Das Momentum


Es ist ein leichter Schwung, ein Impuls. Er kommt auf leisen Füßen, plötzlich ist er da, nistet sich da ein, wo kurz davor noch Leere war. Ich versuche ihn festzuhalten, habe Angst ihn zu verlieren, hüte ihn wie einen Schatz, weil ich weiß, wie vergänglich er sein kann. Ein kurzer Moment erscheint wie eine Ewigkeit, dann gibt er sein Geheimnis preis, weil ich willens bin, ihn zu verstehen. So entstehen bei mir Geschichten.
 
Irgendwo habe ich gelesen: Menschen brauchen Geschichten, doch sie müssen auch mit ihnen wachsen, denn die Welt verändert sich. An dieser Stelle beginne ich langsam zu verstehen: Geschichten bestimmen die Welt. Alles sind Geschichten. Wer erzählt diese Geschichten und bestimmt damit nicht nur den Lauf von Erfundenem, sondern auch Realem?
 
Ich habe als Kind oft und gerne Märchen erfunden. Böse Zungen behaupteten, es seien bloß raffiniert geschmückte Ausreden für versäumte Hausaufgaben und ähnliche Verpflichtungen gewesen. Meine Kreativität wurde nicht anerkannt. Das fand ich schade, denn ich hatte mich ehrlich bemüht, keine meiner Geschichten zweimal zu erzählen. Damals fühlte ich mich allein, weil ich nicht wusste, dass es anderswo viele meiner Zunft gab. In diesen Tagen treffe ich sie manchmal, wenn auch nur virtuell, zum Beispiel hier auf verschiedenen Blogs.
 
Ich will eine Lanze für die Geschichtenerzähler von damals brechen, denn sie sind die Erzähler von heute. Wir sind es, die die Welt mit unseren Variationen der ursprünglichen Geschichte verändern können. Unsere Ideen und narrativen Visionen sorgen dafür, die Welt zu gestalten und alte Strukturen zu formen. Das ist mein Talent, denke ich: Geschichten erzählen. Dabei ist es egal, ob man der Oma versucht weiszumachen, dass vor dem Haus ein UFO gelandet sei, man eine App mit Storytelling an den Mann bringt oder im Bewerbungsgespräch die Stimmung durch gezielte Geschichten aufgelockert wird – Change the story, change the world! Unsere Ideen sind es, die die Welt formen, Protagonisten bestimmen und damit den Lauf der Geschichte ändern.
 
In Internetportalen gibt es wenige Vorgaben, eine davon ist: Je kürzer, umso besser. Das war solange eine echte Herausforderung für mich, bis ich mich an die Worte eines meiner Lehrer erinnerte: Doron Rabinovici. Er erklärte uns das Wesen einer Kurzgeschichte. Es sei wie das Aufspringen auf einen abfahrenden Zug und denselben wieder zu verlassen, bevor er zum Stillstand kommt. Das hat sich eingeprägt bei mir.


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Kommentare (4)

ehemaliges Mitglied

Lieber Ferdinand!
Ich weiß, auch ich gehöre zu denen, die schon als Zweit- oder Drittklässler*In ihre eigenen Märchen aufschrieb. Aber das wurde mir verboten, ich solle lieber - trotz einer Zwei - Rechtschreibung üben ... Später hörte ich vom Vater, das sei brotlose Kunst, lass das!

Als ich vor fünf Jahren meinem Enkel auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause begann, wahre Geschichten vom Wasser oder einem Korn und sein Wachstum bis zur Reife, dass zum Mehl und bis zum Kuchen oder Brötchen erzählte, kam immer wieder: "Oma, erzähl die Geschichte noch einmal!" Und ich musste aufpassen, dass ich die gleichen Worte wählte, weil es sonst nicht die gleiche Geschichte war für den bilddenkenden kleinen Knirps ... Während ich erzählte - manches Mal dafür einen Umweg durch den Wald wählte - stelte Max sich alles bildlich vor, was er hörte.

Inzwischen schreibt auch er kleine Fantasiegeschichten auf!

Allen ein gutes Neues Jahr 2021 wünscht

Uschi

Eisenwein

Vielen Dank für Eure Einschätzung! 
Ja, Andrea und Syrdal so ist es, wer einmal damit begonnen hat, seine Geschichten zu erzählen, der kann gar nicht anders.
Ich wünsche Euch ein zufriedenes 2021!🍀

Muscari

Tja, lieber Ferdinand,

Geschichten, kurze - längere - unendliche.
Wahre - halbwahre - der Fantasie entsprungene. So ein Momentum, das auf Papier festgehalten werden muss, bevor es davon fliegt.
Als ich noch in die Schule ging, bekamen wir die Aufgabe, unsere Ferienerlebnisse aufzuschreiben. Da ich, im Gegensatz zu vielen meiner Mitschülerinnen, in den Ferien nie etwas Besonderes erlebt hatte, fantasierte ich mir so einiges zusammen.
Und das brachte mir jedes Mal für meinen Aufsatz eine Eins.
Ich weiß nicht, ob dies der Grund ist, weshalb ich auch später liebend gerne Geschichten schrieb. Aber nach einem langen Leben gab es genügend Stoff, WAHRE Geschichten zu erzählen, die gelegentlich nur noch mit Fantasie ein wenig ausgeschmückt wurden.
So weit zu meinen Geschichten.
Aber ich erinnere mich auch gerne an DEINE ganz persönlichen Geschichten, die wohl kaum der Fantasie entsprungen sind...
Mit herzlichem Gruß zum Neuen Jahr von
Andrea

Syrdal


Wer sich lebenslang die kindliche Phantasie bewahrt und diese auch in gereiften Jahren noch in lebendige Geschichten umzusetzen weiß, erfüllt sich selbst und zugleich dem ganzen Lebensumfeld unbezahlbare Dienste hinsichtlich der Pflege und Bewahrung der historisch gewachsenen Kultur...

...meint
Syrdal


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