Biographische Zeit- und Personenbilder 1915 – 1981 Kapitel 4


Mein Klassenkamerad und Freund Erich Polak


Ein bester Freund wurde mir Erich Polak, Alfreds Bruder, der aus der Bürgerschule in Westerstede kommend, in der Tertia zu uns stiess und mein Nebenmann war. Auch er wohnte bei Diers in der Humboldstrasse. Erich machte seinen Einjährigen und trat in das Viehgeschäft von seinem Vater ein. Als die Nazis den Judenboykott ausriefen, tat mir Erich leid, und ich lud ihn in unsere Jagdhütte im Ammerland ein. Das haben die Leute gemerkt und darüber gesprochen. Die Nazis wollten mir ans Fell, am liebsten unserer Familie gleich den ganzen Wald abnehmen, mit dem wir da „neu“ im Lande waren.

Aber es hatte sich doch um Erich Polak gehandelt und für den hatten die meisten Ammerländer viel Sympathie und gönnten ihm, mal in den Genuss alter Freundschaft zu kommen. Es war auch Mitgefühl dabei. Hatte sich Vater Polak doch auf der Weide inmitten seiner Vieherde erschossen. Viele Menschen waren dem Sarg gefolgt, worüber die Nazis sehr ergrimmt, aber offensichtlich machtlos waren.

Hier muss mal eben erklärt werden, dass die Polaks den Geschäftsstil des jüdischen Viehkaufmanns wohl am vollendetesten zur Ausübung gebracht hatten, so ausserordentlich segensreich für eine ganze Landschaft.

Das Ammerland nämlich war einst umgeben von wilden Mooren und Sümpfen, in denen früher und vielerorts, z.T. auf Einweisung der Regierung, entlassene Strafgefangene und Deserteure sich eine Existenz aufbauten. Diesen und ihren Kindern, die als Knecht und Magd sich auf den grossen Bauernhöfen und kleinen Gutshöfen "verdingten“, wurde von seiten Polaks geholfen, dass sie sich ein Stück Vieh anschafften, ein Kalb, ein Rind oder eine Kuh. Das gaben sie bei dem Bauern, wo sie dienten, günstig in Grasung. Für das Winterfutter sorgten sie, indem sie an Sonntagen und Feierabend an Wegrändern und Feldrainen Heu machten und sonst Nachlese auf den Feldern und in den Wäldern betrieben. Polaks, wie auch andere Juden, waren wohl die besten Menschenkenner für Vergabe eines Personalkredites an solche armen Moorkolonisten. Viele grosse Pächter heute und sogar Hofbesitzer haben diesen Ursprung. Das war der nationalökonomische gerühmte „Weg des Bodens zum besseren Wirt“ oder auch der nicht weniger gepriesene "Weg des sozialen Aufstiegs“, dass also sich jemand heraufgearbeitet hatte, bzw. Heraufarbeiten konnte.

Doch wieder mal zurück zu den Polak-Jungens, was mir weiter dazu eingefallen ist. Alfred hatte über die ganzen Jahre den besten „Sprinter“ und Klassenprimus, auch einen Heinz, zum Freund. Sie wetteiferten im Lernen und im Sport. Der Hundert-Meter-Lauf mit Nagelschuhen war damals etwas Neues. Alfred hatte für sich und seinen Freund solche besorgt, und unsere Klasse ragte in Schulwettkämpfen dann immer weit heraus. Die grossen Ferien verlebte Freund Heinz in Westerstede im Hause Polak. Daheim waren sie drei Brüder, der Vater Lokomotivführer, bewohnten eine Überwohnung mit Mansarden im Stadtnorden. Die Entlastung von einem tüchtigen Esser spielte in solchen Familien in jener Zeit eine grosse Rolle.

Als ich im Jahre 1931 Alfreds Freund einmal in der Münchener Universitätsbibliothek traf und auf alte Klassenkameraden ansprach, sagte er mir, so erschreckend wie unvergesslich, in einer abweisenden, rohen Art: "Alfred hat bloss noch eine grosse Klappe.“ Offenbar war Heinz in einer NS-Studentengruppe und hatte Vorwürfe von Alfred, der sich nie auf den Mund gefallen gab, hinnehmen müssen. Dieser Heinz lebt heute als Oberstudienrat i.R. in V. allein, denn seine Frau und Lebenskameradin, Mutter von seinen 3 Töchtern und die Seele des Drei-Mädel-Hauses, starb schon vor etlichen Jahren. Kann es Schlimmeres geben, fragte ich mich nach einem Besuch bei ihm in seiner Komfort-Wohnung. So schön diese ist und soviel Bequemlichkeit sie bietet, trauert er auch noch seiner alten Wohnung nach, wo es doch eine Menge Gartenarbeit für ihn gegeben habe und die brauche er eigentlich.

Anders und besser war es bei Heinrich Diers gegangen, der die beiden Polak-Jungen, Alfred und Erich, in Pension gehabt hatte, gut behütet hatte, wenngleich er sein gutes Geld und Landpakete überher davon gehabt haben mochte. Heinrich Diers ist als Lehrer nie in die Partei eingetreten. Das war an sich schon eine Seltenheit. Woraus ersichtlich ist, dass man durchaus nicht "musste“, wie die als "Mitläufer“ eingestuften Parteimitglieder der NSDAP glauben machen wollen.

So loyal waren zum Beispiel die zwei jetzt gefeierten Jubilare, Franz Radziwill und sein Mäzen Dr. med. Düser, vor ihren grossen jüdischen Kollegen und Lehrern nicht gewesen. Sie waren ganz freiwillig in die Partei eingetreten, wie mir der Letztgenannte, heute über 90jährige, bekannte. Heinrich Diers hat über 30 Jahre mit Erich Polak korrespondiert. Erich war im letzten Moment über die Niederlande nach Uruguay entkommen, hat dort eine Familie gegründet und seinen Sohn Alfredo in eine katholische Schule gegeben. Heinrich Diers ist vor 14 Tagen 86jährig gestorben. Er war einer der verdienstvollsten Oldenburger: als Protagonist der Heimat und unseres niederdeutschen Sprachidioms. Er wurde neben Karl Jaspers Ehrenbürger der Stadt und erhielt nebst vielen Auszeichnungen und Preisen das Bundesverdienstkreuz. Die Würdigung seines Verhaltens gegenüber Juden konnte ich soeben in einem kleinen Zirkel vornehmen, und zwar in einer jener schrecklich langen Pausen, die man zu Fernsehaufnahmen ansitzt. Ausgerechnet war die gerade zum Thema "Juden in Norddeutschland“, wo ich plattdeutsch über Juden auf dem Lande und in den Dörfern interviewt werden sollte, draussen auf einem windigen Parkplatz der Autobahn. Vom Thema her kam mir das viel zu plötzlich. Es war in Vertretung für einen besseren Kenner der Dinge, Dr. Enno Meyer, der sich aber seines Plattdeutschen nicht so sicher war.

Immer mehr Begebenheiten kommen einem vor Augen, als ob das Fehlende nachzuholen wäre, grübelt man und denkt an seine Beziehungen zu Juden, auch später in der grossen Welt, die ich hier aber ja aussparen will.


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