Biographische Zeit- und Personenbilder 1915 – 1981 Kapitel 10
Kunstbetrachtungen
Mein Landsmann Fritz Frerichs, einst in Sonthofen, schrieb als Redakteur unseres Lokalblattes in Nordenham zum Totensonntag einmal ein so bewegendes Gedenken an die Juden anlässlich seines Besuches des Juden-Friedhofes in Hohenberge bei Varel, dass ich Kopien davon meinen Briefen an emigrierte Freunde, wie Erich Polak und andere, die ich späte im Studium kennengelernt hatte, anlegte. Der gebürtige Ammerländer Hermann Lüdken, Prokurist einer Deichbaufirma, hatte eine Adolf-Hitler-Schule in Pewsum bei Emden besucht. In seinem Hobby, kleine Geschichten in Niederdeutsch zu schreiben, versuchte er sich einmal an der Beschreibung auf Platt eines Bildes von Marc Chagall, „Die Liebenden“. Bei einer Schriftstellerlesung kam die gut an. Ja, sie war so gut, dass ich sie mir bekannten Kunstwissenschaftlern wie Dr. Horst Keller vom Wallraf-Richartz-Museum in Köln sowie einem bekanten Kunstfreund wie Henri Nannen schickte. Letzterer hatte sich mit der Rettung Tilman Riemenschneiders „Madonna im Rosenkranz“ von Volkach einen Namen gemacht, zudem war er Ostfriese, wenn auch nicht in Pewsum, sondern in Emden auf dem Gymnasium gewesen.
„So gut“, sage ich zu Lüdken’s Bildbeschreibung, und ich bin mir als Laie und lediglich Kunstliebhaber nicht ganz sicher, ob es wirklich von so großer Qualität war. Bestimmt aber war mir der kleine, fast unbekannte Autor bemerkenswert von der Gesinnung her. Mut zur Wandlung nenne ich das. Hatte Hermann Lüdken mir doch mal verraten, dass sein Grossvater als Flickschuster von Haus zu Haus gegangen sei, aber Juden ausdrücklich gemieden habe. Für ihn selbst habe es natürlich den Austritt aus der Kirche gegeben, er habe alles Schlimme mitgemacht. Jedenfalls hatte ich mit der Weitergabe von H. Lüdkens Bildbeschreibung von Chagall’s „Die Liebenden“ nicht in den Wind geschrieben, denn die beiden großen Herren antworteten, durchaus davon angerührt, auf die eine oder die andere Weise, oder aus dem zweiten Aspekt heraus, wie es durchklang, meine ich.
Bei dieser Gelegenheit schrieb mir Henri Nannen, er habe als Student schon Bildbetrachtungen gesammelt, ja, bei namhaften Schriftstellern jener Zeit sogar angeregt, unter dem Titel „Glanz von Innen“ bei Bruckmann in München mit einem Vorwort von ihm noch 1943 herausgeben können. Dabei habe er es sich nicht versagen können, das Buch offen seiner „C.W.“ zu widmen. Das wäre seine jüdische Schulfreundin gewesen, mit der er als Primaner schon Fahrten zur Bremer Kunsthalle und einmal auch zu Manfred Hausmann nach Worpswede gamacht habe. Das Buch von 1943 fand im Krieg nicht mehr grosse Verbreitung, und niemand habe das mit der Widmung an C.W. bemerkt bzw. nachgeforscht und verraten. Andererseits habe er mächtig unter Druck gestanden. Sein Vater, der bei der Polizei gewesen und ein Ehrenamt in der SPD versah, sei ohne Pension in die Wüste geschickt worden. Um sein Studium fortsetzten und sein Buch veröffentlichen zu können, habe er zum Scheine und mit Absprache Bruckmann’s drei Aufsätze über Kunst geschrieben, so wie es die Nazis haben wollten. „Das war wenig ruhmvoll“, sagt Nannen von sich in dem Brief an mich. Die Engländer, 1945 in Hannover, haben das gut begriffen, und ihn trotz dieser Aufsätze, die er ihnen vorgelegt habe, zum 1. Lizensträger der Herausgabe einer hannoverschen Tageszeitung gemacht.
Begriffen! – seitens der Engländer, aber nicht so von den deutschen, wenigstens von einem großen Teil nicht, der heute noch Henri Nannen, der politisch ziemlich wieder auf der Linie seines Vaters liegt, übel will. Und welche Deutschen insbesondere? Leute, die heute genüsslich erzählen, wie in einem Fall vor nicht langer Zeit: „ Ich konnte geben (beim Mogeln), aber die beiden Juden in unserer Klasse nicht. Und wenn schon, schoben sie falsche Antworten herüber.“ Das ist um so zitiernswerter, weil diese Aussage von einem ehemaligen Schulkameraden Henri Nannens war. Er wusste darüber hinaus noch was. Henri Nannen habe eine jüdische Freundin gehabt und sitzen lassen, und wäre großer Nazi-Propagandist geworden und beschimpfe heute in seinem „Stern“ seine alten Nazi-Freunde und sei übrigens jetzt der Freund des Emigranten Willy Brandt, mit dem er sofort zu den Russen überlaufen würde, wenn die mal kämen. Auch was die Viehjuden in Ostfrieland anbetrifft, will mein Bekannter und Ostfriese es anders wissen als ich. Die Juden hätten in der ostfriesischen Krummhörn ihre Bauern immer um die letzten 50,-- Mark betrogen. „Na“, halte ich dagegen, „das hatten Nazi-Bauern leicht sagen. Wer schützte Juden je vor Verleumdung?!“ Nicht mal heute hilft ein solcher Einwand, denn eine solche Erwiderung, als unerwünscht, ging im Redeschwall einer Herrenrunde völlig unter. Es ist kaum zu glauben: Die obigen infamen Aussprüche stammen alle von einem promovierten Akademiker, der bis vor kurzem im gehobenen Staatsdienst war. Mitunter kam es aus dem selben Mund noch dümmer. Er habe nachgesehen im Lexikon und triumphierte, mit der Adresse an mich, dass es nur 800.000 Juden in Deutschland gegeben habe. Wie viele seien doch noch herausgekommen, und da sähe man die Lüge von den 6 Millionen ermordeten Juden. Das Tagebuch der Anne Frank ist ihm sicher unbekannt. Es ist zwecklos, es wäre dann natürlich „gefälscht“. Sprach ich von den jüdischen Möbeln aus Holland, die waggonweise hier einliefen und in Oldenburg zum Verkauf standen – wie jeder weiss – , so hielt Dr. Dings dagegen, die Engländer hätten auch ganze Schiffsladungen mit Klaviern und Teppichen über Emden nach Hause geschickt.
Da kann man schon bald verzweifeln, aber einmal leidenschaftslos bedacht, erwäge ich: Ist es Bosheit, die immer bereit ist, auf Kenntnisse zu verzichten, wie man sagt? Oder ist es bei dem doch guten Gesicht meines Gesprächspartners, vielmehr meines Gegners, hier gar nicht mal die Lüge direkt, die jemandem ja sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben sein kann, sondern nur der Glaube an eine (schöne) Lüge? „Teurer als die Wahrheit ist uns ein uns erhebender Betrug“, sagte schon Puschkin. Oder – meine dritte Erwägung: reicht das tiefer, in die Kindheit, in die erste Umwelt mit ihren besonderen Umständen etwa? Tatsächlich scheint dies letztere der Fall zu sein, wie ich es allmählich an meinem Ostfriesendoktor herausbekam. Im 1. Weltkrieg war der Vater gefallen. Die Mutter verkaufte danach alles bewegliche Gut auf der großen fürstlichen Domäne von über 100 ha. Man weiss, wem man damals die Schuld am Kriege gab und wer der Schuldige an der Geldentwertung war. Sowas mit Heftigkeit und ostfriesischer Bestimmtheit Ausgesprochene schnappten die Kinder irgendwie auf, ja, sie lebten förmlich damit und schon waren sie für’s Leben geprägt.
Jedenfalls war die Jugend des heute durchweg ganz charmanten, mit etlichen Zügen von Ritterlichkeit, doppelt hart gewesen, worauf er auch gerne anspielt. Dann ist aber vieles absolut aus eigener Kraft gekommen, und der letzte Krieg unterstützte diese Aufwärtsentwicklung nur. Von den Nazis sowieso in die Herrenrasse ganz oben angesetzt – die Masse stimmten hervorragend –, konnte man ihn schonend und von seinem studierten Fach her in einer Sonderabteilung, der denkbar harmlosesten eines Heeresveterinäramtes, unterbringen und zum Offizier avancieren lassen. Dann war man schliesslich auch noch verwundet und des Krieges Überlebender und kein Pg. gewesen, nur Jung-Stahlhelmer.
Krieg – wo ist dein Schrecken?!
Hier haben wir es mit einem der schwierigsten, aber leider am wenigsten erkannten psychologischen Phänomene zu tun. Eine massgebliche Schicht der Gesellschaft von heute verdankt seine Stellung von Berufes und von Besitzeswegen dem Nicht-in-Konkurrenz Stehen der Gefallenen oder den emigrierten und ermordeten Juden. Nachweislich ist das am genauesten bei der nicht erfolgten Erbteilung mit Brüdern, die gefallen sind, der Fall. Die Überlebenden wurden zu mächtigen Land-, Haus- und Aktienbesitzern. Wie das Natürlichste der Welt aber absolut untergründig ist hier eine andere Einstellung zu der Vergangenheit und gar zum Krieg zu erwarten, und ich hätte gleich ein Dutzend Beispiele aus meiner mir vertrauten Umgebung zur Hand, hüte mich aber vor jeder Präzisierung, ja, allein schon vor jeder Anspielung darauf. Es widerstrebt einem ausserordentlich, jetzt noch sich verdient machende Menschen, Wirtschaftler und Wissenschaftler als Kriegsgewinnler hinzustellen. Ihre Unfähigkeit zu trauern, die so oft evident ist, hat mithin zwei Gründe: ihre hohe Aktivität für ein Heute und Morgen und zweitens das tiefenpsychologische Moment, dessen sie naturgemäß nicht Herr zu sein vermögen.
Von so viel Unschönem nun aber schleunigst zu etwas Positivem, zu einer Geschichte, auf die ich schon lange warte, sie einzuflechten und an die ich in der letzten Zeit besonders oft erinnert werde. Das Oldenburger Staatstheater hat in dieser Saison „Anatewka“ im Programm, und man hört, es sei immer ausverkauft. In den letzten Jahren konnte man das Stück 2x im Film erleben. Aber hier nun das mir einmal Erstaunliche! Vor etwa 10 Jahren wurde „Anatewka“ mit Schmul Rodenski in der Weser-Ems-Halle aufgeführt. Es war die am stärksten besuchte Veranstaltung seit dem Bestehen dieser Halle in Oldenburg. Bewegend, hinreissend, alles, was sich an Superlativen sagen lässt und ich auch in einem Leserbrief zum Ausdruck brachte. Worauf es mir dabei eigentlich ankam, war die Nennung der Besucherzahl von 25.000. Im Stillen sah ich viele Oldenburger Bürger den Leserbrief ausschneiden und an ihre emigrierten Freunde schicken. Was aber geschah? Es stand dort die Zahl von 2.500 Besuchern gedruckt. Der Setzer oder der Korrektor haben in der Meinung, dass von mir eine Null zuviel eingerutscht sei, verbessern wollen. Sie haben sich offenbar nicht vorstellen können, was da schon zu den Nachmittagsvorstellungen aus dem Lande gekommen war: an 4 ½ Tagen, in neun Vorstellungen, also 25.000 Besucher insgesamt. Da war nichts zu machen, und mein Traum von einem Signal in die Welt, Oldenburg und seiner neuen Zeit zu Ehren, war verpufft. Wie oft das Stück „Anne Frank“ in den beiden letzten Spielzeiten im Schloss-Saal des Staatstheaters aufgeführt worden ist, will ich nun auch noch erfragen.
Nachtrag : also 65x.
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