Die Geschichte eines Düsseldorfer Hafenkindes und ihrer Zeit..
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9. Fortsetzung.
Rückblende:
Mit 17 Jahren hatte sich der Vater von Ruth und Elena, nachdem er eine Landwirtschaftslehre auf einem Gut in der Soester-Börde abgeschlossen hatte, freiwillig zu den Ulanen gemeldet.
Das war damals Ehrensache.
Das muss 1915 gewesen sein. Schwerverwundet kam er 1919 zurück.
Seine Mutter, die aus sehr wohlhabendem Hause stammte, war, als er vier Jahre alt war, gestorben. Elenas Großvater hatte sie ein Jahr lang an jedem Wochenende besucht. Das bedeutete 12 km querfeldein zu Fuß bis zum nächsten Bahnhof und dann gut 1 Stunde bis Bielefeld und dasselbe zurück.
Kinder, Haushalt und Landwirtschaft mußten versorgt werden. Der Vater heiratete ein zweites Mal und als auch diese Frau, nachdem sie 5 Kinder geboren hatte, starb, ein drittes Mal.
Diese Stiefmutter brachte ein Kind aus erster Ehe mit. Ihr erster Mann war im Krieg gefallen und sie schenkte noch weiteren 3 Kindern das Leben. Mit Elenas Vater waren es mittlerweile 10 Kinder. Eigentlich wären es 11 gewesen. Doch Vaters jüngerer Bruder war mit 5 Jahren an Kopfgrippe, wie man das nannte, gestorben. Mütter und Kinder starben damals oft früh.
Eines Tages, nachdem sich der Vater, nach langem Lazarettaufenthalt, zu Hause etwas von den Strapazen des Krieges und der schweren Verwundung (auf beiden Seiten der Kämpfenden wurde auch Gelbkreuz-Gas eingesetzt) erholt hatte, nahm ihn der Großvater beiseite und sagte traurig aber auch entschieden zu ihm:
“...Heinrich, du musst gehen ! Du schaffst es, dich in der Welt zurechtzufinden. Otto, (der Älteste aus der 2.Ehe-) schafft es nicht.
Der geht vor die Hunde vor Heimweh. Ein Stück Speck will ich dir mitgeben, mehr ist nicht drin....“ --- und Heinrich ging.
Er ging nach Ostpreußen. Während des Ersten Welt-Krieges hatte sein Vorgesetzter ihm gesagt: ”Wenn wir diesen verdammten Krieg überstehen, dann kommen Sie auf mein Gut als Inspektor“. Er hat Wort gehalten. Vater schrieb einen Brief an den Rittergut-Besitzer, bekam umgehend Antwort und die versprochene Anstellung.
Und dort lernte er Marie-Luise kennen, „Stöpsel“, wie er sie liebevoll nannte. Marie-Luise war Wirtschafterin auf dem gleichen Rittergut. Auch sie hatte ihre Mutter verloren, als sie vier Jahre alt war. Auch sie musste früh gehen, weil der Vater ein zweites Mal heiratete. Vier Kinder aus erster und vier Buben aus der zweiten Ehe.
1923 haben die Beiden geheiratet. Doch von dem Verdienst, der zum großen Teil in Naturalien ausbezahlt wurde, konnten sie keinen eigenen Hausstand gründen. Bargeld bekamen sie wenig. Außerdem sahen es die Gutsbesitzer nicht gerne, wenn sich Ihre Angestellten verbanden.
Ein Freund, ein Inspektor von einem anderen Rittergut, der einige Zeit vorher den Sprung nach Düsseldorf gewagt hatte, schickte ihm ein Inserat
...ein Stellen-Angebot aus einer Düsseldorfer Zeitung.
Als Dank für treue Dienste bekam er zum Abschied die Erlaubnis, sich noch einen Fuchs und eine Wildkatze zu schießen. Der Erlös dieser Felle und einiges Ersparte waren ihr Startkapital. Er begann seine Düsseldorfer Laufbahn zuerst als Leibwächter eines Fabrikbesitzers.
1923 herrschte in Düsseldorf Aufruhr und Inflation. Franzosen hielten nach dem Ersten Weltkrieg das Rheinland besetzt. Laut
Vertrag, wurde sämtliche Kohle nach Frankreich abtransportiert.
Für Deutsche gab es keine.
Albert Leo Schlageter, der diese Transporte verhindern wollte, wurde auf der Golsheimer Heide, bei Düsseldorf erschossen.
Kein guter Anfang für ein junges Paar.
Das Geld wurde immer weniger wert.
Die Frauen der Fabrikarbeiter standen bei Arbeitsende vor den Fabriktoren und nahmen das täglich ausbezahlte Geld in Empfang. Sie gaben es sofort wieder für Lebensmittel aus, weil sie am nächsten Tag noch weniger für ihr Geld bekommen hätten. „Millionen-, Milliarden–, Billionen-Beträge„ flossen durch ihre Hände.
Dann erhielt der Vater eine Anstellung als Lagerverwalter bei der Kohlengroßhandlung Gerhardt in der Kornhausstraße. Heute besteht sie nicht mehr.
Ganz in der Nähe, nur einige Schritte entfernt, ragt heute der Fernsehturm in den Himmel, und auf einem zugeschütteten Rheinhafen steht das Regierungs Gebäude von Nordrhein/Westfalen.
Das Nachbar - Büro -Haus steht noch - die ehemalige Konkurrenz Langendorf, auch eine Kohlengroßhandlung, war von den Phosphorbomben verschont geblieben. Heute wird das kleine Jugendstilhaus von den Nachkommen des Erbauers erhalten.
Wie oft hatten Ruth und Elena vor dem Zweiten Weltkrieg auf den Stufen
der Kaimauer gesessen und der untergehenden Sonne zugeschaut, wenn sie langsam versinkend das Wasser des Hafenbeckens vergoldete. Sie sahen dem Treiben der abends in den Hafen einlaufenden Kähne zu - sie sahen, wie die Schiffer ihre Schiffe vertauten und sie lauschten den Melodien von Schifferklavier und Mundharmonika der deutschen und ausländischen Schiffsleute. Und sie sangen mit. Eine friedliche Welt.
Elena dachte an ihre ersten Schritte im Hafen. Das muss vor 1933 gewesen sein. An die Hafenbahn, die ”IHR” Revier durchkreuzte. An die freundlichen Bahnarbeiter, die sie manchmal auf den Arm und mit in die Lokomotive nahmen. Mutter sah es nicht gerne, denn sie begrüßten sich mit “Heil Moskau”. Elena brüllte auch “Heil Moskau”, zum Entsetzen ihrer Mutter.
Eines Tages, Elena mochte vielleicht vier gewesen sein, wurden die properen Bahnarbeiter, die sich so sehr von den übrigen Hilfsarbeitern des Hafengeländes unterschieden, auffallend stiller.
Sie sagten nicht mehr “Heil Moskau” zur Begrüßung und auch nicht vor dem Feierabend. Elena gefiel das gar nicht. Sie brüllte extra laut “Heil Moskau” und sie verstand nicht, als ein Bahnarbeiter sie bei der Hand nahm und eindringlich zu ihr sagte: ”..Du darfst das nicht mehr sagen, sonst kommen wir alle ins Gefängnis...”
Alle waren bald zu Elenas großer Trauer verschwunden. Später wurden manchmal männliche Leichen im Hafenbecken angeschwemmt. Bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen. Elena hat als kleines Mädchen zwei von ihnen gesehen. Dann sagte der Vater, es hat irgendwo wieder einen Kampf zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten gegeben. Niemand kümmerte sich mehr um das kleine Mädchen vom Hafen - um die „freche Katz“, wie sie von einem älteren, dem Alkohol verfallenen Gelegenheitsarbeiter, genannt wurde, weil sie hinter seine Schliche gekommen war.
Wenn der alte Jupp bei Langendorf Briketts klauen wollte, kam er mit schlaffer Aktentasche durch das Lagertor von Gerhardt herein, durchquerte seelenruhig, zwischen den Schienen der Hafenbahn gehend (diese durchfuhr beide Kohlen - Großhandungen), Gerhardts Lager, ging weiter, bis fast zum Ende des Kohlenlagers von Langendorf, klaute kurz vor dem Langendorftor einige Briketts und verschwand dann blitzschnell mit praller Tasche (wegen der Hafenbahn standen die Tore beider Firmen tagsüber meist offen).
Das selbe spielte sich dann einige Tage später in der umgekehrten Richtung ab. Der Vater wusste das auch, aber er drückte ein Auge zu: ”Armer Teufel” sagte er nur.
Am 1. September 1939 wurde Elenas Vater wieder zu den Fahnen gerufen. Diesmal war es keine Ehrensache mehr für ihn, sondern nur ein unabwendbares “MUSS”.
Nun standen Mutter, Schwester, der kleine Bruder und Elena in dem Zug, der sie in die Heimat ihres Vaters brachte. Was würden die Verwandten sagen, wenn sie plötzlich auftauchten? War Onkel Otto schon aus dem Krieg zurück? Sie wussten, wenn er da war, würden sie nicht abgewiesen werden.
Elena stand im Zuggang und blickte in die vorüberziehende Landschaft.
Hier sah alles etwas nüchterner aus. Keine lieblichen Berge und Wälder.
Auch die Kühe auf den Weiden sahen anders aus, als die in Oberösterreich. Sie waren schwarz-weiß und hatten nicht das sanfte braune oder braunweiße Fell. Elena wurde es plötzlich mit schmerzlicher Gewissheit bewusst, dass ihre Träume endgültig verloren waren.
In Paderborn, das auch unter Luftangriffen gelitten hatte, verließen sie den überfüllten Zug. Vom Bahnhof aus mussten sie ein ziemliches langes Stück zu Fuß gehen bis sie zur Straßenbahn nach Bad Meinberg kamen.
Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde und die Landschaft wurde lieblicher. Es dunkelte bereits als sie in Bad Meinberg ankamen - und da sie erschöpft waren und sich schmutzig fühlten, nach diesen tagelangen Strapazen, entschloss sich die Mutter, in der Pension Pölker um Quartier zu bitten.
Der alte Pölker kannte Elenas Vater noch aus der Jugendzeit und für ihn war es selbstverständlich, den Heimatlosen eine Nacht Unterkunft zu gewähren. Er tat es unentgeltlich.
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Kommentare (3)
Auf morgen freue ich mich heute schon.
Anni
Wie verwickelt schon die Wurzeln nach dem 1ten Weltkrieg waren,nichts war das gegen den Zustrom der Heimatlosen aus allen östlichen Ländern.
Das lebte erst nebeneinander dann miteinander und nun inzwischen auch füreinander.
Ich bin weiterhin gespannt,
mit neugierigen Grüßen,
Traute
vielleicht hast Du auf meiner Privatseite gelesen, dass ich u.a. auch Briefmarken
sammle. Ich habe gerade die Mappe mit den Inflationsmarken vor mir liegen.
Kannst Du Dir vorstellen, dass im November 1923 eine Briefmarke 20 Milliarden
Reichsmark gekostet hat ?
Schade, ich habe viele Marken doppelt und finde Niemanden der an Tausch, nicht an Kauf,
interessiert ist, denn leider kann ich mir den Ankauf, aufgrund gestiegener
Lebenshaltungskosten, nicht mehr leisten. Tausch, ist auch viel interessanter und lebendiger.
Millionen, Milliarden, Billionen sind auch heute wieder im Gespräch.
Hoffen wir, dass sich nichts wiederholt.
Der Euro war nicht für alle ein Segen.
Liebe Traute,
Man braucht sich nur in der Welt umzuhören um zu wissen, dass die Hölle nicht als
Strafe auf uns im Jenseits wartet, sondern dass der Mensch die Hölle des anderen oft sein kann.
Es oft genug war und immer noch ist.
Einen freundlichen Gruß an Euch beide
von Sarahkatja