Die Zeit
---- Der Mensch erfährt ja von Natur
Zeiträume anders als die Uhr,
die, wenn sie leise tickt und tackt,
die Zeit in gleiche Stücke hackt
und objektiv-mechanisch misst,
egal, ob´s schön, ob´s traurig ist.
Der Mensch misst individuell:
Ist´s schön, verrinnt die Zeit zu schnell.
Verliert das Leben Lust und Sinn,
dann zieht sie sich unendlich hin.
---- Auch wird der Mensch im Lauf von Jahren
wahrscheinlich folgendes erfahren:
Am Anfang scheint er durch die Zeiten
im Schneckentempo hinzugleiten.
Allmählich kriegt die Zeit Propeller,
von Jahr zu Jahr verfliegt sie schneller.
Darauf beginnt sie wegzustieben
wie von Raketen angetrieben.
Zuletzt verkrümelt sich die Zeit,
so scheint´s, mit Lichtgeschwindigkeit.
---- Zwar zeigt sich auf der Lebensreise,
er wird normalerweise weise.
Doch merkt er auch, sobald er klug,
er ist nie wirklich klug genug.
Er hängt noch stets an vielen Dingen,
die längst verschwanden und vergingen,
beansprucht, was er nicht besitzt,
und klagt, obwohl es ihm nichts nützt.
Er sagt: „Ich hätte“ und: „Ich wäre“,
zieht selbst doch selten eine Lehre,
hält´s aber für der Mühe wert,
dass er die anderen belehrt.
---- Das Leben strotzt von wunderlichen,
unausrottbaren Widersprüchen.
Ich wünsche dir in solchen Lagen
Geduld und Kraft, sie zu ertragen.
Bedenke, wenn du andern grollst,
auch Du bist nicht so, wie Du sollst.
Genieße das Geschenk der Zeit
mit Umsicht und Gelassenheit
und lass Dich nicht zu Boden boxen
von all den vielen Paradoxen,
die Dich von außen überfallen
und sich in dir zusammenballen.
---- Und die Moral von der Geschicht´
weiß auch der Weise leider nicht.
Aber vielleicht kennst du, einer der neunmalklugen Leser, eine Antwort!
PS: Der nur einmalkluge Dichter weist darauf hin, dass am Sonntag die Uhren umgestellt werden.

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Kommentare (6)

Lerge


Ich bin als Leser neunmalklug
und weiß, warum die Uhr grad schlug:
der Montag ist noch nicht vergangen.
Noch Zeit, was neues anzufangen.

Zu dichten, denken, Briefe schreiben,
nicht müßig nur die Zeit vertreiben,
sondern mit Dank sich anzuschicken,
Erfreuliches zu überblicken,
das diesen Montag fröhlich machte.
So fröhlich, dass ich mehrmals dachte,
dass die Vergangenheit  -  juchhei -
noch immer gegenwärtig sei.
Das hält mich jung wenn Uhren ticken.

Ich muss ja nicht in’n Spiegel blicken!
😛👍💪

 
Wales lässt grüßen,
Lerge
 

silesio

@Lerge
Ach liebe Lerge,
du bist fast immer gut gelaunt,
worüber Christoph kräftig staunt.
Freundliche Grüsse aus den Westwestmidlands
und bis zum nächsten Mal

  

Samick

Hallo Silesio , wenn ich deinen Text lese und die tickende Uhr sehe
denk ich gleich an ein Bild , welches meine Schwiegereltern im Schlafzimmer hängen hatten :

Ein Bild mit einer großen Wachs-Uhr , die Wachsuhr war schon zur Hälfte abgebrannt
und der Text darunter :

Die Zeit brennt !

Gruß Herbert

silesio

@Samick
Danke!
Die Zeit brennt - nie hat dieser Satz, so scheint es, größere Gültigkeit gehabt
 

ehemaliges Mitglied


Herrlich, zu lesen ist deine Analyse und dein guter Rat!
Umzusetzen vlt. nicht ganz so einfach.

Wie könnte der Weise die Moral auch kennen,
wenn die Zeit doch völlig amoralisch ist.

schmunzelnde Grüße

WurzelFluegel
 

silesio

@WurzelFluegel  
Die Zeit ist wirklich amoralisch,
sogar beinahe infernalisch.
Drum wär ich gern dazu bereit,
zu leben völlig ohne Zeit.
Christoph


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