"Wellen" aus dem Buch "Die Geschichte der Serenissima" von Julia Bisping


Wellen


   Ich lasse mich treiben, fließen. Ich strecke mich, räkle mich. So kraftvoll habe ich mich lange nicht gefühlt. Ich lasse meine vielen Hände tanzen, spüre mit den Fingern die Konturen der Häuser, Gebäude, Palazzi und Plätze. Ich schiebe mich vorwärts, rolle mich, bäume mich auf, hole mir Schritt für Schritt das zurück, was einmal mir gehörte. Jedes Jahr werde ich stärker. Ich weiß nicht genau, woran es liegt. Lange Zeit war ich schwach und ängstlich. Ich wurde zurückgedrängt, "bezwungen", so wie es die Menschen nannten. Dieses Wort habe ich nie vergessen. Es klingt schal in meinen vielen Mündern, die ich nun öffne und schließe, wie es mir beliebt. Schal und scharf, so wie die Menschen selbst. Sie fühlen sich übermächtig mit ihren Waffen und Ihrer Intelligenz.

   Ich bin nicht auf einen Kampf aus. Doch sie geben nie Ruhe, haben mich bekämpft, mich zurückgedrängt, meine Kinder gezähmt oder getötet, mich ausgebeutet, mir meine Schätze gestohlen und mich vergiftet. Was blieb mir anderes übrig, als mich zu wehren? Doch irgendwie hatten sie es geschafft, ich weiß nicht wie, aber sie hatten mir meine ganze Kraft geraubt. Ich war nur noch ein Schatten meines Selbst, ein Nichts, ein Niemand. Ich existierte und doch war ich nicht da. Wie in einem Traum, einem langen, endlosen Traum. Gefangen in den dunklen Tiefen meines Selbst. Nichts konnte ich gegen ihre Zerstörungswut tun, nichts gegen den Tod, den sie brachten. Doch jetzt bin ich zurück. Ich spüre es. Es ist wie ein Vibrieren, das mich durchzieht. Meine Kräfte erwachen zu neuem Leben. Ich bin so wach wie nie zuvor. Meinen vielen Brüdern und Schwestern geht es genauso. Ich kommuniziere mit ihnen, obwohl wir verbunden sind, eins sind, sind wir doch alle für uns. Ich bin hier, an diesem Ort, der verschiedene Namen trägt und doch so viel jünger ist als ich es bin. Nur ein Wimpernschlag in meinen. Augen. 

   Ich kann mich noch an die Zeit davor erinnern, vor den Gebäuden, vor den Häusern, den Hütten und ja, sogar vor den Menschen selbst. Alles hier gehörte mir. Ich lebte im Eins mit der Erde, den Tieren, dem Schlick. Ich formte diese Lagune über viele Jahre hinweg, bis sie kamen. Bis sie sich niederließen auf den kleinen Inseln, die ich umspülte. Sie haben sie miteinander verbunden. So schnell, dass ich nichts dagegen tun konnte. Ich wollte aber auch nichts dagegen tun. Sie haben mit amüsiert, diese winzigen Wesen, die so viel von sich hielten, so geschäftig taten, obwohl sie nichts waren. Ich habe Ihnen zu lange zugeschaut, ihnen zu lange vertraut. Ich merkte nicht, wie ich immer schwächer wurde, je mehr sie mir nahmen, je mehr Kanäle sie bauten. Ich war naiv. Ich sah es als ein Spiel.Ich war überheblich. Dachte nicht, dass sie mir etwas anhaben könnten. Doch damit ist Schluss. Noch habe ich nicht meine ganze Kraft zurück, doch sie wird kommen. Ich strecke mich und spüre die Konturen des Platzes unter mir. Meine Arme greifen nach allem, was sie zu fassen bekommen. Ich mache mich lang, ziehe meinen Körper an Land, begrabe den Boden unter mir. Ich berühre Hauswände, dringe durch die Ritzen, die sie nicht stopfen konnten. Ich trete über die Ränder der Kanäle , wasche den Dreck von den Steinen, nehme alles in mich auf. Es macht mir nichts mehr aus. Glanz, Gold, Silber, alle Farbenpracht berühre ich. Und auch die Menschen selbst. Noch fürchten sie mich nicht, doch das wird sich ändern. 

LG
globetrotter


Text: ©Julia Bisping
Bild: free pics





 

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Kommentare (5)

Jutta

Liebe Gisela,

Du hast das Wasser, das Meer sprechen lassen, dass es sich gegen Eingriffe jeder Art wehren will und wird. Dein Foto mit den Wellen spricht eine deutliche Sprache. Ich höre den Wellen der Meere sehr gerne zu, am liebsten, wenn sie nicht nur klagen, sondern Spannendes erzählen und mich endlos träumen lassen, wie mein kürzlich entstandenes Gemälde zeigt und grosse Ähnlichkeit mit deinem Foto hat.
Danke für deine Wellen und
herzliche Grüsse von
Jutta

Unruhige See - 07-2024.jpg


 

Boeuf

Liebe Gisela
Eine Freundin hat mir dieses kleine Büchlein von Julia Bisping vor einiger Zeit geschenkt, ich habe es mit Freude gelesen. Kleine Geschichten um Venedig, von denen du eine hier vorstellst.
Im Text wird das Wasser der Lagune beschrieben, das sich über die „ Misshandlung“ durch die Menschen beschwert und sich dabei seiner Macht bewusst wird. Die Natur schlägt zurück. So lese ich diese Geschichte.
Boeuf

Christine62laechel


Liebe Gisela, die (Wasser)Umstände lassen den Text ganz besonders werden. Es gibt Wellen - und Wellen...

Mit Grüßen
Christine

Globetrotter

@Christine62laechel  

Liebe Christine,
vielen Dank für deinen netten Kommentar. Das stimmt, besonders wenn sich das Meer zurückholt, was wir ihm genommen haben. 
Liebe Grüsse ins (hoffentlich trockene Polen)
Gisela

Christine62laechel

@Globetrotter  

Im Landeszentrum, wo ich lebe, kann ich sicher sein, obwohl in einer Stadt an der Weichsel. Es ist aber echt grausam, was so viele Menschen in einigen Europaländern nun zu fürchten haben. Hoffentlich wird die Situation bald wieder ruhiger.


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