Er hatte nicht gemerkt, daß er alt geworden war
Er hatte nicht gemerkt, daß er alt geworden war, daß die Welt für ihn nicht mehr viel Interessantes bot. Er war verlassen worden. Er riß sich zusammen, baute sich noch einmal ein Nest auf, für sich und irgend einen Gast, der gerne zu ihm kommen möge, zur Unterhaltung, zum Reden, zum Zuhören, zum gemeinsamen Unternehmen und vielleicht auch Erleben. Er bekam Mut und Kraft, so glaubte er, sich aufrichten zu können, etwas anzupacken, Freude geben und nehmen zu können.
Da und dort fand er etwas, was ihm bisher gar nicht aufgefallen war. Bisher war er nur mitgegangen in einer Gemeinschaft. Nun war diese abgetaucht, verloren. Es galt sich selbst in Schwung zu bringen, zu versuchen, Menschen zu finden, mit denen man reden, schreiben kann, denen man begegnen darf.
Er studierte das, was ihm seine Schwester aus der Hinterlassenschaft der verstorbenen Mutter übergeben hat: Briefe aus der Notzeit, gleich einem Tagebuch zusammengehalten, Briefe, die sich die Eltern fast täglich geschrieben und sie auch irgendwie auf den Weg gebracht hatten. Man sieht den Briefen an, welche Not in Papier und Schreibwerkzeug herrschte, hier ein abgerissener Rand einer Zeitungsseite, da ein Stück Pappkarton, eng beschrieben, oft schwach zu lesen, weil der Bleistift kaum Graphit enthielt. Vor- und Rückseite eng beschrieben, kein Platz zum „Zwischen den Zeilen lesen“ können. Liebevoll wird berichtet, Sorgen waren verboten, wer lesen kann, sieht sie, die Sorgen. Er nahm die Texte auf, setzte sie in Computer-Schriften um, kommentierte, für wen? Für die Geschwister, die Kinder und Enkel, Neffen und Nichten. Warum? Fragen wurden und werden gestellt – soll er, der Älteste da nicht doch antworten, alles weitergeben, der Älteste von sieben Geschwistern, der zehn Jahre neben seiner Mutter den Vater vertrat?
Eigentlich mag mancher das in der Vergangenheit herumwühlen nicht, er wird belächelt, es gibt Kritik von Menschen, denen heute noch nicht der Sinn dazu steht, etwas für Familie und Nachwelt zu erhalten, denen, die da Schachteln auf dem Speicher verstauben lassen, sie nur noch nicht entsorgen wollen – es könnte doch einmal ein Sinneswandel eintreten.
Und wieder bekam er eine Schachtel mit Dokumenten – eine Zeitreise mitten durch die schlimmste Zeit bis hin zu dem Zeitpunkt, wo die Familie wieder geschlossen zusammen war. Hier Zettel, da Lebensmittelmarken, Kleiderkarten, Flüchtlingsausweise, Fahrpläne, Anmeldezettel usw. usw. Das schon Geschriebene bekommt nun Bilder dazu. Was braucht man noch, um ein Geschichtsbuch für die Familie zu setzen. Spätestens da wird man zur Eile gedrängt, noch lebende Zeitzeugen im eigenen Beritt zu erfassen, sie auszufragen, ihre Erinnerungen einzubinden. Fast frevelhaft, die Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Man bedient das reisende Volk mit der Geschichte eines spektakulären Geschehens, die Quelle im eigenen Lebensbereich übersieht man, anstatt sie aufzubereiten und als Ergänzung mitleuchten zu lassen, das Ganze zur ganzen Wahrheit aufzustellen.
Heute hat er sich ein Taschenbuch mitgebracht, einen Roman über die Vermessung der Erde, über Gauß und von Humboldt. Was soll das?! Schon früh hatte der Vater ihn auf den Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf so viele Zeichen in Wald und Flur aufmerksam gemacht, Trigonometrie, Potsdam Datum, Vermessungsdreieck, Punkte, Örter, Türme, Gestellwege und Markierungen. Da war der Gauß immer wieder dran und Lagrange, Pythagoras, Euklid, die Messgeräte. Nie war es langweilig, dem Vater zuzuhören – noch war das nicht Stoff im Schulunterricht. Aber die Augen waren geschärft, fanden die Ziele, ein freudiges Wiedersehen.
Schicksalhaft war er dann so im Alter, wo andere glauben, ausgelernt zu haben, mit der Geophysik verbunden worden. Er fühlte sich glücklich, endlich darin das vom Vater vorgelebte Wissen nun anwenden zu können. Der Vater war begeistert, dass sein Sohn da arbeiten konnte, wo er so gerne eingestiegen wäre.
Geophysik, das Allumfassende, er durfte seinen Kopf benutzen, die Technik bot jetzt die Möglichkeiten zum Schreiben von Programmen für Computer, die man überall mit hinnehmen konnte, kompliziert erscheinende Rechnungen vor Ort zu lösen, die Wahrscheinlichkeiten im Wettergeschehen, in der Atmosphäre, auf der Erdoberfläche zu Statistik-Resultaten zu bringen.
Er war nicht alleine bei der Arbeit. Zwei Freunde unterstützen ihn, so, wie sie ihn auch forderten. Sie griffen zur Kommunikation, holten sich Datensammlungen heran, tauschten Aufgaben und Ergebnisse aus, man konnte manches verkaufen. Kein Achtstundentag, nein vier bis fünf Stunden Schlaf mussten genügen. Und die Resultate brachten Freude. Sie beruhten auch auf dem im Schlaf weiter zu denken, schon mit einer Lösung aufzuwachen.
Was soll da das Aufzeichnen und Beschreiben der Vergangenheit? Als die ersten atomgetriebenen Schiffe kaum mit dem richtigen Antrieb versehen werden konnten, weil die neuen Motoren und ihre Turbinen Schnellläufer waren, musste man viele Schritte zurück in die Vergangenheit der Technik gehen, die Langsamläufer auf heutiges Niveau aufbauen.
Jede Niederschrift einer Erinnerung ist ein Mosaikstein im Leben in die Zukunft. Und die Zukunft, sie kann in kleine Teilschritte bis hin zu Meilenstiefel weiten Sprüngen gelten.
Für Beides ist Platz in unserer Welt von heute: die Vergangenheit mit den Erfahrungen daraus und die Zukunft, in die wir mutig und erwartungsvoll treten wollen.
Geben wir allen Dreien Raum – der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Darüber nachgedacht hat er, als er eine Kommunikationsquelle verlor. 21.Mai 2008 (Tetatnus, Seventyseven)
ortwin
Da und dort fand er etwas, was ihm bisher gar nicht aufgefallen war. Bisher war er nur mitgegangen in einer Gemeinschaft. Nun war diese abgetaucht, verloren. Es galt sich selbst in Schwung zu bringen, zu versuchen, Menschen zu finden, mit denen man reden, schreiben kann, denen man begegnen darf.
Er studierte das, was ihm seine Schwester aus der Hinterlassenschaft der verstorbenen Mutter übergeben hat: Briefe aus der Notzeit, gleich einem Tagebuch zusammengehalten, Briefe, die sich die Eltern fast täglich geschrieben und sie auch irgendwie auf den Weg gebracht hatten. Man sieht den Briefen an, welche Not in Papier und Schreibwerkzeug herrschte, hier ein abgerissener Rand einer Zeitungsseite, da ein Stück Pappkarton, eng beschrieben, oft schwach zu lesen, weil der Bleistift kaum Graphit enthielt. Vor- und Rückseite eng beschrieben, kein Platz zum „Zwischen den Zeilen lesen“ können. Liebevoll wird berichtet, Sorgen waren verboten, wer lesen kann, sieht sie, die Sorgen. Er nahm die Texte auf, setzte sie in Computer-Schriften um, kommentierte, für wen? Für die Geschwister, die Kinder und Enkel, Neffen und Nichten. Warum? Fragen wurden und werden gestellt – soll er, der Älteste da nicht doch antworten, alles weitergeben, der Älteste von sieben Geschwistern, der zehn Jahre neben seiner Mutter den Vater vertrat?
Eigentlich mag mancher das in der Vergangenheit herumwühlen nicht, er wird belächelt, es gibt Kritik von Menschen, denen heute noch nicht der Sinn dazu steht, etwas für Familie und Nachwelt zu erhalten, denen, die da Schachteln auf dem Speicher verstauben lassen, sie nur noch nicht entsorgen wollen – es könnte doch einmal ein Sinneswandel eintreten.
Und wieder bekam er eine Schachtel mit Dokumenten – eine Zeitreise mitten durch die schlimmste Zeit bis hin zu dem Zeitpunkt, wo die Familie wieder geschlossen zusammen war. Hier Zettel, da Lebensmittelmarken, Kleiderkarten, Flüchtlingsausweise, Fahrpläne, Anmeldezettel usw. usw. Das schon Geschriebene bekommt nun Bilder dazu. Was braucht man noch, um ein Geschichtsbuch für die Familie zu setzen. Spätestens da wird man zur Eile gedrängt, noch lebende Zeitzeugen im eigenen Beritt zu erfassen, sie auszufragen, ihre Erinnerungen einzubinden. Fast frevelhaft, die Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Man bedient das reisende Volk mit der Geschichte eines spektakulären Geschehens, die Quelle im eigenen Lebensbereich übersieht man, anstatt sie aufzubereiten und als Ergänzung mitleuchten zu lassen, das Ganze zur ganzen Wahrheit aufzustellen.
Heute hat er sich ein Taschenbuch mitgebracht, einen Roman über die Vermessung der Erde, über Gauß und von Humboldt. Was soll das?! Schon früh hatte der Vater ihn auf den Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf so viele Zeichen in Wald und Flur aufmerksam gemacht, Trigonometrie, Potsdam Datum, Vermessungsdreieck, Punkte, Örter, Türme, Gestellwege und Markierungen. Da war der Gauß immer wieder dran und Lagrange, Pythagoras, Euklid, die Messgeräte. Nie war es langweilig, dem Vater zuzuhören – noch war das nicht Stoff im Schulunterricht. Aber die Augen waren geschärft, fanden die Ziele, ein freudiges Wiedersehen.
Schicksalhaft war er dann so im Alter, wo andere glauben, ausgelernt zu haben, mit der Geophysik verbunden worden. Er fühlte sich glücklich, endlich darin das vom Vater vorgelebte Wissen nun anwenden zu können. Der Vater war begeistert, dass sein Sohn da arbeiten konnte, wo er so gerne eingestiegen wäre.
Geophysik, das Allumfassende, er durfte seinen Kopf benutzen, die Technik bot jetzt die Möglichkeiten zum Schreiben von Programmen für Computer, die man überall mit hinnehmen konnte, kompliziert erscheinende Rechnungen vor Ort zu lösen, die Wahrscheinlichkeiten im Wettergeschehen, in der Atmosphäre, auf der Erdoberfläche zu Statistik-Resultaten zu bringen.
Er war nicht alleine bei der Arbeit. Zwei Freunde unterstützen ihn, so, wie sie ihn auch forderten. Sie griffen zur Kommunikation, holten sich Datensammlungen heran, tauschten Aufgaben und Ergebnisse aus, man konnte manches verkaufen. Kein Achtstundentag, nein vier bis fünf Stunden Schlaf mussten genügen. Und die Resultate brachten Freude. Sie beruhten auch auf dem im Schlaf weiter zu denken, schon mit einer Lösung aufzuwachen.
Was soll da das Aufzeichnen und Beschreiben der Vergangenheit? Als die ersten atomgetriebenen Schiffe kaum mit dem richtigen Antrieb versehen werden konnten, weil die neuen Motoren und ihre Turbinen Schnellläufer waren, musste man viele Schritte zurück in die Vergangenheit der Technik gehen, die Langsamläufer auf heutiges Niveau aufbauen.
Jede Niederschrift einer Erinnerung ist ein Mosaikstein im Leben in die Zukunft. Und die Zukunft, sie kann in kleine Teilschritte bis hin zu Meilenstiefel weiten Sprüngen gelten.
Für Beides ist Platz in unserer Welt von heute: die Vergangenheit mit den Erfahrungen daraus und die Zukunft, in die wir mutig und erwartungsvoll treten wollen.
Geben wir allen Dreien Raum – der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Darüber nachgedacht hat er, als er eine Kommunikationsquelle verlor. 21.Mai 2008 (Tetatnus, Seventyseven)
ortwin
Kommentare (3)
viver
Lieber Ortwin,gern habe ich deine Worte gelesen.Platz in unserer Welt hat Vergangenheit und Zukunft und doch erleben wir beides in der Gegenwart.Aber wenn wir jetzt in der Vargangenheit stöbern dann mit dem Blick der vegangenen Jahre.Ich bin dabei meine eigene
Geschichte mit der Herkunftfamilie zu sammeln , erinnern und aufzuschreiben.Bei alten Fotos kommen viele Dinge wieder zum Vorschein. und die eigene Person wird dabei von verschiedenen Seiten beleuchtet. Es macht Spaß das eigene Leben wie einen Film zu erleben!
Viel Spaß beim Schreiben und Erleben
Herzlichen Gruß Brida
Geschichte mit der Herkunftfamilie zu sammeln , erinnern und aufzuschreiben.Bei alten Fotos kommen viele Dinge wieder zum Vorschein. und die eigene Person wird dabei von verschiedenen Seiten beleuchtet. Es macht Spaß das eigene Leben wie einen Film zu erleben!
Viel Spaß beim Schreiben und Erleben
Herzlichen Gruß Brida
tilli †
Lieber Ortwin !
Es ist schon so lange her,dass ich so einen Menschen getrofen habe wie dich. Du sprichst das aus ,was ich schon immer machen wollte. Auch ich habe für meine Enkelkinder alte Fotos von Groß und Urgroßeltern gefunden.Dann habe ich sie in eine Familienchronik eingedruckt. Jeder soll doch wissen wo seine Wurzeln sind. Deine Worte haben mich sehr berührt.Alle sagten zu mir ,wer wird das lesen wollen ?. Aber es wird ein Tag kommen,wo sie es suchen werden die Vergangenheit.Deine Arbeit hat mehr Kraft- die spricht Bände.Meine das ist ja bloß Familie und doch ist es eine Warheid die nicht sterben soll.
Viele Grüsse und sei stolz auf dich
Tilli
Es ist schon so lange her,dass ich so einen Menschen getrofen habe wie dich. Du sprichst das aus ,was ich schon immer machen wollte. Auch ich habe für meine Enkelkinder alte Fotos von Groß und Urgroßeltern gefunden.Dann habe ich sie in eine Familienchronik eingedruckt. Jeder soll doch wissen wo seine Wurzeln sind. Deine Worte haben mich sehr berührt.Alle sagten zu mir ,wer wird das lesen wollen ?. Aber es wird ein Tag kommen,wo sie es suchen werden die Vergangenheit.Deine Arbeit hat mehr Kraft- die spricht Bände.Meine das ist ja bloß Familie und doch ist es eine Warheid die nicht sterben soll.
Viele Grüsse und sei stolz auf dich
Tilli
ortwin