Aus Bildern lesen
Am Anfang waren es die Bilder, in denen ich mich verlor. Dann kamen die Buchstaben. Ich lernte lesen und schreiben. Aus Buchstaben wurden Silben – aus Silben formte ich Wörter und später einfache Sätze und kleine Geschichten. Daraus entsprang die kindliche Vision, einmal ein illustriertes Heft mit Texten in Sprechblasen zu verfassen. Soweit meine Erkenntnisse aus der Schulzeit. Dass man sich in einem Buch verlieren kann wie in einem Traum, in dem sich jedes Zeitgefühl auflöst, erfuhr ich Jahre später. Eines Tages, ich war gerade fünfzehn geworden, ertappte mich mein Vater beim Lesen einer Detektivgeschichte namens Nick Knatterton. 
 
„Schund“, nannte mein Vater dieses Genre und verbot mir ein für alle Mal, diesen „Dreck“ zu lesen. Ich fügte mich nur zum Schein, denn in mir keimte ein Plan, wie ich der Enge der Einzimmer-Wohnung entkommen könnte. Meine Gedanken galten dem alten Waschhaus im Hof, das seit langem nicht mehr benutzt wurde. Der Plan funktionierte. Ich krempelte die Ärmel hoch und verwandelte die Waschküche in mein privates Reich. Sie wurde zu einem Refugium des Rückzugs und auch des Widerstands. Ich wollte mir selbst gehören.

Unser Haus beherbergte seit kurzem ein Foto-Labor. Hier wurden die analogen Farbfilme sämtlicher Amateur-Fotografen der Stadt professionell entwickelt und als Papier-Abzüge oder Diapositive ausgearbeitet. Als speziellen Kunden-Service bot die Firma an, nur gelungene Fotos zu vergrößern und zu verrechnen. Die misslungenen Schnappschüsse, meist dunstige Überbelichtungen, die wie ungewollte Weichzeichner das Fotografenauge beleidigten, landeten neben Unmengen von Fotopapier-Schnipseln in einer separaten Abfalltonne – und diese stand genau vor dem Fenster meines neuen Domizils. 

Der Entdecker in mir wurde aktiv. Fast täglich plünderte ich die Abfalltonne und verwandelte die ehemalige Waschküche im Handumdrehen in eine geheime  Asservatenkammer. Plötzlich war ich Besitzer ungezählter, manchmal etwas karger und nicht den Qualitätsregeln entsprechender Farbfotos geworden. Ich versuchte in den Bildern zu lesen. Meiner Fantasie folgend, wollte ich die Bilder mit Text versehen. Es sollten Worte sein, die mir beim Betrachten der meist unbekannten Menschen und Landschaften spontan einfielen.  Ich wollte den Bildern die Kargheit nehmen.
                                                                                                              
Doch schon während des Sortierens kamen mir moralische Bedenken: All diese Fotos hatten eines gemeinsam, sie waren nicht für mich bestimmt. Das schlechte Gefühl, sich in das private Leben fremder Menschen einzuschleichen, belastete mein Gewissen aber nur für kurze Zeit, denn ich wusste ja, dass die Bilder aus dem Müll kamen. Dieser Umstand machte sie sozusagen herrenlos. Erst nach der quasi „Lebensrettung”, wurden sie zu meinem bestgehüteten Schatz. 

Vor mir lag also eine Foto-Sammlung, die durch das kreuz und quer der Motive meine Phantasie anheizte. Ein Foto stach mir besonders ins Auge: darauf war ein Clochard zu sehen, dessen Äußeres faszinierend war. Er stand in seiner ganzen Abgerissenheit einsam und verloren auf einem Boulevard und streckte abweisend die flache Hand in Richtung seines Gegenübers. Die gaffenden Menschen, zu denen er offensichtlich sprach, waren nur schemenhaft zu erahnen, denn hier war das Foto milchig weiß. Ein Lichteinfall, der Fehler des Bildes, der es zum Wegwerf-Bild degradierte. Dieses willkürliche Foto eines Menschen traf mich wie ein Schlag und erzeugte eine tiefe Verbundenheit mit dem Abgebildeten. 

Ich wischte alle anderen Fotos aus meinem Blickfeld, die Lust, sie mit lieblichen Texten zu versehen, war mir vergangen. Zurück blieb das Bild des Clochards. Er, der Außergewöhnliche, der sein eigenes Drama mit sich trug, stand da wie ein Baum, aufrecht und groß, ja, es hatte etwas von Stolz. So interpretierte ich seine Haltung. Das Bild eines Verlierers, der trotz allem um sein Recht am eigenen Bild kämpfte. Er wurde mein namenloser Held. Ich unterschrieb das Bild mit nur einem Satz: „Verlorene Würde.”

©photo & text by 
Ferdinand

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