Kirschen in Nachbars Garten

Autor: ehemaliges Mitglied

Kirschen in Nachbars Garten

Seit Wochen flirrte in diesem Jahr die Sommerhitze über dem Land. Kein Windhauch brachte Kühlung. Die kleine Tilda war allein im Garten, denn bei der drückenden Hitze waren die meisten Kinder aus der Nachbarschaft zu lustlos für „Draussenspiele“. Auch Tilda war müde und wenig unternehmungslustig.
Warum sie ans Ende des Gartens gegangen war, wusste sie nicht. Wie schon viele Male suchte sie den Weg durch die Rotdornhecke, die die Grenze zwischen zwei Grundstücken bildete. Jedes Jahr, wenn die Früchte in dem angrenzenden großen Garten des Nachbarn, dem ‚ewigen Junggesellen‘, wie ihn Tildas Vater mit einem schelmischen Augenzwinkern gerne nannte, reiften, schlüpfte sie durch die dichte, mannshohe Rotdornhecke.
In der Hecke war ein schmaler Durchlass freigeschnitten, den ein Erwachsener nur mit Mühe passieren konnte. Für Tilda war er die Tür zur kulinarischen Glückseligkeit, in der so himmlische Früchte gediehen, wie Erdbeeren, Stachelbeeren, Rhabarber, dunkelrote Knappkirschen, traumhaft saftige Sauerkirschen und..., wie es sie nirgendwo sonst für sie gab.
Lange stand sie schon am Heckendurchlass zu ihrem Paradies. Tildas Hände waren verschwitzt und schmutzig. Sie wischte sie immer wieder gedankenverloren an ihrem Röckchen ab. Sie witterte wie ein kleines Tier nach rechts und nach links.
Der „ewige Junggeselle“ war nicht da. Auch im Taubenhaus, das in diesem Schlaraffenland stand, war er nicht, denn die Tauben gurrten nur leise und träge. Wie sanfte Musik klang das Summen unzähliger Insekten in der heißen Luft.
Einen Schritt und noch einen, dann stand Tilda im kühlen Schatten des ersten Kirschbaumes. Sie blickte nach oben – dicht über ihr hing der Himmel voll dunkelroter Sauerkirschen. Sie musste schlucken, denn ihr lief jede Menge Spucke im Mund zusammen.
Zaghaft griff ihre kleine schmutzige Hand nach oben und zog an einem Blatt einen Zweig zu sich heran. Sie umfasste ihn mit einer Hand und pflückte die erste pralle Frucht. Sie öffnete den Mund, steckte die Kirsche hinein und schloss langsam die Lippen darum und dann erwartungsvoll ihre Augen. Sie drückte die sonnenwarme Kugel mit der Zunge unter den Gaumen. Die Fruchthaut platzte auf. Oh, welche Lust. Herbsüß füllte sich die kleine Schale ihrer Zunge mit Kirschsaft. Langsam, ganz langsam ließ sie ihn Tropfen für Tropfen die Kehle hinablaufen. Den Stein lutschte sie genüsslich sauber und spuckte ihn dann im hohen Bogen von sich.
„Noch eine Kirsche, dann höre ich auf“, dachte Tilda. Das dachte sie auch bei der nächsten und der dann folgenden. Von Kirsche zu Kirsche wurde die Wonne dieser Nascherei immer größer. Erst als der Bauch „satt, nichts geht mehr“ meldete, wachte sie auf. Wie im Rausch hatte sie alles um sich herum vergessen.
Noch immer gurrten die Tauben, noch immer brannte die Sonne am Himmel und noch immer summten die Insekten. Erschöpft blickte sich Tilda um. Wie hatte sie nur so viele Kirschen essen können? Die ausgespuckten Kirschkerne am Boden würden sie verraten. Oh je, was würde der Nachbar sagen, wenn er es bemerkte? Hastig stieß sie mit den Füßen etwas Erde über die kernigen Zeugen ihres Tuns. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zurück zur Hecke, schlüpfte auf die andere Seite und atmete erleichtert auf, weil sie glaubte, nicht ertappt worden zu sein. Der Nachbar hatte ja noch so viele Kirschen.
Langsam schlenderte sie zum Elternhaus zurück. Aus einem Korb direkt neben der breiten Holztür zum Keller, nahm sie drei kleine Bälle und machte geschickt einige Male die ‚Zehner-Ballprobe‘ an der Hauswand.
Erst viele Jahre später erfuhr Tilda, dass der Nachbar ihre Naschorgien immer entdeckt hatte. Die vielen abgelutschten Kirschkerne oder Fußabdrücke von Kinderschuhen in seinem Garten waren für seine wachen Augen unübersehbar gewesen und er hatte wohl jedes Mal vergnügt gegrinst. Er liebte die kleine Tilda auf seine etwas herbe Art, was er jedoch mit keinem Wort jemals sagte und auch mit keiner Geste zeigte.
„Ich allein kann ja gar so viel essen. Ich brauche den kleinen Mitesser darum doch ganz dringend.“, hatte er augenzwinkert der Mutter einmal gesagt. „Aber verrate Tilda nicht, dass ich es weiß. Sie soll ruhig jedes Mal ein schlechtes Gewissen haben – alles im Leben hat schließlich seinen Preis.“


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Kommentare (7)

ehemaliges Mitglied

Liebe Luchs,
Deine Geschichte beschreibt zauberhaft die "Kehrseite" eines Nachbarn, der mit der kleinen Naschkatze keinerlei Verständnis hatte. Deine Angst dort oben im Kirschbaum kann ich gut nachempfinden.
Die Lehre, die du daraus gezogen hast, habe ich später auf andere Art und Weise gezogen:
Eine Klassenkameradin, die mir mit ihrem Selbstbewusstsein sehr imponierte, verlangte eine Mutprobe von mir, wenn sie mich als "Freundin" akzeptieren sollte.
Im Kaufhaus sollte ich etwas "mitgehen lassen". In einer großen gläsernen Schütte entdeckte ich kleine Teddybären, die nicht größer als meine Handfläche waren.
Ich stibitze einen davon, kam vor die Kaufhaustür und war vor Angst fast tod. Der Teddy brannte in meiner Hand. Ich wusste ja, dass stehlen eine ganz schlimme Sünde war und so brach mir der Schweiß aus, als mir das bewusst wurde und ich fast in Panik geriet bei der Vorstellung, dass jeden Moment ein Polizist seine Hand auf meine Schulter legt und mich ins dunkle Gefängnis werfen würde. 
Der kleine Teddy landete verstohlen im nächsten Mülleimer und die Klassenkameradin wurde nicht meine Freundin, bzw. umgekehrt, ich wurde nicht ihre Freundin. Ich habe nach diesem Erlebnis sogar alles getan, um mit ihr nichts mehr zu tun haben zu müssen. Sie verließt auch irgendwann meine Klasse und ich weiß nicht, warum.
Etwas Gutes hat sie mir mit dieser Mutprobe jedoch geschenkt: Nie wieder kam ich in Versuchung, etwas zu nehmen, das nicht mir gehörte oder ich die Erlaubnis hatte, es zu nehmen.
Darum sage ich DANKE an dieses Mädchen. - Greta
 

luchs35

Liebe Greta, Deine Geschichte erinnert mich an mich selber, als ich etwa so im Alter von 10 Jahren war. Da gab es in der Nähe auch einen Kirschbaum, der eine große Anziehungskraft auf mich und die anderen Kinder hatte. Leider war der Besitzer ein Mann, der nicht lange fackelte, wenn er eines von uns Kindern bei seinem Kirschbaum kurz vor der Ernte erwischte.  
Eines Abends als gerade die Dämmerung hereinbrach und ich "zufällig" am Kirschbaum vorbei nach Hause ging, konnte ich mal wieder nicht widerstehen, aber die unteren Äste waren schon recht geplündert. Also klettert ich den Baum hoch, und kaum war ich oben, kam der Bauer mit seinem Hund vorbei.  Karo bellte mich natürlich sofort an, denn er hatte mich entdeckt. Der Bauer dann auch. Natürlich kam ich nicht vom Baum runter, der Bauer auch nicht rauf. 
Nach einem längerem "Zwiegespräch" in der inzwischen fortschreitenden  Dunkelheit band er seinen Hund an den Stamm und verschwand einfach. Ich saß in der Falle, und wusste nicht mehr, ob ich den Hund, den Bauern oder meinen Vater mehr fürchtete, denn ich hätte längst zuhause sein müssen. So saß ich heulend da oben, gut beobachtet von Karo. 
Und so fand mich dann mein Vater, der sich längst auf die Suche gemacht hatte, nachdem ich nicht zuhause erschienen war. Dann ging alles ganz schnell. Karo war ganz friedlich, als mein Vater ihn losband und ein Stück vom Baum entfernt festhielt, während ich runterkletterte. Dann musste ich mit ihm und Karo zu dem Bauern, um mich zu entschuldigen und versprechen, dass ich nie nie nie wieder an seine Kirschen gehe. Die Geschichte war erledigt.
Aber ich war schon erwachsen als ich von meinem Vater erfuhr, dass er dem Bauern Geld gegeben hatte - mehr als normal für die Kirschen bekommen hätte. Aber für mich war es eine Lehre fürs Leben, mich auch zum Spaß nie wieder an fremden Dingen zu vergreifen...Luchs 
 

Christine62laechel

Eine sehr schöne Geschichte; so sind die Kinder einfach - nicht alle Erwachsene wollen aber solches Verhalten verstehen. Ja, die letzten Worte sind absolut wahr: Alles im Leben hat schließlich seinen Preis.

Mit Grüßen

Christine

Humorus

Na nun bist Du liebe Greta ja hier gelandet und ich möchte Dir gerne mit auf Deinen Weg geben. Eine schöne Geschichte und man merkt, das Du da Dein Herz mit eingebracht hast. Ich bin gespannt auf die nächsten und habe Deinen Block abonniert.

Lieben Gruß aus Karlsruhe

werderanerin

Eine wahrlich köstliche Geschichte, man konnte die Kirschen förmlich schmecken. Eine richtig, süße Tilda, wie so manch anderes Kind was naschen möchte... herrlich. 

Kristine

Manfred36

auch in meiner Heimat gab es eine Kirschen-Nasch-Saison. Die begann an Christi Himmelfahrt während der Feier am "Steinernen Kreuz", wo drum herum Frauen die ersten Kirschen anboten. Wir wussten dann um den Hof, wo sie herkamen, ganz von offen zugänglichen Kirschbäumen umsäumt. .

ehemaliges Mitglied

Da hast Du uns aber eine hübsche, süß-säuerliche Geschichte geschrieben! Kann ich gut nachvollziehen, denn auch in unserem Garten stehen Kirschbäume, die den nachbarlichen Leckermäulchen so herrlich schmeckende dicke "Perlen" schenken ...

Herzlichen Gruß von Uschi - nnamttor44


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