkuppeln wollt. Ich brauche keine Frau. Ich kenne die überhaupt nicht und den Kerl daneben schon gar nicht«.
»Aber nicht doch, lieber Herr Michels, das sind doch sie selbst!«
Schwester Anne bleibt die Ruhe selbst, auch als Dietmars Ton harscher wird. Sie ist so etwas gewohnt. Da hilft nur stoische Ruhe.
Dietmar steht nun vor ihr, wutentbrannt, zeigt dann mit der Hand auf den Flur:
»Verlassen Sie mein Haus! Sofort!«
Schwester Anne geht zur Tür, dann sagt sie ganz freundlich, indem sie die Tür schließt:
»Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend, Herr Michels.«
Auf dem Flur steht Marlene Michels an einem Fenster und schaut gedankenverloren hinab in den Hof. Die heftigen Worte im Zimmer bei der halb geöffneten Tür hat sie mitgehört, mit verweinten Augen sieht sie die Schwester an.
Anne legt ihr die Hand auf die Schulter, schüttelt dann traurig ihren Kopf.
»Es hat keinen Sinn«, sagt sie dann, »Ihr Mann ist weit weg, ganz weit. Er erkennt sich selbst nicht, lebt in seiner Welt, die es so gar nicht gibt. Sie müssen lernen, es zu akzeptieren. Unbedingt! Sonst zerstören Sie ihr eigenes Leben. Und das wollte ihr Mann ganz bestimmt nicht!«
Marlene schaut die Schwester an, nickt lethargisch mit dem Kopf. Ihre Schritte werden unsäglich schwer, als sie zum Ausgang geht.
Aber sie weiß, sie wird wiederkommen, immer und immer wieder ...
©by H.C.G.Lux
Kommentare (9)
Jede tödliche Krankheit mit sichtum ist grausam und besonders, wenn der Geist schwindet. Die schlimmste Phase davon Betroffener ist die Übergangs-Phase, wo sie noch voller Trauer den geistigen Verfall wahrnehmen (wieviele unzählige Male, habe ich meine liebe Mutter in dieser schweren Zeit versucht zu trösten).
UInd für die nächsten Verwandten ist wohl die schwerste Zeit, die Zeit des nicht mehr Erkennens - und trotzdem der Liebe!
Doch warum beschäftigen sich so viele User mit Zeiten von Krankheit, Trauer und Abschied? - Ist es nicht sinnvoller, verbleibende Zeit noch so gut es geht freudig zu leben? Zieht man mit solchen Beiträgen, nicht so manche Leser noch mehr runter? ...
@Dnanidref
Nein, ich glaube nicht, dass die LeserInnen runtergezogen werden. Mich hat dieser Text und auch viele Reaktionen darauf betroffen gemacht, aber irgendwie finde ich, lernt man auch aus jeder Erfahrung. Der Schreiber des Beitrags hat sich sicher auch etwa von der Seele geschrieben, und das ist sehr gut so! -
Ich lese derzeit ein Buch von der Kölner Autorin Sabine Bode, die sich lange Jahre mit "Kriegskindern" und "Kriegsenkeln" beschäftigt hat und sich später dem Thema "Demenz" zugewandt hat. Ihr Buch zu diesem Thema ist so anders, so Mut machend. Weil sie Möglichkeiten beschreibt, wie "man" anders mit den Dementen umgehen kann. Und wie einfach es manchmal ist, wenn man nur einmal um die Ecke denkt. Wenn ich Zeit finde, werde ich das Buch einmal näher vorstellen. - Unabhängig davon sei es schon jetzt jedem ans Herz gelegt.
Hallo Ihr Lieben alle!
Es ist eine traurige Gewissheit, dass mit der Zahl der bedeutend älter (als früher) werdenden Menschen auch die Zahl der Dementen zunimmt.
Was kann man tun? Wenig, so lange und so gut es geht das Gefühl geben, dass sie noch dazu gehören. Irgendwann geht dann der Weg in die Endlichkeit.
Ich habe es dreimal erlebt. Drei Mal zuviel ...
Grüße von Horst
Da wird man schon traurig, lieber Horst, wenn man deine Geschichte liest... Trotzdem möchte ich gerne hoffen, dass die Personen, die den Kontakt mit der sogenannten Wirklichkeit verlieren, irgendwann nicht mehr leiden müssen - denn sie sehen nun andere Welten. Sie sprechen, sie handeln, oft falsch, denn mit einem Teil nur - des Verstandes? Der Seele?
Wer hier bleibt, wer zuschauen muss, wer das - verständlich ja - nicht immer verstehen und akzeptieren kann - der wird schon leiden müssen...
Mit Grüßen
Christine
"Jaaa??? Wir haben ein neues Jahr?" fragte Martha ganz erstaunt, als ich ihr telefonisch ein frohes neues Jahr wünschte. "Und deshalb weckst du mich um 6.00 Uhr in der Frühe, um mir das zu sagen?" beschwerte sie sich leise bei mir.
Ungläubig und irritiert umklammerte ich den Telefonhörer, denn es war bereits 18.00 Uhr am Nachmittag.
Hatte meine liebe Nenntante, die ich schon seit meiner Kindheit kannte, etwa den ganzen Tag verschlafen und somit gar nichts vom lauten Trubel des Jahreswechsel mitbekommen? Ich machte mir plötzlich große Sorgen um meine Tante Martha, die ich immer sehr gerne hatte.
Es war der Anfang einer schrecklichen Krankheit, die ihr Bewusstsein, Erinnerungsvermögen und schließlich ihre gesamte Persönlichkeit durchsichtig werden ließ, bis sich die betroffene Person in einem Nichts aufzulösen schien. Was für ein trauriges Lebensende.
Du hast es, lieber Pan, in Deiner Geschichte sehr anschaulich dargestellt.
Rosi65
„Dietmar fragt sich schon lange nicht mehr, wer er eigentlich ist. Er weiß es einfach nicht mehr!“
Mehr an grausamer Tragik, mehr totale Zerstörung der Persönlichkeit, mehr Verlust an menschlichem Sein … gibt es nicht.
Vor solch einem Weg bewahrt zu bleiben, wünscht sich und allen Menschen
Syrdal
Hallo Pan,oh das habe ich mit meiner Mutter durch,es ist so traurig wenn die Sinne schwinden,und der Mensch nichts mehr weiß. Meine Mutter hatte 5 Kinder und am Ende hatte sie keine Familie und schon garkeine Kinder. Da muss man Haltung bewahren und immer gut zureden nun ist sie mit 98 Jahren friedlich eingeschlafen und ich erzähle meinen Kindern oft von guten Zeiten,so bleibt sie in guter Erinnerung.Gruß von Mona
Ich bin sehr be- und gerührt. Es fehlen mir die Worte, die Wahrheit ist
sehr hart und es ändert sich nichts.
Danke
für den Ausblick
Distel1fink7