Hört ihr Leute lasst euch sagen …


Hört ihr Leute lasst euch sagen …


Bevor ich den Job als nächtlicher Objektschützer in einem Eisenwerk ins Auge fasste, war für mich der Beruf des Nachtwächters nichts als pure Nostalgie gewesen. Ich hatte ein Bild im Kopf, das es in Wirklichkeit nicht mehr gibt: Ein stämmiger Mann, gewandet in eine schwarze Pelerine mit Hellebarde und Laterne. Und natürlich mit dem allseits bekannten Nachtwächterlied auf den Lippen: „Hört ihr Leute lasst euch sagen …“
 
Ich ahnte, dass für diese Art von Romantik im 20. Jahrhundert kein Platz sein würde. Landläufig ist die Berufsbezeichnung Nachtwächter dennoch für jene Personen üblich, die von Sicherheitsdiensten angestellt und für den nächtlichen Objektschutz in Industrieanlagen tätig sind. Für den Nachtwächter früherer Zeit waren die Dienstwege eine mühselige Pflicht, die er auch bei Sturm, Regen, Kälte und Schnee zu jeder Nachtstunde bewältigten musste. Anheimelnd oder beschaulich war diese Arbeit nie. Die Nachtwache galt als eine verantwortungsvolle und strapaziöse Tätigkeit.
 
„Daran“, so erklärte mir der Objektleiter, „hat sich bis zum heutigen Tag nicht viel geändert. Wenn Sie die Kriterien für diesen Job erfüllen können, dann unterschreiben Sie bitte hier.“
 
Eine Woche später verließ ich gut gelaunt mit Stablampe und Stechuhr bewehrt die Portiersloge. Herr Wowereit, ein altgedienter Wachmann, begleitete mich auf meiner ersten Runde. Sonst saß er immer hoffend, dass kein Dieb oder Einbrecher seine Nachtruhe stören möge, in der licht-gedimmten Portiersloge und hütete das Telefon. Würde ich als der runden-drehende Wächter Alarm schlagen, müsste er die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Das sei aber noch nie der Fall gewesen, meinte Herr Wowereit.
Entlang des Industriegleises, unweit der Laderampen des Elektrolagers, befand sich die erste Kontrollstelle. Herr Wowereit öffnete ein an der Hauswand befestigtes Blechkästchen, in dem an einer kleinen Kette ein metallener Kontrollstift befestigt war. In dem Moment, wo ich den Stachelstift in meine große runde Stechuhr steckte, wurde die Kontrollzeit markiert. Derweil rüttelte mein väterlicher Führer am Tor der Lagerhalle, um zu prüfen, ob abgeschlossen war. Gemächlich setzten wir die Runde fort, bis wir zu einer stillgelegten Fabrikhalle kamen. Der hohe Schlot gab dem Ensemble eine gewisse Daseinsberechtigung, obwohl schon lange kein Rauch mehr nach oben strömte. Warum gerade hier eine Kontrollstelle für den nächtlichen Rundgang angebracht wurde, war mir nicht verständlich. Was verdammt noch mal soll hier beschützt werden? Diese stillgelegte Fabrikhalle wirkte auf alt-industrielle Art hässlich und wenig schützenswert. Der einfallende Nebel machte alles noch düsterer. Ab diesem Moment keimte in mir der Gedanke einer Verkürzung dieses Kontrollgangs. Langsam kristallisierte sich ein Plan in meinem Kopf. Es ging um die intelligente Verkürzung meiner Auftragspflicht.

Die Halle war gespenstisch, aber da mussten wir durch, denn am anderen Ende befand sich die nächste Kontrollstelle. Mattes Mondlicht drang durch erblindete Fenster und ließ im Boden eingelassenen Schienen schimmern. Rostige Laufkräne schlummerten im Nachtschatten unter dem Dach.
Der Stachelstift am nächsten Kontrollpunkt war ebenso an einer dünnen Kette befestigt wie bei allen anderen. Sie war gerade so lang, dass der Stift bis zur umgehängten Stechuhr an meinem Bauch reichte. Eine kolossale Idee reifte – was wäre, wenn ich den Stift von dieser Kette lösen würde? Die Befestigung war simpel, nicht mehr als ein Ring bei einem Schlüsselbund. Voilà! Das müsste funktionieren. Mit diesem Trick könnte man den Kontrollgang bei Wind und Wetter wesentlich abkürzen, indem man zu festgelegter Zeit in aller Ruhe die Stechuhr in der Portiersloge mit dem mitgebrachten Stechschlüssel bediente.
Aber da war ja noch der alte Wowereit, ihn zu überzeugen war eine Herausforderung. Ich brauchte zwei Nächte des Kennenlernens …

Herr Wowereit musterte mich nicht unfreundlich. „Du bist doch ein intelligenter Bursche“, sagte er, „ich frage mich, was dich zu diesem Job bringt, noch dazu in diesem gottverlassenen Eisenwerk?“
Noch bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, verließ er mich schnellen Schrittes durch das Tor ins Freie. „Ich muss mal, mach‘ du die Runde im Expedit und vergiss nicht zu stechen. Wir treffen uns in der Portiersloge.“

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Auf einer der Fensterbänke stand eine alte Schreibmaschine mit dick verstaubter Abdeckhaube. Diese wahrscheinlich als Schrott eingestufte Büromaschine erinnerte mich an die Remington meines Vaters, auf der ich seinerzeit das Tippen gelernt habe. Mir war klar, dass ich dieses Juwel retten musste, bevor es endgültig dem Verfall preisgegeben würde.

Ich hatte eine Idee: Ich wusste, dass der alte Wowereit außer dem täglichen Berichtsbuch auch an einem privaten Buch schrieb. Alles per Hand! Was für den beruflichen Report seit Generationen üblich war, erschien mir für einen Schriftsteller überholt zu sein. Ich redete dem pflichtbewussten Wowereit so lange zu, bis er tolerierte, dass ich die alte Schreibmaschine, die nach wie vor im Eigentum des Werkes stand, auf Vordermann brachte. Als Bonus für sein Stillschweigen versprach ich, in jeder unserer gemeinsamen Nächte in der Portiersloge, mich seinem handgeschriebenen Manuskript zu widmen und in leserliche Maschinenschrift zu verwandeln.
Und dann zeigte ich ihm, den abmontierten Kontrollstift hochhaltend, wie wir die nötige Zeit gewinnen, um uns gemeinsam der Fertigstellung seines Buches zu widmen. Der gute Herr Wowereit fiel fast vom Stuhl – aber er grinste.
 
©text & foto by ferdinand
 


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