Die Haltestelle


Montagmorgen....
Ihr Herzschlag rast, klopft bis in ihren Hals, macht ihn eng und erschwert ihr das Atmen. Sie fühlt sich, als wäre sie eine Ewigkeit gerannt, gehetzt, geflüchtet.
Als sie an der Haltestelle die Bahn ste­hen sah, war sie noch schneller gelaufen, denn sie musste diese Bahn unbedingt erreichen, koste es was es wolle.
Endhaltestelle!
Der Fahrer sitzt nicht in seiner Kabine. Gehetzt schaut sie sich immer wieder um, bevor sie ein­steigt, im ersten Wagen, vorne, wo sie den Fahrer sehen kann, wenn der kommt. Sie fühlt sich wie ferngesteuert, unwirklich und keineswegs sicher. Da ist etwas in ihr, das sich zeigen will, das sich in den Vordergrund drängen möchte.
"NEIN!", schreit es tonlos in ihr und ihre Beine beginnen zu zittern.
„Ruhig, sei ruhig, bitte, bitte“, sagt sie laut zu sich und schaut sich sofort erschrocken um. Noch ist sie allein im Wagen, doch sie hört schon Stimmen, die sich nähern. Kinderstimmen – Gott sei Dank!

Panisch schaut sie aus dem Fenster und während sie einige Male tief durchatmet, betre­ten vier Jungen lärmend die Bahn. Laut, fast schon schreiend, versuchen sie sich etwas zu sagen, während sie hinter ihr die Plätze bele­gen. Die Kinder beruhigen sie – bringen Normalität in den Wa­gen. Kinder sind das Normalste, was sie kennt. Sie sind ehrlich und verstellen sich nicht, außer, man hat es ihnen beigebracht. Die Jun­gen sind laut, dennoch hört sie nicht hin, was sie sagen. Ihre Beine beginnen wieder leicht zu zittern. Sie will nicht daran denken, was geschah. Das Zittern wird so­fort stärker.
„Nicht denken, nicht denken....“, flüstert sie tonlos vor sich hin.“
Es ist bedrohlich!", lispelt eine Stimme in ihrem Kopf. Ihr Atem setzt sofort für einen Moment aus, dieser Gedanke ist einfach zu gewaltig.

Mit einem Ruck dreht sie sich um und schaut die Jungen an, ohne sie wahrzunehmen, bis ihr Blick die Augen des Jungen trifft, der am nächsten von ihr sitzt. Die Bahn hält an und fährt weiter. Menschen steigen aus und ein. Es sind noch nicht viele Men­schen unterwegs. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass der Fahrer eingestiegen war.

Eh Alter, was starren sie so in meine Augen?“, hört sie aus weiter Ferne eine Stimme.
Sie schaut immer noch in die Augen des Jungen.
Sie sind dunkel, genauso wie die von
"NEIN", schreit es wieder in ihrem Kopf und sie wendet ihren Blick zu dem Jungen, der gerade mit seinen Füßen in ihre Rückenlehne tritt.
„Was willst du?“, schnarrt der sie an. Er ist der
Größte, nicht älter, aber größer und sehr dick. Inzwischen geben die anderen Jungen durcheinander und laut ihre Kommentare ab.
„Eh, lass dich nicht von der Prostituierten anmachen“, sagt der Kleine, der neben dem dicken Jun­gen sitzt. Sie überlegt kurz, wie alt die Kinder wohl sind,
vielleicht zehn oder elf Jahre.
„Sind sie von der Polizei?“, fragt sie nun der Junge, der bisher noch nicht das Wort an sie gerichtet hat­te.
„Nein“, antwortete sie, um anschließend wieder nach rechts zu schauen. Der Junge mit den dunklen Augen musterte sie. Sie hat irgendwie eine Ahnung, dass er der Lustigste von den Jungen ist und sagt es ihm auch.
„Stimmt“, antwortete er, „und woher wissen sie das?“
Sie gibt ihm keine Antwort und versucht das Zittern der Beine zu stoppen. Mit aller Kraft drückt sie ihre Hände und Finger tief in die Haut der Beine und spürt nichts. Das Zittern lässt langsam nach.
Wieder rufen die Jungen durcheinander, sagen vieles zu ihr, nichts Freundliches, aber das ist ihr egal, es sind Kinder. Sie muss sich beruhigen. Nur nicht mehr zittern, befiehlt sie sich, sonst verliere ich die Kontrolle und die darf ich nicht verlieren. Die Kinder sind nur Ablenkung.




Eh, sind sie doch von der Polizei?“
Der dicke Junge tritt erneut und mit Wucht in ihre Rückenlehne und sie fragt ihn mit einem Kopfschütteln: „Du
findest dich wohl cool?“
„Klar“, antworten sofort alle durcheinander. „
Klar sind wir cool“.
Kleine Machos, denkt sie. Kindermachos.
Dann drückt sie wieder ihre Hände und Finger tief in ihre Beine. Das verdammte Zittern.
„Zeigen sie mir doch mal den Ausweis, wenn sie von der Polizei sind...“, ist das Letzte, was sie hört
e.
Irgendwann war sie aus der Bahn ausgestiegen. Sie sitzt auf einer Bank an einer Haltestelle. Irgendwo im Nirgendwo und allein. Jetzt zittern ihre Beine unkontrolliert, jetzt kann sie es nicht mehr stoppen, das Zittern.
Krampfhaft umklammert sie ihre Knie, fängt laut an zu weinen und auf einmal ist sie mittendrin.
Sie kann den Film nicht mehr stoppen, der sich nun grell und schmerzhaft in ihrem Kopf abspult.



Die Polizei willst du?“, seine Frage erreicht sie mit einem „Du Schlampe“ und einem Schlag in die Magengrube, der ihr den Atem nimmt und sie würgen lässt.
„Ich werde dir die Polizei zeigen“, brüllt er und schlägt wieder seine Faust in ihren Magen. Ihr ist speiübel und Lichtblitze tanzen vor ihren Augen. Alles schaukelt. Inzwischen liegt sie am Boden und er sitzt auf ihr.
„Keine Angst, meine Süße.
Dein Gesicht rühre ich nicht an. Kannst ruhig kotzen, wenn du magst.“ Sein stinkender Atem lässt sie fast ohnmächtig werden, während seine braunen Augen sie fixierend wach halten. Der Blick ist eiskalt und sie fühlt Todesangst. Sein Griff, mit dem er ihren Arm über dem Kopf auf den Boden drückt, schmerzt unglaublich. Ihr wird wieder übel und dann kurz schwarz vor den Augen.
Fluchend und grunzend versucht er ihr die Hose zu zerreißen, während sie panisch mit ihrer freien Hand über den Boden fährt, bis sie einen großen Stein greifen kann.
Als der auf seinen Schädel knallt, schauen seine Augen für einen Augenblick staunend in ihr Gesicht, dann bricht er über ihr zusammen.


Reifen quietschen, ein Auto hält an der Haltestelle.
„Soll ich sie mitnehmen, in die Stadt?“, fragt eine freundliche Frauenstimme.

Der Film ist zu Ende!
Kommen sie ruhig mit“, redet die Stimme weiter: „Ist alles ok? Es fährt heute keine Bahn mehr.“
Langsam steht sie auf. Es ist Nacht geworden. Wie spät es ist, weiß sie nicht, ihre Uhr liegt wohl dort, wo der Mann liegt. Es ist ihr egal.
„Ja“, murmelt sie leise und steigt in den Wagen. „Danke!“
Das Zittern hat aufgehört, sie fühlt nichts mehr. Gar nichts! Komisch, denkt sie, ich fühle nichts mehr und mein Kopf ist leer. Nur ein Rau­schen füllt ihn, durch das die Stimme der Fahrerin leise dringt, ohne sie zu erreichen. Mit ihren Händen fühlt sie auf ihrem Bauch. Er ist dick und hart, wie ein geschwollener Stein.
«Ich fühle nichts und es müsste doch wehtun.» Es sind staunende und leise Gedanken.

, hallt die Frage des Jungen aus der Bahn für einen Augenblick durch das Rauschen in ihrem Kopf, während sie langsam, Stufe für Stufe, die Treppe hochsteigt.
„Nein“, flüstert sie sehr leise, und für einen Moment erscheint ihr das Gesicht des fragenden Jun­gen, der sie mit seinen braunen Augen sehr ernst ansieht. „Aber ich brauche Hilfe!“

Dann drückt sie auf den breiten Klingelknopf, in dessen Mitte und in Leuchtziffern nur ein Wort steht – POLIZEI.
 
 

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