Die Geschichte eines Düsseldorfer Hafenkindes und ihrer Zeit..
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10. Fortsetzung:
Nach dem Frühstück zogen die Vier los, mit bangem Herzen, in Richtung
Fissenknick (so heißt der Ort tatsächlich - ungefähr drei Kilometer von Bad Meinberg entfernt) immer bergauf. Oben auf dem Berg sahen sie die alte Windmühle, damals ohne Flügel, heute ist sie restauriert. Onkel Otto war aus Norwegen zurück und sie konnten aufatmen. Aber sie waren nicht die ersten Flüchtlinge. Auch Tante Anita, die ihren Mann durch einen Unfall bei der Wehrmacht verloren hatte, war bereits mit ihren beiden Kindern da.
Für`s Erste hatten sie ein Unterkommen. Doch es wurde eng und so wurden ihnen, einige Wochen später, zwei Kammern bei dem Tischler und Landwirt Schlink zugewiesen. Die erste im uralten Gebäude, die zweite im etwas neueren Anbau. Nachts flitzten Mäuse durch die Räume. Das Klo war ein „Donnerbalken“ im Stall. Wasser musste aus dem Brunnen in der Wiese geschöpft werden. Es war Spätherbst und sie hatten weder Betten noch Wäsche. Weder Geschirr noch sonst irgendetwas - eben nur das, was die amerikanischen Irrsinnsfahrer ihnen gelassen hatten.
Die Verwandtschaft und eine ihnen bekannte, einmal sehr vermögend gewesene Dame, die, wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit von den Besatzern enteignet worden war, halfen mit dem Allernötigsten aus. Es wurde schon kalt und kein Brennholz war vorhanden. Die beiden Cousinen Anni und Grete gingen mit Ruth und Elena um „Stubben“ zu roden (das sind Wurzeln von geschlagenen Bäumen). Sie suchten auch Reisig und nach allem, was brennbar war, (übrigens kommt das deutsche Wort “brennen” von dem Keltenherzog Brennus, aus dem 4.Jahrhundert v.Ch, der Rom verwüstete?
...(fällt mir gerade ein). Gefroren haben sie bei dieser Arbeit nicht.
Eine Zimmernachbarin, die bei den Engländern auf dem Fliegerhorst in Detmold arbeitete, hatte es da leichter. Was Elena nur schrecklich ärgerte, (und nur deshalb wird das hier erwähnt),war, dass die mühsam zusammengesuchten Tannenzweige, die auf der anderen Seite des Wohngebäudes im offenen, aber trockenen Schuppen lagen, oft dafür benutzt wurden, die im lippischen Matsch steckengebliebenen Fahrzeuge der englischen Besucher unserer jungen und sehr attraktiven Nachbarin, wieder flott zu kriegen. Vollkommen verdreckt durfte Elena sie dann ein zweites Mal aufklauben.
Im November kam Ruth mit der Nachricht, sie hätte die Erlaubnis von der britischen Besatzungsbehörde erhalten, die zurückgelassenen Habseligkeiten aus Österreich abzuholen. Elena freute sich auf ein Wiedersehen. Die Mutter war besorgt, aber auch glücklich, ihre Betten wieder zu bekommen. Ruth mit ihren 22 Jahren war immerhin erwachsen. Auf Elena würde sie schon aufpassen. Außerdem wollte Elena um keinen Preis zu Hause bleiben.
An einem kalten November-Morgen um vier Uhr standen sie auf und machten sich auf den Weg. ”... Passt gut auf euch auf und geht kein Risiko ein !...“ waren Mutters Abschiedsworte.
Als sie den „Fissenknicker Berg“ und den Wald hinter sich gelassen hatten und Meinberg vor sich liegen sahen, sagte Ruth zu Elena:
“Ich muss dir etwas gestehen: ..ich habe keine Erlaubnis von der Militärbehörde , ich muss dir das sagen, damit du dich noch entscheiden kannst, ob du mitmachen willst oder nicht...“.
Elena schluckte und dann entschied sie sich, Ruth nicht alleine zu lassen. Hatten sie sich doch in Schärding schon geschworen, wenigstens die Betten und den kleinen Volksempfänger zu retten.
Und ... na ja, ihr wisst schon, was sie sonst noch im Kopf hatten...
Als sie an der alten Post in der Allee vorbei kamen, drang das Gegröhle noch trunkener Engländer oder Belgier aus den geöffneten Fenstern.
Sie sangen ”Oh, Marie, oh Marie” - ein damals populärer Schlager.
Die Mädchen beschleunigten ihre Schritte und waren froh, als sie das Haus hinter sich gelassen hatten. Es herrschte Ausgangssperre und sie mussten immer damit rechnen, einer Streife in die Hände zu fallen. Zu Fuß marschierten sie zum Bahnhof Horn- Bad Meinberg - ein weiter Weg.
Sie stellten fest, dass sie noch viel Zeit hatten, bis der Zug nach Altenbeken und weiter bis Kassel abfuhr. Sie gingen bis zum Anfang des Städtchen Horn und tranken in der ersten nächsten Gaststätte ein Heißgetränk. Sie hatten Glück. Die Wirtin war mit Aufräumarbeiten beschäftigt und trotzdem ihre Wirtschaft offiziell noch nicht geöffnet hatte, bekamen die Beiden ihr sogenanntes Heißgetränk. Die Wirtsstube war warm und das Getränk tat ihnen gut. Immerhin viel besser, als die Wartezeit auf dem kalten Bahnsteig zu verbringen.
Kurz nach 8 Uhr fuhr ihr Zug. In Altenbeken mussten sie umsteigen - ohne Zwischenfälle bis Kassel ...und von da an begann das Abenteuer.
Kassels Bahnhof quoll über von Menschen aller Couleur.
Heimatlose Flüchtlinge, entlassenen Soldaten. Menschen, die von irgendwo her kamen und irgendwo hin wollten. Auch zwielichtige Gestalten waren darunter. Amerikanische Soldaten, darunter einige Neger, die sich einen Spaß daraus machten, mit den Augen zu rollen und ihre weißen Zähne blitzen zu lassen, lümmelten, Kaugummi kauend, an den Wänden des Bahnhofgebäudes und grinsten ihr “Hallo Froilain”.
Überall zwischen den Menschenmassen lagen Gepäckstücke. Man brauchte fast artistische Fähigkeiten, ohne jemanden zu verletzen um dort hinzukommen, wo man hin musste. Außerdem hatten auch Ruth und Elena Koffer mit - geliehene, denn eigene besaßen sie nicht mehr. Diese Koffer waren zwar fast leer, zum einen hatten sie nicht viel zum Mitnehmen und zum anderen brauchten sie die Koffer für die Betten und den Volksempfänger, den sie auf alle Fälle holen wollten.
Jedes Mal, wenn amerikanische Militär-Polizei auftauchte, duckten sich die beiden Mädchen, um sich so unsichtbar wie nur möglich in der Menschenmenge zu machen. Mit Personal-Ausweisen aus der englisch-belgischen Zone hatten sie nichts im amerikanischen Sektor zu suchen.
Nach stundenlangem Warten kam endlich ein Zug, der sie bis Augsburg bringen konnte. Sie schafften es hineinzukommen. In der Not stieg man auch durch die Zugfenster ein und aus. Scheiben hatten die Fenster sowieso nicht mehr.
Ungeschoren kamen sie bis Augsburg, aber immer in der Angst, entdeckt zu werden. Auch Züge wurden kontrolliert. Viele Ziele konnten nur auf Umwegen erreicht werden, weil ganze Bahnstrecken durch Luftangriffe zerstört waren. Vergeblich hatte Elena versucht, während der Reise eine Toilette zu benutzen. Den Weg dorthin hatte sie unter großen Mühen geschafft. Aber, als sie endlich das Ziel erreicht hatte, grinsten ihr die fröhlichen Gesichter junger Leute entgegen. “Ja Mädchen, nun mach mal !“
Sogar in den Toiletten hatten sich die Mitreisenden niedergelassen, denn der Zug war total überfüllt. Unverrichteter Dinge und mit zusammengekniffenen Beinen bahnte sie sich den Weg zurück, und mußte bis Augsburg durchhalten.
Augsburg, endlich Augsburg ! Als der Zug hielt, gab es kein Halten mehr.
Das war nicht weiter schlimm, denn mittlerweile war es Nacht geworden. Außerdem hatte auch Goethe auf seiner “Italienischen Reise” aus ähnlichen Beweggründen Zuflucht in der freien Natur gesucht und gefunden.
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Kommentare (2)
ich konnte die Zeit nachvollziehen. Schön das sie vorbei ist.
Ja es waren ganz besondere Zeiten, wegen Bettdecken und einem Radio, konnte man eine weiter Reise machen, die sich lohnte.
Es gab von allem wenig und von nichts viel(von mir)Das geflügelte Wort für Qualität war, das ist noch gute Friedensware.
Ich bin immer noch gespannt,
mit freundlichen Grüßen,
Traute
51 geboren - dicht dran, aber zu weit weg, um diese Zeiten zu kennen.
Oma erzählte manchmal von Hamsterfahrten.
Sie war auch Trümmerfrau in Berlin.
Diese harten Zeiten blieben uns erspart.
Danke für einen Einblick
sagt
erafina