Geschichte eines Hüttenwirts
Der Altweibersommer ist meine letzte Hoffnung, die verregnete Saison doch noch irgendwie zu retten. Ich wende meinen Blick durch das Küchenfenster. Im Südwesten blitzt die Spitze des Hochkalter hervor. An seiner Ostseite spiegelt sich die Sonne in einem Schneefeld, das ist normalerweise ein gutes Zeichen für den Tag. Doch auf der anderen Seite, über dem Hochstaufen im Norden, bauen sich Wolkentürme auf. Westwind kommt auf, das bedeutet: feuchte Luft, Regen und Schnee – auch im Sommer. Das Barometer sinkt, meine Stimmung auch. Wird es wieder ein Tag ohne Gäste, wie so viele schon in diesem Jahr?
Ich beobachte allerlei Krähenvögel, die sich vor dem Haus eingefunden haben und geschickt die Abfallbehälter vor der Hütte nach Beute durchsuchen. Die kleinsten, aber frechsten und gewandtesten sind die Bergdohlen, deren helle Augen listig umherspähen, und sowie sich ein guter Brocken zeigt, schlüpft die Dohle herbei, fasst ihn und ehe sich die Krähen besonnen haben, fliegt sie fort und lässt von Ferne ein gellendes Hohnlachen ertönen. Andere segeln ohne Flügelschlag mit dem Wind und ärgern Asta, meine Schäferhündin, indem sie knapp über sie hinwegfliegen.
Da draußen finden Revierkämpfe statt, ich höre ein kehliges „Grig-Grig”, das an die Artgenossen gerichtet ist und tieferes „Zi-jag-Zi-jag”, was wohl soviel wie „Hau ab” bedeutet und an die ebenfalls aufmerksam gewordenen Kolkraben gerichtet ist. Ich genieße das Schauspiel mit den Dohlen und vergesse die Zeit. Mittlerweile hat es komplett zugezogen.
Ein Hüttenwirt hat viel Zeit zum Nachdenken, besonders an Tagen wie heute. Das weiß auch der Bürgermeister, darum hat er mich gebeten, an der Chronik über den Untersberg mitzuarbeiten. Ich habe zugesagt, obwohl ich so etwas noch nie gemacht habe. Auf dem Küchentisch türmen sich alte Hüttenbücher und historische Alben mit vergilbten Fotografien aus längst vergangener Zeit. Ich habe ungezählte Geschichts- und Sagenbücher über den Untersberg gelesen. Die Geschichte über Kaiser Karl, der im Berg sein Grab gefunden und von Zwergen bewacht wird, ist bei weitem nicht die einzige Geschichte, die diesen Berg so mystisch macht.
Meine Frau ist im Tal um einzukaufen und Wäsche zu waschen. Ich bleibe in der Schutzhütte. Es wird langsam dämmerig. Den ganzen Tag habe ich nur Nebel gesehen, dick und träge, wie die Erbsensuppe von gestern. Ich werde sie wohl selbst essen müssen. „Suppe sättigt nicht“, sage ich zu Asta. „Was meinst du, schlagen wir zusätzlich ein paar Eier in die Pfanne, vielleicht etwas Speck dazu?“ Seit Asta das Wort „Eier” gehört hat, stehe ich unter scharfer Beobachtung, denn Eier sind ihre Lieblingsspeise. Ihrem Blick konnte ich noch nie widerstehen – also auch zwei Eier für Asta. Wir sind zufrieden mit der Welt, ich lege noch ein paar Holzscheite ins Feuer und Asta rollt sich in der Nische unter dem Kachelofen zusammen. Ich halte die Stellung, weil auch bei Schlechtwetter jederzeit ein Bergsteiger vor der Tür stehen kann. Wir sind nicht nur Gasthaus, sondern auch Bergrettungs-Stützpunkt, deshalb müssen wir jederzeit parat sein. So wie jetzt: Stürmischer Wind setzt ein, der Regen kommt waagrecht daher, peitscht an die Fensterscheiben.
Ich höre ein Knistern und denke an die Wiesel, die in den Hohlräumen zwischen der Küchendecke und dem Matratzenlager überwintern. Aber jetzt im Sommer? Spüren die was? Wieder ein Knistern, aber jetzt kann ich es zuordnen, es kommt es aus dem Telefon. „Nein, nicht schon wieder”, fluche ich. Wahrscheinlich ist ein Ast auf die Freileitung gefallen. Wir sind hier auf 1700 Meter Höhe, knapp über der Baumgrenze. Eigentlich wäre das Telegrafenamt für solche Schäden zuständig, aber das kann dauern. Die Monteure haben mir einmal gezeigt, wie man gerissene Telefonkabel wieder spleißen kann. Wenn sich das Wetter bessert, werde ich den Rucksack packen, ins unwegsame Gelände absteigen und die Leitung flicken. Notfalls kann ich mich über CB-Funk verständigen.
Der Sturm pfeift um das Haus. Ein knatterndes Geräusch vor der Hütte beunruhigt mich, ich gehe nachschauen. „Ach du heilige Scheiße“, entfährt es mir, „ich habe vergessen die Fahnen einzuholen.” Geduckt laufe ich zum Fahnenmast. Die Alpenvereinsfahne hängt nur mehr teilweise an einem Karabiner und ist arg zerrissen. Ich werde sie notdürftig reparieren müssen, für eine neue reicht das Geld nicht.
Asta schüttelt das Wasser aus dem Fell, auch ich bin total durchnässt und fluche über meine Blödheit. Also: Klamotten ausziehen, den Ofen nachheizen, Kleider trocknen und ein Schnapserl trinken, dann geht das schon wieder, denke ich. Hemd und Hose dampfen auf dem Gestänge über dem Kachelofen. Bis morgen ist alles wieder gut.
Ich hole die Chronik mit den alten Sagen über den Untersberg wieder aus der Lade und vertiefe mich von neuem in meine Arbeit. Heute habe ich mir die vielen Höhlen und Dolinen zum Studium vorgenommen. Dazu kommen die Aufzeichnungen der Bergrettung aus den letzten hundert Jahren. Es sind trockene Berichte über Einsätze und Bergungen, fast jedes Jahr gab es tödliche Abstürze. Nicht in der Statistik enthalten sind jene Menschen, die am Untersberg als vermisst gelten.
Mir fällt das Erlebnis mit dem englischen Botanik-Studenten ein; er sammelte botanische Raritäten in unseren Bergen und hatte bei uns übernachtet. Bei Tagesanbruch war er losgezogen. Meine Warnung vor dem unwegsamen Gelände hatte er in den Wind geschlagen und war mit unbekanntem Ziel verschwunden. Sein Auto war tagelang unbeachtet am Fuße des Berges gestanden, bis seine Eltern uns verständigten. Leider konnte ihn auch eine Hundertschaft von Bergrettern nicht finden. Er wurde nie mehr gesehen.
Der Tag war lang und ich bin müde. Die Monologe mit Asta können nicht verhindern, dass ich mich einsam fühle. Da hilft nur ein kräftiger Schluck aus der Flasche mit dem Vogelbeerschnaps – ein edler Trunk für besondere Tage. Ich entscheide: Heute ist so ein Tag.
Das Arbeiten an der Chronik erfordert meine volle Konzentration. Vor allem das Einarbeiten von uralten, handgeschriebenen Dokumenten ist mühsam. Der Bürgermeister wünscht sich außerdem noch bildhafte Geschichten, die ich aus den Mythen dieses Zauberbergs ableiten soll. Im Banne bäuerlichen Allegorien lese ich von grauslichen Höhlentieren, bis mir kalte Schauer über den Rücken jagen.
Eine weitere Nebelnacht hüllt den Berg ein. Sturmböen rütteln an den Fensterläden des Hauses. Überschüssiges Wasser läuft über die Zisterne, staut sich an gerissenen Latschenzweigen und droht den Keller zu fluten. „Mir bleibt aber auch nichts erspart”, presse ich zwischen den Zähnen hervor.
Asta liegt zu meinen Füssen und knurrt vor sich hin, sie hört oder riecht irgendetwas.
„Okay, ich schau nach”, sage ich. Bei Sturmwetter sichere ich die Eingangstür immer zusätzlich mit zwei Riegeln an der Ober- und Unterseite der Tür. „Nun ist aber gut, da ist nix“, sage ich zu Asta und ziehe zunächst den oberen, dann den unteren Riegel auf. Der Wind drückt mir mit aller Wucht die Tür ins Gesicht, gleichzeitig verliere ich meine Taschenlampe. Gebückt kann ich die Tür nicht halten. Asta haut winselnd ab und ich erstarre, sehe mich plötzlich versetzt in eine der gruseligen Geschichten der Chronik. Eine Handbreit vor meinen Augen starrt mich die Bestie an. Aus einem nachtschwarzen Schädel, vom Streulicht der am Boden liegenden Taschenlampe erhellt, funkeln mich zwei grüne Augen gespenstisch an. Ich falle rücklings zurück in den finsteren Gang. Das Ungeheuer blökt: „Määähh”
Ich bin derart überrumpelt, dass ich die Tiere in den Vorraum lasse - sechs, vor Wasser triefende Wollschafe. In mir kommt leichte Panik auf; im Hintergrund bellt Asta wie verrückt die Schafe an und vorne habe ich alle Hände voll zu tun, um die Tür gegen den Winddruck zu schließen. Ich schimpfe mit Asta, bis sie beleidigt ins Gastzimmer abzieht. Ich folge ihr und sage: „Wir sind ein Schutzhaus, heute sind unsere Gäste eben Schafe. Was soll´s?“
Kommentare (10)
@ladybird
"Holla, du Berg-Fee aus Köln”, möchte ich dir am liebsten von hoch oben zurufen - aber leider bin ich schon lange nicht mehr auf "meinem” Untersberg zugange. Der Job des Hüttenwirts ist nichts für knochenmüde Rentner.
Was ich jedoch tun kann, ist erinnern. Ich blicke mit einem Lächeln auf diese Jahre zurück und sortiere auch die Zeichnung vom Kölner Dom als visionäre Erinnerung ins Gedankenregal ein.
Liebe Grüße aus dem Salzburger Land
Ferdinand
Dieser Schutzhüttenwirt ist zwar kein buddhistischer Mönch, der sich zwecks Meditation in die Einsamkeit zurückzieht, sondern nur jemand, der sich in der Stille der Bergwelt wohl fühlt.
Wenn da nur nicht diese bange Unruhe des Wartens gewesen wäre.
Das dann doch noch hilfsbedürftige Gäste kommen, muss sein 7.Sinn wohl erahnt haben.
Super geschrieben, lieber Ferdinand!
Viele Grüße
Rosi65
NS. Ob Schafe wohl auch Eier mögen?😉
@Rosi65
Danke für die Rückmeldung!
Ob Schafe Eier mögen, weiß ich nicht. Die "Eier”, die sie mir in den Gang gelegt haben, waren jedenfalls ungenießbar. 🐑😖
Lieber @Eisenwein,
ich kann mich dem Kommentar von @Chris33 nur anschließen..... Auch für mich eine fremde, naturnahe Welt, die mich aber gleich, weil gut von dir ge- und beschrieben, von Beginn an fasziniert hat. Die Geschichte habe ich mit großem Interesse gelesen.
Danke für den Tag mit dir und Asta auf der Schutzhütte...
Herzliche Grüße..... Katharina 😊
@Sommerzauber
Vielen Dank fürs Kompliment!
Übrigens: Meine Hüttenwirtszeit liegt lange zurück. Meine Geschichten hier im Forum sind großteils Erinnerungen aus einer turbulenten Zeit.
Liebe Grüße 😊
Ferdinand
Spannend geschrieben , von allem etwas - was zum weiter lesen animiert.
Lieber Ferdinand - ich wünsche dir noch schöne Montagsstunden ❤️ lichst Marlen
Lieber Eisenwein,
du hast es geschafft, mich in eine Welt zu entführen, die mir bisher fremd war und mir gleichzeitig das Gefühl gegeben, als waere ich selbst Teil davon.
Die Art und Weise wie du die Landschaft, das einfache Leben und die Verbindung zur Natur beschrieben hast, war fuer mich faszinierend und inspirierend.
Herzlichen Dank für diese Geschichte, die meine Gedanken und Vorstellungen bereichert hat.
Mit besten Grüßen
Chris33
@chris33
Dankeschön!
Ich freue mich, wenn ich Gedanken zu Bildern formieren konnte, die dich für einen Moment in meine Welt entführten. Ich wünsch Dir was!
Liebe Grüße aus Salzburg
Ferdinand
Lieber Ferdinand,
nicht nur Dein wundervoller Bericht hat mich fasziniert, mich an alle meine "Hütten-erlebnisse" erinnert , sondern, jetzt bei unserer zT großen Hitze, tat es auch noch gut, sie zu lesen....
So hörte ich die dumpfen Töne der Bohlen, durch unsere Wanderstiefel, beim Betreten der Hütte mit Holzboden . Sah die leckere Erbsensuppe (gab es öfters) und erinnere mich auch an den bitteren Vogelbeer-schnaps (igitt) aber trotzdem!!!
Besonders gerne las ich in den Gästebüchern......schau mal in Deines von der Hütte: wenn Du dort einen gezeichneten Dom, findest.....der grüßt von mir,
mit Dank für das Lesevergnügen,
herzlichst ladybird-Renate aus Köln