Die letzten Kriegstage: Der Tausch!

Autor: ehemaliges Mitglied



"Auf dem Bild ist Michael drei Jahre alt gewesen", sagt die alte Dame und reicht mir das Foto herüber. Ehe ich mich aber darüber beugen konnte um es näher zu betrachten, zog sie es in Gedanken zurück und behielt es in ihren Händen, während sie weiter erzählte.

"Es war im Winter Anfang 1945. Die Front rückte bereits an die Oder vor. Wir waren auf der Flucht in einer schlesischen Kleinstadt hängen geblieben. Einige Kinder waren an Diphterie erkrankt, darunter Michael. Bis hierher kommen die Russen nicht, sagten die Leute, und wir nahmen diese schwache Hoffnung auf und klammerten uns an ihr fest. Gelegentlich warnte uns ferner Geschützdonner, aber wir waren zu erschöpft oder von Krankheit zu entkräftet, um den Weg über das tiefverschneite Gebirge zu wagen. Das Stübchen im Ausgedinge gab etwas heimatliche Wärme, während draußen über die vereisten Straßen endlose Trecks ins Irgendwohin zogen.

Die neuen Flüchtlinge brachten aber immer bedrohlichere Nachrichten aus dem Oste mit, und schließlich forderte uns sogar die Kreisleitung auf, die Stadt zu verlassen. Alarm trieb uns jetzt häufiger in die Luftschutzkeller. Das veranlasste die meisten von uns, kaum genesen, den Fluchtweg ins Ungewisse wieder aufzunehmen. Die Einwohner der Stadt entschlossen sich fast geschlossen zum Bleiben. Und ich blieb ebenfalls dort".

"Ihr Kind war gewiss noch zu krank?" warf ich ein, aber sie überging meine Frage. "Ja Michael"; sagte sie nur und blickte lange auf das Bild nieder, ehe sie weitersprach. "Oft lehnte ich am Fenster und schaute in das Schneetreiben hinaus: schmerzversteinert, weinend und frierend. Manchmal kam die Nachbarin herein, legte mir schweigend die Wolldecke um die Schulter, führte mich behutsam zum Bett zurück, heizte den Ofen ein, den ich vergessen hatte und stellte einen Topf mit Kartoffeln aufs Feuer. Aber ob ich mit geschlossenen Augen unter der Decke lag oder mit offenen durchs Fenster starrte, die Elendzüge rissen nicht ab. Ich sah alle und keinen; verwirrt vom Fieber irrte ich mich häufig. Manchmal reichte ich Vorbeiziehenden ein paar heiße Kartoffeln hinaus, doch oft überhörte ich ihr Klopfen und bemerkte sie erst, wenn die Gartenpforte wieder hinter ihnen zugefallen war. Ein andermal vernahm ich ein Pochen an der Tür. Als ich öffnete, war niemand zu sehen, nur Kälte überfiel mich, und Schneeflocken zergingen auf dem Brot in meiner Hand.

Wieder stand ich an meinem gewohnten Platz. Der graue Winterhimmel warf seine Dämmerung durch die Scheiben. Ich verfolgte die Bilder des Untergangs in grausiger Vision. Der Apokalyptische Reiter zog vorbei. Dieses Mal hetzte er die Toten des Krieges vorüber. Barfüßig, hohläugig und mit kahlen Schädeln rückten sie vor. Eisiges Entsetzen kroch in mein Herz, und die Angst vor meinen Gesichtern schüttelte mich. Ein plötzliches Dröhnen erfüllte die Luft, wuchs ins Unerträgliche, die Wände vibrierten, die Skelette draußen sanken in den Schnee. Dunkle Schatten rasten über den Himmel. Dass es Tiefflieger waren, daran dachte ich erst, als das Getöse verebbt war. Damals wurde mir schwarz vor Augen, ehe es mir gelang, die Wahrnehmung meiner Sinne zu ordnen.
Einige Schüsse peitschten über die Straße. Rufe und Schreie rissen mich aus der beginnenden Ohnmacht zurück.

Ich starrte durchs Fenster und sah entsetzt, wie eine der Gestalten, schmal und klein wie ein Kind, sich aus dem Totenzug löste, durch den Garten kam und direkt auf mich zulief. Eben wollte ich, zutiefst erschrocken, mein Gesicht hinter der Gardine verbergen, als ich den leisen Ruf vernahm: Mutter!

Das weckte mich aus der Lähmung. Ich riss die Tür auf; ein eiskaltes Wesen stürzte mir in die Arme. In einemAugenblick hatte ich es unter der Bettdecke verborgen und drehte mich blitzschnell um. Mit einer Pistole trat ein Mann unter die Tür und rief: "Ich suche einen entflohenen Sträfling! Er muss hier sein! Geben sie ihn sofort heraus!" Damit wollte er mich zur Seite drängen und auf das Bett zutreten. "Nein!" rief ich, "dort liegt mein schwerkrankes Kind. Sie töten es!" Und ich warf mich gegen den Fremden. Eine Hand verkrallte sich in seinen Arm, meine andere grub mit zitternden Fingern in der Tasche nach dem Foto von Michael. Ich hielt es ihm dicht vor die Augen und flehte ihn an: "Glauben Sie mir! Das ist mein Kind! Sehen Sie doch! Nehmen Sie das Bild, es wird Sie beschützen, bis alles vorbei ist." Der Mann ließ zögernd seine Waffe sinken, schaute gebannt auf das Bild, das ich ihm entgegen streckte, nahm es nach einer angstvollen Pause endlich in die Hand und verschwand damit, ohne ein Wort zu sagen.

Hastig verriegelte ich die Tür hinter ihm, verdunkelte das Fenster und schlug beim Schein einer Kerze die Bettdecke zurück. Verstörte Augen sahen mich stumm bittend an. "Michael" flüsterte ich. Das Kind nickte schweigend und umschlang mich mit seinen dürren Ärmchen. Ich nahm es an mein Herz. Wenig später riss ich ihm die dünne Lagerbekleidung vom abgezehrten Leibe und steckte sie, kopflos vor Angst, in den Ofen. Aus den feuchten, schmutzigen Lappen stieg stinkender Qualm und rief die Nachbarin herbei. Die alte Frau bekreuzigte sich, aber dann griff sie zu, schleppte heißes Wasser herbei und half mir, den gequälten, kleinen Körper zu säubern und in Michaels Kleidung zu hüllen. Gemeinsam verbargen und pflegten wir das entkräftete Wesen, sodass es später die Flucht in den Westen mit mir überstand."

"Aber", unterbrach ich die alte Dame zum zweiten Mal, " wie konnte das Bild wieder in Ihre Hände gelangen, wo Sie schließlich doch noch fliehen mussten?"

"Kurz nach Kriegsende", berichtete sie weiter, " ich hatte eine Unterkunft in einer rheinischen Stadt gefunden, stand der fremde Mann eines Tages überraschend vor meiner Tür. Er brachte mir das Foto zurück, auf dessen Rückseite mein Name und meine Heimatadresse vermerkt waren. Durch den Suchdienst hatte er mich ausfindig gemacht.
Während unseres Gespräches ruhten seine Augen mehrfach auf dem kleinen Jungen, der friedlich zu unseren Füßen spielte. Dann wieder schaute er vergleichend auf das Foto, das vor uns auf dem Tisch lag. Von Zeit zu Zeit blickte er sich suchend um. "Sie wollen wissen wo mein leiblicher Sohn Michael ist", sagte ich zu ihm, "und wie ich ihn und dieses Kind hier durchgebracht habe? An jenem Tag, als Sie und ich dieses Kind retteten, war Michael bereits tot, an der Diphterie gestorben. In der Verwirrung der letzten Kriegswochen erregte ein einzelner Todesfall kein Aufsehen. Schon gar nicht in einer fremden Stadt, durch die zahllose Trecks mit Flüchtlingen zogen und in der viele unbekannte Tote in Hast und Eile begraben wurden. Niemandem fiel etwas auf, und die alte Frau war verschwiegen. Das Kind hier lebt an Michaels statt, unter seinem Namen, in seiner Kleidung, mit meiner Liebe. Als ich verzweifeln und mich selbst aufgeben wollte, rief sein Schrei nach der Mutter mich aus der Erstarrung. Ich glaubte, Michaels Stimme zu hören, und sie übertönte meine Schmerzen um ihn. Gott hat mir dieses Kind zum Tausch angeboten, und Sie haben sich nicht dazwischen gestellt….Denn Sie wussten doch, dass ich das arme Wesen versteckt hielt?"

Der Mann nickte: "Beim Zusammenbruch der Ostfront, deportierte man die überlebenden KZ-Häftlinge westwärts, darunter auch Kinder, deren Eltern bereits umgekommen waren. Ausgezehrt trieb man sie in ihren dünnen Lageranzügen barfuß durch den Schnee. Wie viel überlebten, weiß ich nicht. Ich kann das nicht los werden, wissen Sie? Ich wollte Gewissheit, ob wenigstens die Rettung dieses einen gelang. Davon hängt alles für mich ab, wenn ich wieder ein Mensch sein will." Und wie um die Bilder, die ihn peinigten, auszulöschen, strich er sich mit der Hand über die Stirn.

"In aller Eile beorderte man uns damals als Verstärkung zur begleitenden Wachmannschaft für dieses grauenvolle Unternehmen. Obwohl ich an den Endsieg längst nicht mehr glaubte, fürchtete ich, Widerstand zu leisten, bis ich dieses Bild aus Ihrer Hand erhielt. Ich war damals ein bewaffneter Mann und gewöhnt, dem Tod ins Auge zu sehen. Leicht war ich nicht zu erschrecken. Dieses kleine Bild aber, dieses winzige Etwas, hatte die Kraft, mich zu überwinden. Ja, das Bild ist es gewesen und nicht Ihr verzweifeltes Bitten und Flehen. Es bewahrte mich zu töten, damals und später. Es war mir", er zögert etwas und fuhr dann ein wenig verlegen fort, "es war mir, als hätte mich ein Engel angesehen!"

Die alte Dame reichte mir das Foto: Ein Kind stand im Schnee. Es blickte mich an mit jenem Lächeln, das heute selten und deshalb für uns umso unwirklicher geworden ist. Schneeflocken lagen auf seinen Schultern, und die lichten Schatten hinter ihm leuchteten wie Flügel.

Von Monika Taubitz

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